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Wandern in der Tramuntana

… eine leichte Brise vom Meer her … steil aufragende Felswände … eine
herrlich milde Abendsonne …

Aus zwei Gründen war Johannes Hirschberg hier, in der Wohnung seines Freundes Gerd Berger, auf Mallorca: Erstens wollte er ungestört mit dem Schreiben eines neuen Buches beginnen und zweitens sich auf Wande­rungen vom Stress der vergan­genen Wochen erholen. Erst die Arbeit, dann das Spiel – darauf hatte seine Mutter bei dem kleinen Jo immer bestanden. Das war ihm zur Gewohnheit geworden. Also beschäf­tigte er sich in den ersten Tagen seines einwö­chigen Aufent­halts auf der Insel mit der selbst aufer­legten Hausaufgabe. Als das Konzept für sein neues Buch unter dem Titel „Verwäs­serung eines Erfolgs­mo­dells – Das Ende der Sozialen Markt­wirt­schaft“ stand, brach er auf zu Tages­touren in die Serra Tramuntana.

Nach dem Weg, den er jetzt ging, hatte er lange gesucht: Nicht über die Straße hinauf zur Höhe der Finca Son Font, sondern über einen Waldpfad und weiter zum weithin sicht­baren Gipfel der Na Bauçà. Aber alle Fahrwege endeten bei Ställen oder Hütten, die in den Mandel­baum­plan­tagen lagen, oder bei Villen, die hinter Mauern und Zäunen zu erkennen waren. Einer der Wege führte weit ins Gelände hinein. Mehrere Tore passierte er. Sie standen sicherlich seit Menschen­ge­denken offen, waren überwu­chert von Schling­pflanzen und rosteten vor sich hin. In sanft steigenden Windungen verlief der Weg zuerst bergan, bis zu einem Sattel, der hinter der letzten, kleinsten der Mandelbaum-Terrassen lag. Dann fiel der Weg in Serpen­tinen wieder ab, durch einen Wald mächtiger Pinien. Der Boden roch modrig stark. In den letzten Tagen hatte es mehrfach länger geregnet.

Am Ende des Waldes ein Talgrund, wieder mit Mandel­bäumen, diesmal durch­setzt mit Johan­nis­brot­bäumen. Das Erdreich frisch aufge­pflügt. Klee und Marga­ri­ten­sträucher waren dabei unter die Schollen geraten. Zahllose Steine lagen jetzt blank in der Sonne. Eine mächtige Stütz­mauer schützte das Tal vor dem Abrut­schen des angren­zenden Steil­hangs. An ihr entlang zog sich, nunmehr nur noch leicht abfallend, der Weg hin. An einigen Stellen war es dennoch passiert: Der Hang hatte die Mauer durch­brochen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie wieder aufzu­schichten. Statt dessen hatte man die Stein­la­winen mit einem Bagger einfach aus dem Weg in den Acker auf der anderen Seite geschoben.

Bald kam das Ziel des Weges in Sicht: Eine herun­ter­ge­kommene Finca auf einer kleinen Anhöhe. Hunde­gebell. Vor dem Haupthaus ein Gelän­de­wagen. Das eintönig leiernde Gegrummel einer Mörtel­ma­schine. Zu sehen war niemand. Die weiträumige Erkundung des umlie­genden Geländes erbrachte nur ein paar Ziegen­pfade. Hier lang ging’s nicht nach oben.

Die weiteren Erkun­dungs­gänge genoss der Wanderer Hirschberg, auch wenn er den gesuchten Pfad nicht fand. Eine üppige Vegetation, sonnen­be­strahlt, angenehme Tempe­ra­turen, blauer Himmel, eine leichte Brise vom Meer her. Er machte seine Touren mit Picknick-Rucksack. Öfters ging er größere Strecken quer durchs Gelände. Er hatte mittler­weile genügend Anhalts­punkte, um außer nach Uhrzeit und Sonnen­stand orien­tie­rungs­sicher zu sein.

Immer wieder eröff­neten sich herrliche Ausblicke über die auslau­fenden Berge hinunter zum glitzernden Meer. Immer wieder stand er plötzlich am Fuße steil aufra­gender Felswände oder am Rande jäh abfal­lender Felspla­teaus. Ständig stieß er auf diese für Mallorca so typischen Trocken­mauern, die das Gelände terras­sierten. Manche verliefen indes ohne erkenn­baren Zweck quer durch den Wald, teils zerfallen und bewachsen, teils wie ein unantast­barer Fremd­körper gänzlich erhalten. Mittags suchte er sich ein bequemes Plätzchen, aß seine Brote, seinen Apfel, trank seinen schwarzen Tee mit Zitro­nensaft und Zucker. Ein Schläfchen – der Himmel auf Erden.

Als Hirschberg in die Ferien­wohnung seines Freundes Berger zurückkam, empfing ihn eine herrlich milde Abend­sonne, die durch die Scheiben der vierflü­ge­ligen großen Balkontür schien. Am Nachmittag hatte sie den Wohnraum, die sala d’estar, kräftig aufge­heizt; eine wohlige Wärme. Er ging auf den Balkon hinaus. Draußen war es schon merklich kühl. Er ließ seinen Blick schweifen: die Boote im Hafen, die Bucht von Santa Ponça, die Berge des Südwestens mit dem Esclop und dem Galatzò.

Die Wohnung war sehr zweck­mäßig aufge­teilt und einge­richtet. An die sala d’estar grenzte die Küche mit coladoria, einem Abstell‑, Wasch- und Geräteraum. Durch eine Schie­betür des Eingangs­flurs gelangte man in den Schlaf­be­reich: ein Eltern­schlaf­zimmer mit Bad, ein Schlaf­zimmer für Kinder oder Gäste und ein zweites Bad, alle Zimmer zugänglich durch ein Flürchen. Das Kinder- oder Gäste­zimmer hatte sich Gerd als Arbeits­zimmer mit großem Schreib­tisch, Schrank und Regal eingerichtet.

Die Bergers waren leiden­schaft­liche Segler. Daher hatten sie vor Jahren diese Wohnung gekauft. Ihr Boot lag unten im Hafen an einem der Stege. Die Wohnungs­ein­richtung verriet ihre Leiden­schaft: Überall an den holzver­tä­felten Wänden hingen Urkunden gewon­nener Wettbe­werbe, in zwei Vitrinen standen die Pokale. Eine ansehn­liche Sammlung. Hirschberg teilte diese Leiden­schaft nicht.

Die Bergers hatten ihn öfters zu einem Segeltörn einge­laden. Einmal hatte er auch angenommen: rund um Mallorca. Die Landschaft vom Meer aus zu sehen, das hatte ihn beein­druckt, auch das Ankern in malerisch schönen Buchten. Nur auf dem Deck liegen, wie das die Frauen stundenlang konnten – das konnte er nicht. Mit Berger hatte er sich in drei Tagen ausge­klönt. Schließlich wurde ihm alles viel zu eng, und der viele Alkohol, meistens Whisky, sowie das anschlie­ßende fette und ausgiebige Essen zu später Stunde – zugegeben alles sehr lecker – das bekam ihm nicht. Der Magen machte Probleme, er schlief schlecht. Bergers merkten das. Sie verzich­teten auf weitere Einla­dungen. Ihre Wohnung überließen sie ihm gerne.

Hirsch­bergs Element war nicht das Wasser, sondern die Luft; nicht die Freiheit der Meere, sondern die Freiheit der Lüfte. Er wurde immer neidisch, wenn er beispiels­weise Möwen ohne Flügel­schlag über den Hafen dahin ziehen sah. Er konnte sie stundenlang beobachten, wie sie die Luftströ­mungen nutzten, kleinste Manöver flogen, im Gegenwind in der Luft standen oder wie in Zeitlupe einem bestimmten Punkt entgegen schwebten, plötzlich wegkippten und davonschossen.

Drachen­fliegern in den Alpen hatte er schon halbe Tage lang zugesehen. Wie sie versuchten, Thermik zu finden, und wenn ihnen das glückte, sich bis unter die Kumulus-Wolken hochzu­schrauben. Da kreisten sie dann über schnee­be­deckten Gipfeln, waren in der Ferne oft nur noch mit dem Fernglas zu erkennen. Hatten sie an Höhe wieder verloren, verschwanden sie hinter Bergrücken, tauchten irgendwann erneut auf und schwebten schließlich nach unten ins Tal zu ihrem Lande­platz. Ein kurzes Auslaufen. Dann Abstellen des Drachens am Wiesenrand gleich an der Straße, wo der VW-Bulli stand, verziert mit den Aufklebern der Zunft.

Als Student hatte sich Hirschberg einer Segel­flug­gruppe angeschlossen. Obwohl er kein angehender Ingenieur war, der sich für die physi­ka­li­schen Zusam­men­hänge sonderlich inter­es­sierte, wurde er in dem Verein, der der Techni­schen Hochschule angeschlossen war, akzep­tiert. Bis zum Freiflug hatte er es gebracht. Dann hatte man ihn für die Bedienung der Winde vorge­sehen, mit der die Flugzeuge hochge­zogen wurden. Ein Job, der zur Ausbildung gehörte. Da jedoch seine Freundin nicht viel Begeis­terung fürs Fliegen zeigte und mehr seinet­wegen die Wochen­enden auf dem Flugplatz verbrachte, verab­schiedete er sich am Schluss der Saison aus dem Verein. Hätte es damals schon Drachen­fliegen gegeben – das hätte er gemacht und mit Sicherheit nicht aufgegeben.

Für den Abend des folgenden Tages hatte Hirschberg eine Einladung nach Port Andratx. Eher eine Pflicht­übung: Das Ehepaar Schneider gehörte zu den Bekannten seines beruf­lichen Umfelds. Frau Schneider hatte er vor einiger Zeit auf einer Vernissage in Köln getroffen. Sie waren auf Mallorca zu sprechen gekommen und sie erzählte ihm, dass sie dort ein Haus hätten. Er wäre herzlich einge­laden, wenn er mal auf die Insel käme. Er hatte das als Smalltalk abgehakt. Aber jetzt hatte sie irgendwie erfahren, dass er in Santa Ponça sei, und die letzten Abende immer wieder angerufen. Wenn er sie und ihren Mann nicht brüskieren wollte, musste er hin. Auf einen Merkzettel schrieb er: Blumen­strauß für Frau Schneider.

Die Helligkeit, die durch die Persianas und die Vorhänge drang, verriet ihm: Sonne. Er sprang aus dem Bett, schlug die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster, entrie­gelte die Fenster­läden, stieß sie auf: keine Wolke am Himmel. Kurze Morgen­toi­lette, schnelles Frühstück, Picknick-Rucksack gefüllt und los zur nächsten Erkundungswanderung.

Schon nach kurzer Strecke traf er auf ein verros­tetes Eisentor, Durchlass in einer hohen Mauer. Außerdem gab es Tritt­steine, links in die Mauer einge­lassen, um sie bei geschlos­senem Tor übersteigen zu können. Offen­sichtlich stand der linke Flügel aber schon lange offen. Er war von Gestrüpp überwachsen. Was sollte hier früher einmal verschlossen werden?

Der Weg zog in ein enges dicht bewach­senes Tal. Aus dem Dickicht ragten Pinien hoch auf. Darunter alles schattig und feucht. Nur gelegentlich drang ein Sonnen­strahl bis auf den Grund des Weges. Es roch auch hier modrig, stellen­weise scharf bitter. Dann eine kurze Schneise, an deren Ende ein Wasser­bunker lag. Im Dämmer­licht des Inneren spiegelte sich die Wasser­fläche. Als sich seine Augen auf das wenige Licht einge­stellt hatten, erkannte er Balken und Stein­brocken, die aus dem Wasser ragten, ein durch­ge­ros­tetes Fass, dazwi­schen schwammen auf der Oberfläche Plastik­fla­schen. Warum solche Orte für Abfall so attraktiv sind? Weiter.

Der Weg führte vom Wasser­bunker weg steil in die Bergflanke. Durch fast manns­hohes Gras kämpfte sich Hirschberg bergauf. Stellen­weise war der Bewuchs so dicht, dass der Wegverlauf nicht auszu­machen war. Dann musste er suchen. Einige Sträucher waren äußerst kratzig, verbargen sich oft unter anderen, so dass er genau hinsehen musste, wo er sich durch­zwängte. Auch der Unter­grund war tückisch: mal lockere Steine, mal faltig ausge­wa­schener Fels, mal glatter rutschiger Boden.

Schon zweimal hatte Hirschberg den Weg völlig verlassen müssen, weil eine umgefallene Pinie ihn versperrte. Sich durch die vertrock­neten Zweige zu winden, war schier unmöglich, also musste er im steilen Gelände oberhalb oder unterhalb sich irgendwie durch­winden. Schon bald war das Hemd durch­ge­schwitzt. Längst war das Tal zur steilen Schlucht geworden. Erste Zweifel: Ob der Weg sich nicht bald im Gelände verlief?

Ein Durch­blick auf einen aufra­genden Felsstock weiter vorne tat sich auf, grau und bizarr die verwit­terten Stellen, gelb und ocker bis rötlich die glatten Flächen, wo der Stein abgesprungen war; ein kleiner Alkoven hatte sich gebildet; wo auch immer ein Halt und Wasser: Pflanzen, Büsche, Gesträuch, sogar eine junge Pinie; der obere Teil leuchtete in der Sonne. Das Herz ging ihm auf in dieser herrlichen Landschaft. Der Weg nahm einen weniger steilen Verlauf und ein paar Schritte oberhalb ragte ein Stück kniehoher Mauer aus dem Boden. Dort strebte er hin und streckte sich aus. Nach ein wenig Verschnaufen erhob sich Hirschberg wieder, zog sein Hemd aus und hängte es zum Trocknen über einen Strauch. Dann machte er Picknick. Er hatte Appetit; ein Gefühl, das er so eindringlich nur noch nach längerer körper­licher Anstrengung wie diesen Wander­tagen bekam. Er setzte sich, angelehnt an die Mauer, und packte seinen Rucksack aus.

Jetzt fand er Zeit, sich die Blüten anzusehen, deren Stängel aus fast kokos­nuss­großen Zwiebeln empor­wuchsen. Unterwegs hatten sie nur vereinzelt gestanden, hier standen sie zuhauf. Einige Sträucher hatten kleine unscheinbare Blüten. Andere Pflanzen waren schon abgeblüht. Er hätte Botaniker werden sollen, dachte Hirschberg, dann würde er nicht als so ein Unwis­sender durch Gottes Natur laufen, die im Großen wie im Kleinen so bewun­dernswert an Ordnung, System, Schönheit, Harmonie, Zweck­mä­ßigkeit und Behaup­tungs­willen war.

Er hatte zu Ende gegessen und betrachtete den Boden fragend: Wo kann ich hier bequem liegen, ohne dass mich etwas drückt. Schließlich nach dem Wegräumen von ein paar Steinen und Zweigen fand er sein Lager auf Gras und Pinien­nadeln, die Füße in ein Gestrüpp geschoben und unterm Kopf den Rucksack.

Er kam ins Grübeln. Was wusste er über seine biolo­gische Ausrüstung? Empfind­licher Magen, niedriger Blutdruck, hagere Gestalt, Unter­ge­wicht, vor der Sonne zu schüt­zende Haut, oft mit kleinen Wehwehchen geplagt, Neigung zu Entzün­dungen – deshalb war er schon als Student seinen Blinddarm losge­worden. Aber keine großen Sachen: kein Herzin­farkt, kein Zucker, keine Bewegungs­ein­schrän­kungen, nichts Bösartiges.

Verglichen mit Alters­ge­nossen war er mit seiner Fitness sehr zufrieden. Beim letzten Check hatte sein Arzt gemeint, mit seiner Konsti­tution könne er noch 100 werden. Er dehnte sich, entspannte, der Atem verlang­samte sich mehr und mehr, bald würde er einge­schlafen sein – aufge­nommen und einge­bettet in die Vollkom­menheit der Schöpfung als deren Teil er sich sah. So durfte er unwissend sein, mit allen Sinnen genießen und sich geborgen fühlen.

Im Traum war er mit seiner Frau zusammen. Sie machten einen Bergausflug in den Alpen. Das letzte Stück war sie nicht mehr mitge­gangen. Sie streikte. Er könne ruhig weiter gehen, aber: „Sei vorsichtig!“ Früher hatten sie in solchen Situa­tionen schon einmal Streit bekommen, weil er unbedingt den letzten Aussichts­punkt auch noch erreichen wollte. Jetzt trennte man sich eben, sie wartete, er kletterte. Klar, dass er sich dabei auch mal verstieg, die verab­redete Rückkehrzeit weit verpasste. Dann fand er sie in Ängsten aufgelöst vor, und es entlud sich ein Gewitter von Vorwürfen. Er ertrug das, indem er sich intensiv die herrlichen Augen­blicke in der Bergein­samkeit noch mal verge­gen­wär­tigte. Damals gab es noch kein Handy.

Seine Frau: vor sechs Jahren an Krebs gestorben. Nachdem das Krankenhaus sie aufge­geben hatte, lebte sie, starb sie ein halbes Jahr lang zuhause. Nur ihn ließ sie an sich heran. Er pflegte sie, so gut er konnte. Umsichtige Hilfe leistete ihm eine ehemalige Kranken­schwester, die auch den Haushalt führte. Es war eine qualvolle Zeit. Und es gelang ihm nicht, dem leidvollen Sterben einen Sinn zu geben. Die Situation war übermächtig.

Nächtelang kam er nicht zu Schlaf. Um nicht in Trübsinn zu verfallen, gab er sich schließlich einen Ruck: Er nahm die Situation an und beschloss, sie, so gut es ging, mit Verstand zu meistern. In schwachen Stunden half ihm ein Urgrund, der in Kinder­tagen geprägt und gefestigt worden war: Beten, voller Demut. So gewann er eine Position, die ihn durch­stehen ließ. Hirschberg erhob sich von seinem Rastplatz, zog sein inzwi­schen trockenes Hemd wieder an, schwang den Rucksack auf den Rücken, prüfte, ob er nichts, auch keinen Abfall, hatte liegen lassen, und nahm seinen Weg wieder auf.

Er schöpfte Hoffnung. Denn in einiger Entfernung sah er weiter oben durch die Baumkronen ein Haus. Das musste der Weg sein, den er gesucht hatte. Jetzt würde er zumindest teilweise abseits der Bebauung zum Puig de na Bauçà bei Galiläa wandern; über einen verges­senen Weg, dessen Existenz er vermutet hatte. Es gab ihn. Nach einer Biegung und einer kleinen Strecke abwärts kam er zu dem Felsstock, den er zuvor durch die Lichtung gesehen hatte. Der Weg querte gleich unterhalb des Alkovens, wandte sich dann seitwärts wieder steil nach oben.

Ein Kullern vor ihm erschreckte ihn. Als er nach vier, fünf Schritten an der Stelle war: kein Stein oder sonst etwas, das gerollt sein könnte; aber dann – er wollte gerade weitergehen

– bewegte sich etwas: eine Schild­kröte. Er sah ihr zu, wie sie sich bergab schob, rutschte, sich überschlug – und kullerte. Urtiere, die ein anderes Zeitver­ständnis nahe legten.

Nach kurzer Wegstrecke stand Hirschberg oben auf dem Felsstock, unter sich die grüne Schlucht der Pinien, von denen einige mit Girlanden von Kletter­pflanzen behangen waren. Zu beiden Seiten hin stiegen die Waldberge weiter an. Voller Freude schritt er weiter bergauf.

Doch dann endete sein Pfad plötzlich: Nach einem letzten Steil­stück traf er auf einen Waldweg, den ein Bagger in den Hang gerissen hatte. Die Vegetation war dabei, ihn für sich zurück­zu­er­obern. Er folgte ihm.

Am Ende eines Bogens trat er aus dem Wald. Der Hang war abgeholzt. Oben lagen zwei Villen im Sonnen­schein. Da wollte er nicht hin. Zurück in den Wald. Das andere Wegende lag aber nur an einer anderen Stelle des abgeholzten Hanges. Oben wieder eine Villa. In den Hang führte ein Trampelpfad. Er folgte ihm und stand schon bald vor einem Stollen­eingang. Kühle kam aus dem Dunkel. Er bückte sich, ging hinein. Nach etwa 20 Schritten war der Stollen zugemauert. Wieder draußen entdeckte er auf der Stirn­seite eine verwit­terte Schrift­tafel. 1817 war hier Wasser für Calvià abgeleitet worden; als Baumeister des Quell­stollens wurde ein Bernardo genannt.

Über eine Mauer hatte man die Wasser­leitung bis zur Flanke des Hangs geführt und dann in einer scharfen Links­kurve am Berg entlang geradewegs in die Schlucht hinein, aus der er hochge­stiegen war. Ihm war schlag­artig klar: Die Mauer an seinem Rastplatz war eine Wasser­leitung. Ob sein Weg oberhalb der Villen weiter­ver­laufen würde? Er musste es prüfen.

Unglücklich über die jähe Wendung seiner Entde­ckungstour stieg er hoch – und stand dann auf einem Wende­hammer. Regen hatte den Split der abschüs­sigen Erschlie­ßungs­straße zu Haufen herun­ter­ge­spült. Wider­willig ging er die Straße hinauf. An der ersten Villa empfing ihn ein wütend bellender Hund. Weiter oben weitere Straßen. Die letzte mündete in die Haupt­fahr­straße von Son Font. Überall Zäune. Keine Chance für einen Weg. Mit Wut im Bauch ging er zurück in den Wald. Sein Vorhaben „na Bauçà“ gab er für diesmal auf.

Todmüde kam er in sein Quartier. Er ging früh zu Bett. Mit Wonne erinnerte er sich nochmal an die schönsten Bilder seiner Wanderung. Seine Gedanken schweiften zurück in seine Kindheit: Schon mit sechs Jahren hatte er sich ein Waldrevier erschlossen. Es gehörte zum Areal des Wochen­end­hauses, das seine Eltern am Rande eines Dörfchens auf den Nordost­aus­läufern des Hohen Venns gemietet hatten. Wegen des ständigen Flieger­alarms in den beiden letzten Kriegs­jahren wurde das Blockhaus zum ständigen Wohnsitz. Er musste nicht zur Schule, streifte also den ganzen Tag durchs Gelände.

Im Sommer stand der Adlerfarn unter den Kiefern so hoch, dass er sich fast unsichtbar in seinem Revier bewegen konnte. Er hatte sich zwei Hütten gebaut: Die eine lag auf einer Insel in einem Weiher, die andere in der Mulde eines kleinen Birken­hains. Seine Bauweise: Zuerst sammelte er Zweige, stellte sie auf Länge gebrochen im Halbkreis gegen einen Baum. Dann riss er Farn aus und deckte die Zweige damit ab; den Boden polsterte er mit Gras, Laub und Moos aus. Bei Schauern suchte er hier Unter­schlupf, bis es halt doch durch­regnete. Da Sturm seine Hütten oft zerstörte, hatte er viel Gelegenheit, seine Techniken beim jewei­ligen Neuaufbau zu verfeinern. Im Weiher lag eine ganze Flotte von Borken­schiffen. Sein Vater hatte sie mit ihm geschnitzt. Zum Übersetzen auf seine Insel hatten Vater und Sohn ein Floß gebaut.

Ja sein Vater. 18 Jahre war er jetzt schon tot. Seinem Organi­sa­ti­ons­ge­schick in den harten Kriegs- und Nachkriegs­jahren hatte Sohn Johannes viel zu verdanken. Seine Eltern waren von Anbeginn Hitler­gegner gewesen. Und blieben das trotz erheb­licher Nachteile, die damit mehr und mehr verbunden waren. Mit Hilfe eines befreun­deten Apothekers schaffte es sein Vater, nicht in den Krieg einge­zogen zu werden.

Die Erinnerung kehrte zurück zum Waldrevier seiner Kindertage: der starke Geruch des jungen Farns, die Waldbeeren und die wilden Erdbeeren, Frösche fangen. Seine ältere Schwester inter­es­sierte das alles nicht, er hatte sein Revier für sich allein. Er war heute der Überzeugung, dass es diese Kindheits­er­leb­nisse sind, die einem Menschen zeitlebens den Zugang zur Natur vom Gefühl her geben. Das ist im späteren Leben nicht mehr nachzu­holen. Der Verstand hat sich dazwi­schen geschoben. Der Zugang vom Gefühl her, lässt einen Menschen verstummen, lässt ihn nur noch Auge, Ohr, Nase sein, gibt seiner Zunge und seinen Finger­spitzen Sensi­bi­lität, lässt ihn nicht in die Angst des Verlas­sen­seins, des Ausge­setzt­seins fallen; im Gegenteil: Er erfährt Geborgenheit.

Wie anders das Erleben derer, die erst in späteren Jahren – schon mit viel Bildung beladen und mit intel­lek­tu­ellen Fähig­keiten gerüstet – aus ihren Stadt­re­vieren heraus­kamen. Hirschberg fiel dazu die Bergwan­derung mit einem Kommi­li­tonen ein, der dauernd redete und der ständig Litera­tur­stellen zitierte, wenn er seiner Verzü­ckung Ausdruck geben wollte.

Oder heutzutage: Schönste Fleckchen Erde nur noch als sport­liche Heraus­for­derung. Outdoor-Climbing, Rafting, Trecking­touren, Skizirkus – das alles hat sicher seinen Reiz, dachte er, das eine oder andere hatte er bis vor ein paar Jahren selbst betrieben; aber der Mensch nimmt dabei die Erde als zu beherr­schendes Objekt wahr, bewältigt sie mit seinem Verstand und viel Training. Aber was bleibt, wenn der Mensch sich nicht mehr in die Schöpfung hinein versetzen, sich als ein Teil ihrer selbst fühlen kann?

Hirschberg rief noch schnell bei Frau Schneider an, um sich den Weg erklären zu lassen. Sie erwarte ihn schon längst. Die anderen Gäste seien schon da. Hatte er oder sie sich in der verein­barten Uhrzeit vertan? Er fuhr los, den Blumen­strauß auf dem Beifahrersitz.

Zu Besuch in Port Andratx

… hochherrschaftlich … Designerqualität … kölsche Töne… die Institution als
solche ist wichtig … meine Sehnsüchte wären nicht gestillt

Die prächtige Einfahrt war hell ausge­leuchtet. Hinter ihm schloss sich automa­tisch das Tor. James Bond in der Falle, dachte er. Das Gelände, ein leicht terras­sierter Hang mit angestrahlten Palmen, deren Wedel im Wind flatterten, das Haus hochherrschaftlich.

Hunde­gebell. Frau Schneider kam ihm mit ausge­brei­teten Armen entgegen: „Da sind Sie ja endlich!“

Rheinische Sirene unter Palmen; er hörte die kölschen Töne gerne. Küsschen rechts, Küsschen links. Sie bat ihn ins Haus, er überreichte artig seinen Blumen­strauß. „Danke, die sind aber schön!“. Man ging weiter auf die Terrasse heraus, auf der schon die anderen Gäste, ein Paar in etwa gleichem Alter wie sie, mit Glas in der Hand standen.

„Herr Hirschberg! Herr und Frau Neuefeind aus Pulheim!“ „Angenehm.“

Schnell bekam er auch ein Glas in die Hand gedrückt und einge­schenkt. Er trinke doch Cherry. „Ja, gerne.“ Alle hatten Pullover an. Dennoch fröstelte man bald, beschloss ins Haus zu gehen. Zuvor jedoch nötigte Frau Neuefeind Hirschberg, den tollen Ausblick auf den Hafen und seine Lichter zu loben.

Drinnen ließ man sich im Rund eines der großzü­gigen Sitzar­ran­ge­ments nieder.

Hirschberg musterte den Raum, die Einrichtung vornehm, großzügig, Designer­qua­lität. Im Hinter­grund wurde eine Essens­tafel vorbe­reitet. Frau Schneider hatte Personal.

Ob er auch aus dem Rheinland sei, wollte Herr Neuefeind wissen. Er wohne in Mehlem. Dann habe er vermutlich etwas mit Politik zu tun. Ja, auch. Neuefeind: Aber das sei nach dem Umzug nach Berlin ja eine auslau­fende Branche. Hirschberg: In Bonn sei noch allerhand geblieben; die flögen auf Steuer­zah­ler­kosten dauernd hin und her. Das sei in Europa so üblich: Das Europäische Parlament sei ja auch ein Wander­zirkus, weil es nicht nach Zweck­mä­ßigkeit gehe, sondern nach Prestige und Zuträg­lichkeit für die Betrof­fenen. Er meine wohl Einträg­lichkeit, verbes­serte Neuefeind. Die Frauen begannen ein eigenes Gespräch. Wo kaufst du das? Wo hast du jenes her?, glaubte Hirschberg zu verstehen.

Hirschberg an Neuefeind gerichtet: „Wohnen Sie ständig hier?“

„Seit einem Jahr. In Pulheim haben wir uns ein Apartment gekauft. Wir können also zurück, wann immer wir wollen.“

„Und wo residieren Sie hier?“

„In Camp de Mar. Das ist gleich die nächste Bucht. Wunder­schöne Badebucht. Claudia Schiffer wohnt auch da.“

„Haben Sie gebaut oder gekauft?“

„Gekauft. Es gibt auf Mallorca wunderbare Objekte zu kaufen, in allen Lagen: direkt unten am Meer oder oberhalb, an weiten Sandbuchten, in versteckten Tälern, im Landes­innern alte Fincas, in allen Größen, mit allem Komfort. Sie können sich auch in eine Anlage einkaufen, die gepflegt und in Ordnung gehalten wird, mit Swimmingpool, Restaurant – alles vom Feinsten. Wer hier nichts findet, weiß nicht, was er will oder hat so viele Sonder­wünsche, dass ihm nichts recht ist.“

„Schneiders haben gebaut!“

„Ja, die wollten unbedingt hier in dieser Lage etwas haben und nicht warten, bis einer verkauft, was ihnen dann auf Dauer vielleicht doch nicht gefallen hätte; die konnten das Grund­stück hier kaufen, da haben sie sich entschieden, hier zu bauen. Sind ja schließlich vom Fach.“

„Sie sind kein Segler?“, klopfte Hirschberg auf den Busch.

„Nein. Wenn wir mal aufs Wasser wollen – wir haben viele Freunde, die uns immer wieder einladen mitzu­kommen. So ein Boot macht viel Arbeit. – Und was zieht Sie nach Mallorca?“

„Das Klima, die Landschaft, das Licht!“

„Zauberhaft, nicht? Zu jeder Jahreszeit.“

„Solange war ich noch nicht hier. Aber ich habe es jedes Mal – drei Mal bisher – genossen. Morgen ist es leider schon wieder zu Ende.“

„Ach ja? Morgen schon wieder zurück? Ich bin froh, dass ich nicht mehr aktiv bin. Keine Termine mehr, kein Ärger mit Mitar­beitern. Ein goldener Fallschirm zum frühzei­tigen Abschied. Was will man mehr!“

Frau Schneider unter­brach das Gespräch und stellte nunmehr die Bezie­hungen klar. Zu den Neuef­einds gewandt sagte sie: „Herr Hirschberg ist ein alter Bekannter meines Mannes. Die haben schon einiges mitein­ander zu tun gehabt. Herr Hirschberg ist nämlich Unter­neh­mens­be­rater und hat auch uns einmal in einer Perso­nal­an­ge­le­genheit beraten.“

Zu Hirschberg gewandt: „Der Mann, den Sie damals zu uns geholt haben, arbeitet übrigens heute noch bei uns.“

Hirschberg: „Na sehen Sie!“

Herr Neuefeind: „Sie sind also Headhunter!“

Hirschberg: „Gelegentlich.“

Die Schneider zu Hirschberg, auf die Neuef­einds deutend:

„Frau Neuefeind und ich kennen uns schon ewig lange: Wir waren beide Funken­ma­riechen, sie bei den Blauen, ich bei den Roten Funken – ne Helli, das waren Zeiten!“

Frau Neuefeind: „Das kann man sagen!“

Hirschberg dachte: Das muss wirklich schon etliche Jahre her sein; heute bekäme die beiden kein Tanzof­fizier mehr als einen halben Meter in die Höhe. Tempe­rament hatte die Schneider ja noch. Die Augen funkelten. Die Gestik war lebhaft. Sie stellte sich gerne dar und zeigte, was sie hatte – an diesem Abend einiges Gold und Edelsteine an Fingern, Handge­lenken, Ohrläppchen und Hals. Die Frisur kam vom Friseur. Was für Haare sie von Natur aus mal hatte, war nicht zu erkennen. Gekleidet war sie in ein locker sitzendes Gewand, fast so wie es Römerinnen in Histo­ri­en­filmen tragen. Das tat dem Tempe­rament keinen Zwang an und ließ Pfunde da, wo sie zu viel waren, im Verbor­genen. Goldschühchen. Frau Neuefeind, etwas kleiner an Gestalt, Haare auch vom Friseur, war ähnlich angezogen. Zwei Mariechen im vorge­rückten Alter.

Hirschberg sagte: „Das müsste so in den 70er Jahren gewesen sein.“

Schneider: „Stimmt, Anfang der 70er, die 72er und die 73er Session waren unsere großen Zeiten. Jetzt sitzen wir hier; dieses Jahr zum ersten Mal auch an Karneval. – Der Herr Neuefeind ist ein Aussteiger. Der hatte bis vor kurzem einen Bomben­posten als Vorstands­mit­glied bei einer Versi­che­rungs­ge­sell­schaft und lebt heute als junger Mann von 58 Jahren im Ruhestand. Also Heinz, wenn du nicht hier bald das Kribbeln bekommst, stimmt etwas nicht mit dir.“

Neuefeind: „Ich hab’ da schon eine neue Beschäf­tigung im Auge.“

Schneider: „Und das wäre?“

Neuefeind: „Betreuung der einsamen Damen­herzen auf Mallorca.“

Die Schneider sah erstaunt ihre Freundin an, dann zu ihm: „Hat die Helli dir denn dazu schon die Erlaubnis gegeben?“

Neuefeind: „Die freut sich, wenn ich mich nicht langweile und ihr mit meinen Fragen und Nörge­leien nicht auf den Wecker falle.“

Helli zur Schneider: „ Kennst du das? Täglich einen Mann um dich herum, der nichts zu tun hat außer Zeitung lesen und den Hund ausführen, der im Haushalt zwei linke Hände hat, aber alles besser weiß und dir dauernd Ratschläge gibt?“

Schneider: „Kenne ich nicht. Meinen Mann sehe ich höchstens alle paar Monate, wenn er hier mit Gästen aufkreuzt. Wann lasst ihr euch denn scheiden?“

Neuefeind: „Noch habe ich meine neue Tätigkeit ja nicht aufge­nommen. Vielleicht kann mich Herr Hirschberg auch erst einmal beraten.“

Schneider: „Hör mal! Der ist kein Ehebe­rater, sondern Perso­nal­be­rater. Wenn du aus deiner Betreuung ein Unter­nehmen machst, kann er dir helfen. Nicht wahr, Herr Hirschberg?“

Sie bat zu Tisch und wies die Plätze zu. Es wurde serviert.

Suppe und Vorspeisen. Hauptgang; dazu ein trockener Wein. Hirschberg versuchte unauf­fällig, sich möglichst zurück­zu­halten, um seinen Magen zu so später Stunde nicht vollzu­laden. So gut es auch schmeckte, er würde es später büßen müssen. Damit hatten die

anderen nichts zu tun. Die langten zu.

Schneider: „Ihr sagt ja gar nichts. Schmeckt es euch nicht? Herr Hirschberg, nehmen Sie doch noch etwas oder mögen Sie keine Rindermedaillons?“

Hirschberg: „Es schmeckt alles vorzüglich. Nur, ich bin es nicht gewöhnt, so spät noch so viel zu essen. Es schmeckt mir ausgezeichnet.“

Schneider: „Ehre, wem Ehre gebührt.“ Sie drehte sich in die Richtung, wo die Speisen herge­tragen wurden, und rief: „Feli, ven por favor!“

Feli, eine Frau in mittleren Jahren, etwas schwitzig von der Küchen­arbeit, kam und die Schnei­derin mit einer Handbe­wegung zu ihr: „Sie hat das alles zubereitet, sie ist unsere Meister­köchin. Von mir hat sie schon längst drei Michelin-Sterne.“

Feli bedankte sich artig: „Gracias, danke schön.“ Und verschwand wieder. Nach einer Weile kam mit neuen Köstlich­keiten, den Nachspeisen, der Junge, der schon bisher serviert hatte.

„Übrigens, das ist der Sohn von Feli. Vater unbekannt. Danke dir, mein Sohn. Du machst das vorzüglich. Gracias.“

Der Junge, Hirschberg schätzte ihn auf 14 oder 15 Jahre, grinste verlegen, ließ sich indes in seiner Arbeit nicht stören.

Die Schneider: „Bevor wir uns rüber an den Kamin setzen – darf ich Ihnen, Herr Hirschberg, mal das Haus zeigen?“ „Gerne.“ Sie klemmte ihn sich unter den Arm: „Dann gehen wir hier lang.“

Zunächst ein Blick in die Küche: Groß und perfekt einge­richtet wie eine Restau­rant­küche; hier wurde für ganze Gesell­schaften gekocht. Die Küche hatte einen Ausgang auf die große Terrasse. Neben dem Wohnraum noch ein Salon. Von der Eingangs­halle aus führte in weitem Bogen eine breite Treppe ins Oberge­schoß. Zwei große Schlaf­räume mit großen Bädern, eines davon mit Whirlpool, noch ein kleines angren­zendes Kabinett, das sich Frau Schneider ganz persönlich einge­richtet hatte; drei weitere Schlaf­räume mit jeweils etwas beschei­de­nerem Bad. Alle Zimmer mit Balkon. Und noch eine Treppe: „Hier geht es rauf auf die Dachter­rasse. Den Blick sollten Sie noch mitnehmen.“

Sie stiegen hoch: Ein kleinerer, zur Zeit trocken gelegter Swimmingpool, Liegen, eine Bar. Säulen­brüstung rundherum. Blick auf die Lichter des Hafens und des Ortes. Die Terrasse unterhalb, die sich zum großen Swimmingpool hin erstreckte, war hell beleuchtet. Das Licht der Lampen, die in die Seiten­wände des Pools eingebaut waren, gaben dem Wasser einen glasigen grünweißen Schein. Zwei Hunde rasten durchs Gelände, mal im Schatten der Bäume, mal im Licht der Kande­laber oder Schein­werfer. Frau Schneider war gut bewacht.

Die Neuef­einds hatten es sich am Kamin bereits gemütlich gemacht. Neues Holz war aufgelegt worden, so dass die Flammen hochschossen.

„Was trinken Sie Herr Hirschberg? Gläschen Wein? Spani­schen? Franzö­si­schen? Oder ein leckeres Tröpfchen aus dem Rheingau?“

“Einen Spani­schen bitte.“ Er bekam Gran Sangre de Torro – Großes Blut des Stiers.

Frau Schneider sah den stummen Hirschberg an, der in die Flammen schaute, dann einen Schluck Wein nahm. „Worüber denken Sie nach?“

Hirschberg nahm ihren Blick auf und fragte: „Wo halten Sie sich im Laufe des Jahres länger auf: hier oder in Köln?“

„Bis auf den heißen Sommer: hier! Das ist meine neue Heimat. Klar, man hängt an Köln,

ich habe ja die Kinder da – der älteste ist jetzt in die Firma einge­treten – aber, ich rede da nicht drum herum, mein Mann und ich, wir haben uns ausein­an­der­gelebt. Jetzt muss jeder von uns überlegen, wie er sein eigenes Leben kramt. Für mich, da mache ich mir keine Illusionen, geht die Party langsam zu Ende. Mein Mann meint, für ihn ginge sie immer weiter und die Funken­ma­riechen flögen ihm bis an sein Lebensende zu. Da kann ich nur sagen: Abwarten mein Herr! Sie wollen sicher fragen, was machen Sie denn alleine in diesem großen Haus? Sie können doch nicht dauernd Gäste einladen. Ein Pastor war mal hier, der hat mich genau das gefragt. Wissen Sie, was ich dem gesagt habe: Mein Mann und ich haben in unserem Leben viel und hart gearbeitet, uns ist nichts geschenkt worden, wir haben die Firma als Klitsche vom Vater meines Mannes übernommen und zu einem der führenden Projekt­bau­un­ter­nehmen in Deutschland gemacht, wir haben jahrelang keinen Urlaub gemacht…“

„Und auf Karneval verzichtet“, warf Hirschberg ein.

„…das ist ja wohl was anderes, Sie Muffel! Wir haben uns kaum etwas gegönnt – jetzt genieße ich das Leben, ich habe es mir verdient, habe ich dem Pfarrer gesagt. Der hat dann noch was von Armut in der Dritten Welt und Menschen, die auf der Straße leben müssen, erzählt; aber was kann ich dafür, wenn die Leute in Indien oder sonst wo nichts zu beißen und kein Dach über dem Kopf haben. Sollen doch erst mal die Mahara­dschas, Marcos, Mobutus, Suhartos, und wie sie alle heißen, von ihrem zusam­men­ge­schef­felten Reichtum etwas erleichtert werden; an denen gemessen, sind wir doch nur kleine Fische.“

Hirschberg. „Sozusagen Habenichtse.“

Die Schneider: „Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen!“

Hirschberg: „Hat der Pfarrer Sie nicht gefragt, was Sie den ganzen Tag tun? Wie das Genießen aussieht?“

Die Schneider: „Das habe ich ihm gesagt, ohne dass er danach gefragt hat. Was der am nächsten Sonntag in St. Gereon gepredigt hat, weiß ich nicht, aber mit Sicherheit bin ich nicht bei denen, die nach seiner Meinung durchs Nadelöhr kommen.“

Frau Neuefeind: „Wir gehen schon seit Jahren nicht mehr zur Kirche. Da wird einem ja doch nur ein schlechtes Gewissen gemacht. Und wie du schon sagst: Dafür, dass wir uns hier das leisten können, haben wir ja auch gearbeitet, das ist uns nicht geschenkt worden.

Neuefeind: „Ich wollte aus der Kirche austreten, aber meine Frau will nicht.“

Frau Neuefeind: „Irgendwie gehören wir dazu, auch wenn die nicht mehr zeitgemäß sind.“

Schneider: „Wir sind ausge­treten. Die wollten mit sich nicht über die Höhe der Kirchen­steu­er­zah­lungen reden lassen. Und als die in Rom uns dann noch in Köln den Kardinal aus Berlin vor die Nase gesetzt haben, war das Maß voll. Wir spenden jetzt viel. Aber man muss genau hinsehen. Ich gebe nur denen etwas, bei denen ich einiger­maßen sicher bin, dass es auch dort ankommt, wo die Hilfe gebraucht wird. – Sind Sie katho­lisch, Herr Hirschberg?“

„Ja, und ich werde auch nicht aus der Kirche austreten, obwohl ich viel zu kriti­sieren habe. Mein Religi­ons­lehrer hat immer gesagt, die Insti­tution als solche ist wichtig, nicht wer auf dem Stuhl in Rom sitzt.“

Schneider: „So viel Bildung habe ich nicht mitbe­kommen. Ich stelle nur fest, dass die Kirche immer weniger Menschen etwas zu sagen hat.“

Hirschberg: „Mein Religi­ons­lehrer hat noch etwas gesagt, das ich behalten habe: Wenn du im Zweifel bist, was du zu tun hast, folge deinem Gewissen – das aber musst du bilden und prüfen.“

„Und tun Sie das?“, wollte die Schneider wissen.

Hirschberg holte weit aus: „Meine Eltern waren Hitler­gegner. Mein Vater weigerte sich, obwohl er Beamter war, in die Partei einzu­treten. Das brachte für ihn das Ende seiner Karriere und seiner Familie Nachteile. Er ging zum Pfarrer. Der sagte ihm, er müsse abwägen zwischen den Nachteilen für die Familie und seiner Haltung gegenüber den Nazis. Er solle pro forma in die Partei gehen, damit die Familie keinen Nachteil habe. Mein Vater ging nicht in die Partei — aber er ging mit der Fronleich­nams­pro­zession, was er vorher nur als kleiner Junge getan hatte. Er konnte nicht gegen sein Gewissen handeln. Er musste sich selbst, seiner Überzeugung treu bleiben. Ich weiß nicht, wie ich gehandelt hätte. Ich glaube, das weiß man immer erst, wenn die Situation da ist. Ob ich mein Gewissen bilde? Ich versuche, meine Überzeu­gungen immer wieder zu überdenken und zu vertiefen. – Offen gesagt: Wie Sie könnte ich nicht leben! Es wäre mir zu ärmlich. Ich würde mich ständig fragen, ob es denn das gewesen sein sollte.“

Schweigen. Frau Schneider blickte ins Feuer, dann auf Hirschberg. Sie schürzte die Lippen, überlegend, soll ich ihn mir zur Brust nehmen wie den Pfarrer damals, der mir zu dumm kam, oder soll ich ihn höflich abfangen oder soll ich mich auf eine Diskussion mit ihm einlassen – Hirschberg war ja kein Dummkopf, und die Geschichte mit seinem Vater hatte ihr imponiert. Sie entschied sich halbherzig. Wäre sie allein mit ihm gewesen, hätte sie disku­tiert. So sagte sie: „Was meinen Sie mit ärmlich?“

„Würde ich hier leben, käme schon bald die Zeit, da ich den schönen Ausblick beispiels­weise schon gar nicht mehr wahrnähme. Ich müsste mir Gäste einladen, die es mir dauernd sagen und mich darum beneiden. All die Annehm­lich­keiten, Beson­der­heiten – der Luxus wäre mir als Lebens­inhalt zu bescheiden. Ich würde mich langweilen und fragen, ist das der gerechte Lohn für so viel Arbeit? Denn meine Sehnsüchte wären nicht gestillt! Was würden Sie dafür geben, um mit Ihrem Mann noch einmal so glücklich zu sein wie in den Jahren, als Sie so viel entbehrt und außer Karneval nur geschuftet haben?“

Er hatte sie erwischt, musste sie sich einge­stehen; alles würde sie geben. Sie fragte: „Glauben Sie an ein Jenseits?“

„Wer auf die vollkommene Erfüllung seiner Sehnsüchte hofft, wie ich, der muss an ein Jenseits glauben.“

Sie drehte ab: „Sie hätten Pfarrer werden sollen.“

Im Kamin lag jetzt eine mächtige Glut; keine Flammen mehr. Die Neuef­einds tranken ihre Gläser leer, erhoben sich, meinten, es wäre ein wunder­schöner Abend gewesen, bedankten sich und gingen in Richtung Eingangs­halle. Hirschberg schloss sich an.

Die Schneider besorgt: „Die Hunde müssen noch in den Zwinger.“ Sie verschwand in Richtung Küche. Neuef­einds machten noch etwas Smalltalk: „Übermorgen geht’s also zurück nach Deutschland?“

Hirschberg: „Ja, die Zeit vergeht schnell.“

Frau Schneider kam zurück. Verab­schiedung auf der großen Eingangs­treppe. Neuefeind zu Hirschberg: „Schön, Sie kennen­ge­lernt zu haben.“ Nochmal Winke­winke aus dem Wagen­fenster. Das James-Bond-Tor fuhr auf. Ein kalter Schauer lief Hirschberg über den Rücken. Nichts wie nach Hause und ins Bett.

Ausflug zur Cala S‘ Amonià

… wind- und blickgeschützt … die Sonne genießend … ohne einen Anflug
von Scheu … in verschiedenen Welten …

Palma am frühen Vormittag. In der Jaime III. regt sich in einigen Boutiquen Leben. Ständer werden nach draußen gerollt, die Waren­prä­sen­tation herge­richtet, die Schau­fens­ter­de­ko­ration einem prüfenden Blick unter­zogen. Staub­sauger summen. Verkäu­fe­rinnen huschen hinein. Den Straßenrand vor den Kolon­naden entlang fährt im Kriechgang schep­pernd und dröhnend mit rotie­renden Besen­werken, Wasser verströmend, ein Stadt­rei­ni­gungs­gerät, von einem hutze­ligen Männlein in Stadt­ar­bei­ter­kleidung gelang­weilt auf Kurs „Saubere Stadt“ gehalten. Die übrigen Geräusche sind noch verhalten. Der Verkehrslärm und das grelle Licht des Tages haben die Stadt noch nicht erfasst. Noch reibt man sich die Augen, dehnt die Glieder, atmet die frische Luft. Hirschberg schlendert durch Palma.

Auf einem kleinen Platz verweilt er, setzt sich auf eine der Bänke unter Palmen. Der Platz ist auf einer Seite von Sonne beschienen, die andere Hälfte liegt im Schatten. Hirschberg gegenüber ein Nacht­lokal. Die Leucht­schrift ist erloschen. Tauben flattern umher; zwei, drei von ihnen kommen dem Besucher näher, erfor­schen, ob er zu ihren Wohltätern mit gefüllter Plastiktüte gehört. Eine schwarze Katze huscht quer über den Platz. Eine andere, schwarzweiß scheckig, sonnt sich auf dem Fensterbord eines 1. Stockwerks.

Die Eingangstür des Lokals gegenüber steht weit offen. Der Gang ist dunkel. Heraus quillt die starke Fahne des kalten faden Gemischs von Zigaret­ten­rauch und Alkohol. Irgendwo hinten durch muss ein besof­fener Riese liegen. Die Fenster des angren­zenden Barraumes sind zur Straße hin geöffnet. Es wird gelüftet. Im Halbdunkel sieht man die Stühle auf den Tischen stehen. Aus dem Hinter­grund kommt wie schon in der Jaime III. das monotone Summen eines Staub­saugers. Gelegentlich das ohren­ver­let­zende Kreischen zur Seite gerückter Tische. Im Schau­kasten neben der Tür vergilbte Fotos feucht­fröh­licher Zecher. Ein junger Mann spritzt den Bürger­steig ab. Um die Kotze im Rinnstein wegzu­be­kommen, verschärft er mit dem Daumen den Wasser­strahl. Hirschberg steht auf und geht.

Vor den Cafés des Paseo Maritimo stehen Tische und Stühle auf dem Gehsteig. Gäste lesen Zeitung, trinken Kaffee. Er hat sich die deutsch­spra­chige Insel­zeitung gekauft und einen Platz ausge­sucht. Er wirft einen ersten Blick hinein. „Un cafe con leche y azúcar!“ Der Camarero nickt und geht zum Nachbar­tisch. Dort nahm gerade eine junge Frau mit Sport­tasche Platz. Hirschberg wird sein Zeitungs­packen zu viel, so dass er einen Teil ablegt. Der Kellner bringt den Kaffee mit Milch und Zucker. Am Neben­tisch serviert er Tee und ein süßes Gebäck. Die junge Frau nutzt die Gelegenheit der Lektüre-Unter­bre­chung durch den Kellner, um Hirschberg zu fragen, ob sie in den abgelegten Zeitungsteil einen Blick werfen dürfe. „Bitte schön.“

Die junge Frau kurz darauf: „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen an den Tisch setze?“

„Wenn Sie mögen. Ich verstehe zwar nicht …“

Schon setzte sie ihre Kaffee­tasse neben die seine, nahm ihre Tasche vom Nachbar­stuhl und wechselte zu ihm. „Ich suche bei Ihnen Zuflucht“, sagte sie. Hirschberg sah sie mit erstaunter Miene an.

„Der junge Mann dort“, sie machte eine Kopfbe­wegung in Richtung Gehweg, „ist mir heute Morgen schon einmal begegnet. Ich kenne ihn nicht. Er ist mir nachge­gangen. Ich hatte gehofft, er würde mich aus den Augen verlieren. Jetzt hat er mich wieder entdeckt. Und er

hätte sich bestimmt gleich an meinen Tisch gesetzt, wenn ich nicht zu Ihnen umgezogen wäre . Danke­schön! Immer diese Typen. Übrigens: Ich heiße Katha.“

„Abkürzung von Katastrophe?“

„Nein, von Katharina.“

„Schöner Name.“

„Wie ein Tourist sehen Sie nicht aus.“, sagte Katha prüfenden Blicks.

„Ich bin ja auch keiner.“

„Leben Sie auf Mallorca?“

„Nein, ich spanne hier nur ein paar Tage aus.“

„Haben Sie so einen anstren­genden Job?“

„Ausspannen, das sagt man so. Mir ging es darum, zur Ruhe zu kommen, Zeit zum Nachdenken zu haben, mich ein wenig in der Natur zu bewegen.“

„Dann sind Sie also so ein Schreibtischmensch?“

Hirschberg dachte: Ganz schön neugierig! Wollte sie auf etwas hinaus? Er mochte es, wenn Menschen Fragen stellten, sich interessierten.

Katha: „Für mich wäre so ein Bürojob nichts. Ich brauche Bewegung, Abwechslung, Aktion.“

„Brauchen Sie nicht auch mal eine Pause?“

„Klar. Aber eher, um etwas anderes zu erleben, um nicht in Routine zu verfallen.

Eigentlich suche ich immer etwas Neues.“

„Lebens­hungrig, was?“

„Aber nicht so, um Karriere zu machen, pausenlos durch die Welt zu hasten, viel Geld zu verdienen und keine Zeit, es auszu­geben. Das ist mir zu einengend. Ich will Menschen kennenlernen.“

„Irgend etwas wird Sie immer einengen.“

Katha sah sich um, ob ihr Verfolger noch in der Nähe sei. Er war es. Sie wandte sich wieder Hirschberg zu.

Sie sagte: „Sicher. Aber dann möchte ich wissen, warum; ob ich das ändern kann oder ertragen muss. – Was engt Sie ein?“

Hirschberg stellte fest, die Frau war nicht langweilig, die hatte keine Scheu und ritt auch Attacke.

„Was mich einengt?“ wieder­holte er nachdenklich ihre Frage und merkte, wie sie ihn forschend ansah. Sollte er auswei­chend antworten? Philo­so­phisch? Ehrlich? Er sah ihr ins Gesicht; sie wich nicht aus; ihre Miene: Antworte!

Er fing tastend an: „Vieles engt mich ein. Davon kann ich einiges ändern, vieles nicht.

Beispiel: Das Wetter. Das Klima auf Mallorca gefällt mir besser als das Klima in Deutschland. Also Einengung in Deutschland. Aber meinen Beruf übe ich in Deutschland aus. Deutsch ist die Sprache, in der ich denke und arbeite. In Deutschland bin ich aufgewachsen.“

„Dass ich als Deutsche geboren bin, ist also schon eine Einengung!“

„Wo auch immer Sie geboren werden – es ist immer mit einengenden Vorgaben verbunden, die manche bis an ihr Lebensende nicht verwinden.“

„Manche brechen aus, sobald sie können.“

„Die ‚Blumen­kinder‘ zum Beispiel.“

Hirschberg fragte sich, war sie eine Ausstei­gerin? War sie deshalb auf Mallorca?

Er sagte: „Die jungen Frauen in Petersburg oder Kiew, die ihnen wildfremde deutsche Männer heiraten, in der Hoffnung Deutsche zu werden, dürften für einen Aussteiger aus Deutschland kein Verständnis haben.“

Sie sah ihn an und blickte dann weg, um nachzu­denken. Er betrachtete sie: hochge­steckte blonde Haare mit dunklen Strähnen darin, dunkle Augen­brauen, braune Augen, klassisch gleich­mäßige Gesichtszüge, ein eher herber denn lieblicher Gesichts­aus­druck. Ihr Alter?

Vielleicht Mitte 20.

Katha: „Darüber würde ich gerne noch reden. Aber nicht jetzt. Da muss ich erst noch nachdenken, um keinen Quatsch zu reden.“

Pause. Wieder sah sie sich um. Nicht ängstlich, aber wachsam. Dann zurück zu Hirschberg: „Ich lebe nicht in Palma. Ich habe hier nur eine Freundin besucht. Ich brauchte eine kleine Auszeit. Heute Abend muss ich zurück. Meine Freundin arbeitet in einer Mode-Boutique. Ich habe sie eben dorthin begleitet. Inter­es­siert Sie das überhaupt? Oder langweile ich Sie? Vielleicht haben Sie gar keine Zeit und ich halte Sie auf?“

„Nein, nein!“ wehrte er ab. „Erzählen Sie. Auch ich lerne gerne Menschen, ihre Ansichten und Lebens­um­stände kennen. Sie fliegen heute Abend nach Deutschland zurück?“

„Nein. Ich lebe hier. Seit einem halben Jahr arbeite ich als Tennis­leh­rerin und Anima­teurin in einer Sport­anlage bei Cala Ratjada. Das war eine Zeitlang ganz aufregend, aber jetzt nicht mehr. Ich wehre mich zwar dagegen, die Leute, mit denen ich zu tun habe, in ihrer Mehrheit als langweilig und uninter­es­siert einzu­ordnen, aber manchmal können sie einen mit ihren immer gleichen Fragen, mit ihren im Grunde recht beschei­denen Ansprüchen ganz schön nerven.“

Ganz schön anspruchsvoll, die junge Frau, dachte Hirschberg. Was hat sie denn erwartet? Er fragte: „Wie lange wollen Sie das denn noch machen?“

„Ich weiß nicht. Aber höchstens noch den Sommer über.“

„Was haben Sie vorher gemacht?“

„Ich habe Anglistik, Germa­nistik und Sport studiert. Aber nicht zu Ende. Der Hochschul­be­trieb war mir eines Tages zuwider. Und ich war auch nicht sicher, ob das die richtigen Fächer für mich sind. Ich wollte Lehrerin werden.“

Hirschberg checkte durch: „Und wie sind Sie nach Mallorca gekommen?“

„Voriges Jahr im Sommer überre­deten mich Freunde, mit in ein Surfcamp
zu kommen. Da bin ich dann hängengeblieben.“

Sie schwieg und ihre Augen richteten sich nach innen. Hirschberg fühlte, das sei jetzt der Augen­blick, in dem er etwas von sich erzählen sollte. Noch einige Augen­blicke des Schweigens und er begann:

„Ja, dann will ich auch ein wenig von mir erzählen. Übrigens: Ich heiße Jo. Johannes Hirschberg. Ich bin hier nur für ein paar Tage. Bekannte haben mir in Santa Ponça ihre Wohnung zur Verfügung gestellt. Ich wohne in Mehlem bei Bonn gleich gegenüber dem Drachenfels. Von der Ausbildung her bin ich Volkswirt und Soziologe. Seit 30 Jahren arbeite ich selbständig als Berater von Unter­nehmen, Organi­sa­tionen und Einzel­per­sonen in den Bereichen Public Relations und Personal. Damit Sie wissen, bei wem Sie hier Zuflucht gefunden haben.“

„Das hört sich riesig inter­essant an.“

„Heute Nachmittag wollte ich noch etwas am Meer entlang spazieren gehen. Wenn Sie mitkommen wollen, kann ich Ihnen mehr erzählen.“

„Ich kenne die schönste Bucht von ganz Mallorca. Wollen wir da hin?“

Hoppla, dachte Hirschberg, aber warum nicht.

„Wie lange brauchen wir mit dem Auto bis dahin?“

„Eine Stunde.“

„Einver­standen.“

Sie gingen zum Auto, fuhren am Flughafen vorbei Richtung Santanyi über Llucmajor, Campos. In Campos war Markttag. Katha schlug vor, ein paar Lebens­mittel einzu­kaufen, um am Strand Picknick zu machen. Sie kannte sich aus, sowohl mit Quali­täten als auch mit Preisen, stellte Hirschberg fest. Und sie konnte sich verständlich machen. Er zahlte.

Von Campos aus lotste Katha ihn über mehrere kleine Orte Richtung „schönste Bucht“. Rechts ab, links ab, immer weiter ins Land abseits der Durch­gang­straßen. Die Felder, hier in ebenem Gelände, alle gepflegt. Das war Bauernland, nicht Touris­ten­insel. Die Straßen wurden immer schmaler. Auf beiden Seiten mit Mauern einge­fasst. An manchen Stellen waren sie für Einfahrten geöffnet. Hin und wieder ein mächtiges Eingangs­portal, von dem eine prächtige Allee zu einer hochherr­schaft­lichen Finca führte.Plötzlich kam ihnen aus einer Kurve heraus ein Riesen­traktor mit hohem Tempo entgegen. Hirschberg und der Traktor­fahrer mussten voll auf die Bremsen treten und kamen ein Meter vorein­ander zum Stehen. Der Traktor­fahrer hob die Hand zum „Sorry“ und bedeutete dann, Hirschberg möge zurück­setzen. Katha hatte sich recht­zeitig mit den Händen gegen das Armatu­ren­brett abgestützt. Jetzt musste sie durch­atmen. Er setzte zurück. Der Traktor nahm wieder Fahrt auf und fuhr dann voll in das Gestrüpp, das sich vor der Mauer, die hier etwas zurück­ge­nommen verlief, ausge­breitet hatte. Er walzte mit seinen mächtigen Reifen einfach alles nieder. Vorbei­fahren, winkte der Traktor­fahrer. Es war knapp.

Die Strecke wurde eintönig. Hirschberg verlor in diesem Einerlei die Orien­tierung. Allein hätte er hier nicht wieder heraus­ge­funden. Selbst Katha, die bisher so sicher war, wo es lang ging, bat an einer Kreuzung stehen zu bleiben, sie müsse überlegen. Sie entschied sich richtig.

Es dauerte nicht lange und die beiden Ausflügler wurden auf eine Gedulds­probe gestellt: Eine Schafs­herde trippelte vor ihnen in Fahrt­richtung. Der Schäfer vorneweg, sein Hund bei den Nachzüglern, diese immer wieder zur Herde treibend. Der Schaf­shirte machte keinerlei Anstalten, die blökende, köttelnde, die Pflanzen am Wegrand abzup­fende Herde auf eine der Straßen­seiten zu nehmen oder wenigstens etwas schneller des Wegs zu ziehen. Sie mussten sich fügen.

Katha versuchte, die Zeit zu überbrücken: „Sind Sie zum ersten Mal auf Mallorca?“

„Nein, ich war schon zweimal hier. Jeweils eine Woche. Einmal zum Segeln mit Freunden, das andere Mal zu Besuch. Wir haben ein paar Ausflüge gemacht. Nach Soller, Alcudia, Albufera, Sant Elm, Palma natürlich. Ich würde gern mal für längere Zeit hier sein.“

Sie schwiegen. Jeder hing den eigenen Gedanken nach. Er: Auf welche Situation habe ich mich denn da einge­lassen? Hirschberg war über sich teils belustigt, teils ungehalten. Anstatt sich einen ruhigen Tag zu machen, fuhr er mit einer jungen, ihm unbekannten Frau zur

„schönsten Bucht“ Mallorcas, einfach nur so. Anderer­seits: Wenn er diese Sponta­neität, dieses situative Eingehen auf Menschen nicht mehr bringe – ja dann sei er alt und abständig. Er fand sich gut.

Und Katha? Sie fühlte sich wohl, wie lange nicht mehr. Der Mann strahlte eine Ruhe und Ausge­gli­chenheit aus, die sie faszi­nierte. Ein Mann, mit dem man reden konnte!

Plötzlich wandte sich die Straße nach rechts, gerade aus ein Feldweg – und in den hinein zog der Schäfer mit seiner Herde. Noch eine kurze Strecke und Katha sagte: „Wir sind da.“ Die Straße endete an einer steilen Treppe.

Katha hatte recht: Eine solch idyllische Bucht hatte Hirschberg noch nicht gesehen. In großem Bogen hatte sich das Meer ins Land gefressen, die Bucht immer spitzer zulaufend, am Ende ein schmaler Sandstrand. Das Wasser kristallklar. Nur leicht bewegt, klatschte es dann und wann an die Felswände. Hirschberg und Katha gingen in Richtung Meer.

Ein atembe­rau­bender Blick tat sich auf: ein Häuser­en­semble wie aus dem Märchen schmiegte sich in den Steilhang auf der gegen­über­lie­genden Seite. Die Boots­ein­fahrten in Höhlen und Unter­ge­schossen verrieten, dass es Fischer­häuser waren. Unbewohnt. Sie setzten sich. Katha wandte sich erwar­tungs­vollen Blicks ihm zu. Er sagte: „Großartig.“ Beide schauten still aufs Wasser, die Bucht, die Kulisse, das Meer hinaus. Es wehte ein leichter Wind von Land her.

Sie gingen zu den Häusern rüber. Über enge Treppen, bei denen nie erkennbar war, wohin sie denn zwischen den inein­ander verschach­telten Häusern führten, stiegen sie nach oben und nach unten, standen sie vor verschie­denen Haustüren und überlegten, wo es denn weiter ginge. Schließlich kamen sie ganz nach unten ans Wasser, wo Schienen von den Boots­ga­ragen, in Beton verlegt, ins Wasser führten. Katha ging auf einer dieser schiefen Ebenen hoch bis zu einem der Tore. Hier setzte sie sich. Die Sonne stand genau gegenüber. Es war warm, hier unten regte sich kein Lüftchen. Der Platz war wind- und blickgeschützt.

„Machen wir hier Picknick?“ fragte Katha. Hirschberg nickte zustimmend. Er sagte: „Ich suche Sitzmöbel.“ Mit zwei Brettern und zwei Balken kam er zurück. Auf einer Stein­platte hatte sie bereits das „Buffet“ arran­giert: eine in vier Stücke gebro­chene Weißbrot­stange, zwei Sorten Schinken, drei verschiedene Käsearten, Manda­rinen, Orangen. Er baute die Sitze auf und sie erklärte: „Das Büfett ist eröffnet.“

Hirschberg nach einigen Bissen: „Wo leben Ihre Eltern?“

„Meine Mutter lebt in Essen. Mein Vater hat eine Wohnung in Düsseldorf. Er ist selten zuhause. Er reist in der ganzen Welt herum. Seit ich aus dem Haus bin, leben sie nicht mehr zusammen.“

„Was macht Ihr Vater?“

„Er ist Ingenieur. Für eine Maschi­nen­bau­firma leitet er vor Ort die Montage von ins Ausland verkauften Maschinen. Da ist er oft monatelang weg, beispiels­weise in Korea oder Latein­amerika. Ich habe ihn seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen.“

„Und haben Sie Geschwister?“

„Einen älteren Bruder. Er ist Chemiker und hat gerade seine Doktorarbeit
abgeschlossen. Er will an der Hochschule bleiben.“

„Hat er eine Freundin“?

„Er ist verhei­ratet und hat eine vierjährige Tochter. Meine Schwä­gerin ist auch Chemi­kerin. Sie arbeitet bei einem Pharma­un­ter­nehmen in der Forschung.“

Hirschberg wollte das Ausfragen nicht zu weit treiben. Deshalb schwieg er. Nach einer Weile erzählte sie von sich aus weiter:

„Mein Bruder hat zuhause nichts zu sagen. Meine Schwä­gerin bestimmt. Ich finde das nicht gut. Das ist keine Partner­schaft. Und die Kleine hat das schon gemerkt. Sie spielt die Beiden gegen­ein­ander aus.“

Nach einer Pause fragte sie: „Und wie ist das bei Ihnen? Haben Sie Geschwister?“

„Ja. Eine ältere Schwester. Sie hat vier Kinder, zwei Töchter und zwei Söhne. Alle verhei­ratet. Neun Enkelkinder.“

„Und Sie? Haben Sie Kinder?“

„Einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn ist geschieden. Meine Tochter will erst gar nicht heiraten.“

„Ihre Frau…?

„…lebt nicht mehr. Vor sechs Jahren ist sie an Krebs gestorben.“

„Das tut mir leid.“

„Schon gut.“

Sie aßen schweigend zu Ende. Dann zog sie sich ein Stück zurück und lehnte sich halb liegend gegen das Holztor der Boots­garage, die Sonne genießend. Er räumte derweil ab, packte die Abfälle zusammen und stand schließlich unschlüssig da, sich fragend, was jetzt tun.

Katha: „Würde es Sie stören, wenn ich ein Sonnenbad nehme?“

„Keineswegs. Ist ja ein bestens geeig­neter Platz.“

Ohne einen Anflug von Scheu zog sie sich mit einer Selbst­ver­ständ­lichkeit, als stünde kein Mann neben ihr, den sie erst seit ein paar Stunden kannte, bis auf ihren Slip aus, bereitete sich mit den Kleidern einen Liege­grund, schob ihre Tasche als Kopfkissen zurecht, legte sich bequem und entspannt hin und genoss die warmen Strahlen der Frühlingssonne.

Hirschberg war zwar nicht verdattert wie ein Pennäler, aber wohl fühlte er sich auch nicht. Früher hätte er sicher einen roten Kopf bekommen und die Frau für verrucht gehalten. Doch das lief alles so natürlich und von ihr aus völlig unero­tisch ab, dass er sich einge­stehen musste: Das Problem liegt bei mir. Er löste es, indem er sagte: „Ich sehe mich noch etwas um.“ – „Okay.“

Er stieg wieder nach oben und weiter zum letzten der Häuser. Es hatte keinen eigenen Zugang zum Wasser. Sein Zustand war ziemlich herun­ter­ge­kommen. Zu seiner Überra­schung fand er die Tür zu einem kleinen zugehö­rigen Innenhof offen. Die Tür von dort ins Haus war ebenfalls offen. Vielleicht war einer drin. Er klopfte, rief „Hola!“ Es blieb still. Er wagte sich hinein. Ein paar Stufen führten nach unten in einen Felsenraum. Neben einem abgedeckten Wasser­re­servoir eine Kochanlage: Auf zwei kniehohen behauenen Steinen lag eine Eisen­platte, rechts und links darauf Randsteine, auf die die Kessel gestellt wurden. Alles in eine Nische gebaut, an deren Rückwand oben eine handgroße Öffnung nach draußen führte. Wände und Decke waren schwarz von Ruß.

Einen Tritt weiter nach unten ein Raum ebenfalls ohne befes­tigten Boden auf dem felsigen Unter­grund, der wohl das „Esszimmer“ war: ein Holztisch mit Bänken, ein Fenster. Über eine schmale Treppe kam er ins Oberge­schoß: zwei kleine Schlaf­zimmer mit jeweils einem Bettge­stell aus Eisen auf nacktem Beton­boden. Noch eine Treppe: ein weiterer Raum voller Matratzen. Alle drei Schlaf­räume hatten jeweils ein Fenster. Hirschberg überlegte, ob er die Persianas öffnen sollte – der Ausblick war ja sicherlich der größte Luxus hier. Er öffnete: Ein grandioser Blick über die Bucht auf das Meer hinaus.

Wieder draußen stieg er einige Meter einen Hang hinauf, um auf ein kleines Plateau zu gelangen. Zum Meer hin erhob sich nochmals eine Felsfor­mation. Er durch­querte die mit Büschen bestandene Ebene und sah an deren Ende auf eine zweite Bucht herab. An einem immer steiler werdenden Felshang ging er so weit hinunter, bis er die Bucht, deren Wasser türkis­farben herauf schim­merte, einsehen konnte. Sie lief an einem breiten weißen Sandstrand aus. Am Fuß der steil zum Strand abfal­lenden Felswand eine Höhle. Wenn das kein Traum­strand war!

Als er zurückging, sah er Katha auf sich zukommen. Sie hatte die Kleidung gewechselt. Zuvor war sie mit Rock, Bluse und Leder­jacke bekleidet, jetzt: Weißer Pulli, darüber einen leichten Pullover geworfen, blaue Jeans, Turnschuhe, die Sport­tasche über die Schulter. Eine schöne Frau, kein Zweifel. Als sie sich trafen, fasste sie seine Hand. Er drückte sie. Es schien ihm, als wolle sie sich anlehnen – nur andeutungsweise.

Hirschberg: „Genug Sonne?“

„Es kamen Leute.“

„Ich würde gerne da noch rauf.“ Er deutete auf den Berg zum Meer hin.

„Dann sehen wir doch, ob das geht.“

Sie ging voraus. Und tatsächlich gab es einen Aufgang. Jetzt hatten sie einen herrlichen Rundumblick.Er wagte sich an die Kante zum Meer vor, um zu sehen, wie steil es nach unten ging. Sie blieb in sicherer Entfernung. Es war bis zum Wasser hinunter ein glatter Abbruch. Um nicht doch schwin­delig zu werden, kam er zurück. Dann nahm er einen faust­großen Stein und schleu­derte ihn weit hinaus. Es war weder zu sehen noch zu hören, ob er ins Meer fiel.

Katha: „Hier geht es besser, zumindest kann man sehen, wo der Stein ankommt; sicher nicht im Wasser.“

Sie zeigte auf eine andere Stelle, wo der Berg in Stufen nach unten abfiel und das Unter­ge­lände nicht von einer Kante verdeckt wurde. Er nahm wieder einen Stein und warf ihn hinunter. Es stimmte, allzu weit kam er nicht, schon gar nicht bis zum Wasser. Sie hatte ihre Freude an dem Spiel des älteren Mannes: Da steckte auch noch ein kleiner Junge drin.

Auf dem Rückweg, kurz vor dem Haus, das er offen gefunden hatte, blieb sie stehen: „Ich will dir etwas verraten – eigentlich wollte ich es für mich behalten, damit du nichts Falsches denkst – hier habe ich den vorigen Sommer verbracht. Ich habe dir doch erzählt, dass ich eine Einladung zum Surfen hatte. Daraus wurde nichts. Statt dessen sind wir zu sechs Leuten hier raus, vier Jungs, zwei Mädchen, in dieses Haus …“

Sie brach ab und sah ihn an.

„Jetzt habe ich du zu Ihnen gesagt. Ist Ihnen das unangenehm?“

„Wenn ich Katha zu dir sagen darf, kannst du dabei bleiben.“

„Du bist prima. Also in dem Haus haben wir gewohnt. Die Unzuläng­lich­keiten habe ich die erste Zeit gar nicht wahrge­nommen. Die Wochen waren wie ein Traum. Wir lebten wie im Paradies. Vorher war ich noch nie in einer so berau­schenden Landschaft. Dazu das Klima, abends das Konzert der Zikaden, das Plätschern des Wassers; wir schliefen unter freiem Himmel, hier oben. Wenn wir Lust hatten, gingen wir auch bei Mondschein baden. Ich wünschte mir, nie mehr hier weg zu müssen. Verstand war nichts, Gefühl war alles. Aber nach und nach merkte jeder von uns, dass er noch andere Bedürf­nisse hat, beispiels­weise hin und wieder gerne duscht, nicht nur Obst, Suppen und Brot mag und auch schon mal die Klamotten wechseln möchte. Wir versuchten diese Dinge über die Nabel­schnur zur Zivili­sation, wie wir es nannten, zu regeln: Die Eltern von einem der Jungs haben hier in der Nähe eine Finca und in irgend­einer der Buchten ein Boot. Dieses Boot hatten wir zur Verfügung. Wir besorgten damit unsere Einkäufe, gingen zur Finca zum Duschen und wuschen unsere Wäsche.“

„So kann man doch eine Weile leben!“, meinte Hirschberg gespielt.

„Kann man. Aber dann kamen wir unter­ein­ander nicht mehr klar. Es fielen ja auch Arbeiten an. Wir Mädchen waren nicht gewillt, die Dienst­mädchen für die Jungs zu machen. Die wiederum waren nicht fähig oder bereit, Hausar­beiten wie Sauber­machen und Kochen wenigstens zu einem angemes­senen Teil zu übernehmen. Einer von ihnen spielte sich schließlich als Boss auf und versuchte, Arbeits­zu­tei­lungen einzu­führen. Den haben wir gegen die Wand laufen lassen. Zwei der Burschen wurden mir gegenüber immer zudring­licher. Es gab Zoff. Bald darauf, als wir gerade wieder zum Duschen und Waschen auf der Finca waren, meinten die Eltern, ob wir Mädchen nicht lieber im Gartenhaus wohnen würden. Wir nahmen mit Freuden an.“

Sie hatten sich gesetzt. Sie fuhr fort: „Mit den Eltern fuhren wir dann per Auto oder Boot hierher. Der autoritäre Typ war ausge­stiegen. Eines Tages kam er mich besuchen, um mir zu sagen, in einer Sport­anlage bei Cala Ratjada sei der Job einer Tennis­leh­rerin frei. Außerdem wollte er mit mir über die misslungene Aktion ‘Paradies-Urlaub’ – wie er es nannte – reden. Er wollte sich vor mir recht­fer­tigen. Einer hätte das Kommando ja übernehmen müssen. Dass er vielleicht nicht die passende Art gefunden hätte, konnte ich ihm nicht klar machen. – An das alles habe ich mich eben erinnert.“

Sie standen auf und stiegen hinauf zum Auto. Während er den Wagen aufschloss, sagte er zu ihr herüber: „Es gibt kein Paradies auf Erden.“

Auf der Rückfahrt nach Palma waren beide schweigsam. Sie hatten das Gefühl, viel geredet zu haben. Schließlich kam Hirschberg auf eine Äußerung von ihr zurück: „Warum wolltest du mir das nicht erzählen? Was hätte ich missver­stehen können?“

Sie zögerte. Dann: „Die Geschichten solcher Ausstei­ger­gruppen sind ja nicht unbekannt. Da wird viel geredet. Und man kommt schnell in Verruf. Deshalb erzähle ich eigentlich nicht darüber.“

Mehr wurde nicht gesprochen. Hirschberg überlegte, wie die Episode zu beenden sei. Sie noch zu etwas einladen? Nein, es war schon später Nachmittag und er war müde. Adres­sen­aus­tausch? So wie man früher Bekannt­schaften, die man auf Reisen gemacht hatte, zuhause fortsetzen wollte, aber nie tat? Nein, was sollte schon daraus werden? Sie lebten in verschie­denen Welten. Sie hätte seine Tochter sein können. Er würde sie in Palma absetzen, wo immer sie wollte. Und das war’s dann.

Sie überlegte Ähnliches, nachdem sie mit ihren Gedanken vom Sommer letzten Jahres wieder ins Heute zurück­ge­kehrt war. Würde Jo, würde Herr Hirschberg sie noch auf einen Drink einladen? Mit dem Bus nach Cala Ratjada würde das noch hinkommen. Sollte sie ihm ihre Adresse geben und bitten, sie doch mal anzurufen? Sollte sie ihn um seine Adresse bitten? Sie beschloss, ihm die Initiative zu überlassen, sie wollte sich nicht aufdrängen.

Als sie am Flughafen vorbei­fuhren, sagte er: „Ich fahre jetzt gleich weiter nach Santa Ponça. Wo musst du hin?“

„Ich muss zur Plaza España. Aber wenn du es eilig hast und über die Cintura fahren willst, kannst du mich an einer der Ausfahrten stadt­ein­wärts absetzen.“

„Ich fahre dich zur Plaza España. Soviel Zeit habe ich. – Es war ein schöner Tag mit dir.“

„Mir hat es auch gefallen.“

Beide zogen sich hinter Höflich­keiten zurück, um in ihre Lebens­si­tuation zurück­zu­kehren. Sie hüteten sich vor weiteren Worten. Keiner wollte eine trüge­rische Hoffnung wecken, keiner die Erinnerung an diesen Tag durch eine falsche Bemerkung trüben.

In Nähe der Plaza España fand er einen Halte­platz; sie gab ihm die Hand, sagte

„Danke­schön“, er sagte, „Danke dir, Katha“, sie holte ihre Tasche vom Rücksitz – aber dann beugte sie sich nochmal ins Auto über den Beifah­rersitz und gab ihm einen schnellen Kuss auf die Backe. Tür zu. Weg war sie.

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