14.
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Unvollkommenheit

… nichts richtig und nichts gründlich … lange nicht mehr in der Kirche
gewesen … eher abstoßend als beglückend … wir alle tragen Verantwortung

Katha gab ihr Studium auf. Mit Hirschberg besprach sie, in welchem Umfang und mit welchen Zielen sie ihre Arbeit in Mettmann weiter fortführen solle. Auch fragte sie ihn, ob er bestimmte Erwar­tungen habe, etwa wie viel Geld sie in ihre Gemein­schaft einbringe. Er: Das wäre gar nicht nötig. Denn mit seiner Arbeit könne er für sie beide genug Geld verdienen. Worauf sie sich seiner Meinung nach jetzt konzen­trieren solle, sei die Entwicklung von Eigen­stän­digkeit, die sich nicht auf einen Beruf stütze, sondern auf das Gefühl von Selbstwert.

Was er damit meinte, war ihr unklar. Aber statt nachzu­fragen, wurde sie konkret: In Mettmann wolle sie versuchen, mehr Organi­sa­ti­ons­auf­gaben zu bekommen, und parallel dazu würde sie sich gerne mit seiner Arbeit vertraut machen, um nach und nach die Büroarbeit übernehmen zu können. Das fand er hervor­ragend. Er bekam einen Lehrling. Er empfahl ihr IHK-Lehrgänge zu besuchen und die erlangten Quali­fi­ka­tionen sich zerti­fi­zieren zu lassen.

Denn aus ihrer bishe­rigen Zusam­men­arbeit wusste er, dass sie zwar schnell begriff, aber seine Arbeits­in­halte für sie unbekannte Dörfer waren. Auch ihr Arbeitsstil war nicht gerade profes­sionell. Sie zeigte zwar Bemühen, aber über gute Anfänge kam sie nicht hinaus. Sie konnte nicht lange bei einer Sache bleiben. Etwas gründlich durch­ar­beiten und zu Ende bringen, machte ihr Schwie­rig­keiten. Auch mit dem Ordnung halten hatte sie Probleme. Es ging ihr beispiels­weise völlig ab, Dinge konse­quent wieder dahin zu legen, wo sie diese herge­nommen hatte. Dann musste er suchen.

Das alles war für ihn schwer zu ertragen. Denn im Laufe der Jahre hatte er eine zeitspa­rende Ordnung entwi­ckelt. Er konnte, als Frau Michalski noch seine Sekre­tärin war, diese von auswärts anrufen und ihr präzise sagen, wo in welcher Akte welche Blätter zu finden waren, von denen er eine Kopie brauche, die sie ihm ins Hotel faxen solle.

Zwar hatten Katha und er vereinbart, alles was Unmut auslöse, gleich zu besprechen, aber mit dem Thema Ordnung wartete er. Vielleicht war das ja nur ein anfäng­liches Problem. Außerdem wollte er nicht dauernd meckern und herum­nörgeln. Aber es war kein anfäng­liches Problem, es war eine ihrer Gewohn­heiten. Er ging dazu über, bei wichtigen Dingen, sie zu bitten, bestimmte Prinzipien einzuhalten.

Beispiel: Wenn sie einen Termin für ihn machte und in seinen Organizer eintrug, sollte der Organizer zurück an seinen Platz und die aktuelle Tages­seite sollte wieder aufge­schlagen sein. Seine Termin­liste wollte er immer erstens auf dem aktuellen Stand haben und zweitens an einer bestimmten Stelle seines Schreib­tischs vorfinden. Das gelang ihr nur mühsam. Denn sie war leicht abzulenken. Kam ein Telefon­anruf dazwi­schen, vergaß sie, da weiter zu machen, wo sie unter­brochen worden war.

Natürlich merkte Katha, dass Hirschberg sie kritisch beäugte und mit ihrer Arbeit nicht zufrieden war. Sie sprach das an und bat um Nachsicht. Er bekannte, dass es ihm schwer falle, ihre dilet­tan­tische Arbeits­weise zu ertragen. Aber er sehe, wie sie sich bemühe, und vielleicht sei er ja auch etwas pedan­tisch. Er bat sie, seine Ordnungs­systeme und Vorge­hens­weisen zu übernehmen und ihn zu fragen, wenn sie den Sinn nicht erkennen könne. Er bat sie auch, das nicht nur im Büro, sondern im ganzen Haus zu tun. Um ihr dabei zu helfen, gewöhnte er sich an, still­schweigend an seinen Ort zurück­zu­legen, was immer im Haus er nicht an seinem Platz fand. Auch machte er die Lampen aus, die er angelassen fand, ohne dass noch Licht im Raum gebraucht wurde, etwa im Badezimmer.

Es kam ein Wochenende, an dem Katha zu einem von ihr organi­sierten Turnier in Mettmann war. Hirschberg mochte es sich zunächst nicht recht einge­stehen, aber dann gab er sich selbst unumwunden zu, dass er das derzeitige Alleinsein genoss. Er ließ die vergan­genen Wochen nochmal vorbei ziehen. Sein Leben hatte sich grund­legend verändert. Das Alleinsein hatte ein abruptes Ende gefunden. Der Mensch, mit dem er jetzt Tisch, Bett und Büro teilte, war keine ebenbürtige Ergänzung, sondern hatte ihn zum Lehrmeister gemacht. Wenn er es nüchtern betrachtete: Katha konnte nichts richtig und nichts gründlich. Er rutschte in eine eiskalte Beurteilung der Situation.

Sie hatte keine berufs­fähige Ausbildung. Im Elternhaus hatte man ihr weder eine eheliche Gemein­schaft vorgelebt, noch die Verbun­denheit einer Familie geschaffen. An Fähig­keiten zur Lebens­tüch­tigkeit hatte man ihr nur wenig vermittelt. Motto: Kinder­garten und Schule sind dafür verant­wortlich, dass Kinder durchs Leben kommen. Eltern sind zuständig für Essen, Bekleidung, Behausung und Vergnügungen.

Aber er hatte diese Frau gehei­ratet. Warum eigentlich? Warum hatte er seinen Gefühlen nachge­geben? Was hatte er erwartet? War alles, was ihn jetzt an ihr störte, vorher unsichtbar gewesen? Erwachte er aus einem Traum?

Er stellte fest: Wegen ihrer Lebens­tüch­tigkeit hatte er sie nicht gehei­ratet. Was war es dann? Er war drauf und dran, in Panik zu verfallen. Sollte er das Ganze nicht jetzt endlich beenden? Um sich auf Abenteuer einzu­lassen, war er zu alt. Er atmete tief durch, ließ den bestür­zenden Gedanken einige Momente ihren Lauf und sagte dann laut in den Raum: „Du hast sie akzep­tiert als großar­tigen und einma­ligen Menschen, so wie sie ist! Du liebst sie so, und nicht anders.“

War das nicht das Geheimnis jeder wahr und zutiefst empfun­denen Ehe, dass die Partner sich gegen­seitig als Personen so annahmen, wie sie waren – nicht als kalku­lierbare Zweck­ge­stalt. Eltern urteilten berechnend, wenn sie abschätzten, ob sich ihr Sohn oder ihre Tochter in den richtigen Partner verliebt hatten. In manchen Gesell­schaften unter­warfen die Eltern ihre Kinder noch heute dem Kalkül der Nützlichkeit, wenn sie an Stelle ihrer Kinder die Eheschlie­ßungen bestimmten.

Und von wegen Unfähigkeit – so misslich, wie es ihm vor ein paar Minuten noch schien, war es nun keineswegs. Sie hatte einen gesunden Menschen­ver­stand, keine Flausen im Kopf, war ungewöhnlich feinfühlig, konnte gut beobachten, hatte sicheres Gespür für Situa­tionen und Menschen. Hatten sie nicht inter­es­sante Gespräche geführt? Hatte sie in Rio irgendeine Schwäche gezeigt, sich eine Blöße gegeben? Hatte sie sich nicht als standfest erwiesen, als ihre Mutter ihn ihr ausreden wollte und unter Druck setzte? Hatte sie ihm gegenüber nicht wohl überlegt ihre Entscheidung vertreten? Sie war ein großar­tiger Mensch. Er konnte sich glücklich schätzen, sie an seiner Seite zu haben.

Katha rief an: Gleich sei die Sieger­ehrung, dann komme sie sofort nach Hause. Alles sei gut gelaufen. Hirschberg dachte nach dem Auflegen des Hörers, wie gut es war, wenn junge Menschen zum Sport fanden. Das konnte vieles ausgleichen, was in der Erziehung der Eltern versäumt wurde. Bei Katha war das ganz sicher so.

Am Abend besprachen sie, wie es zur Regel geworden war, die Arbeit der kommenden Woche. Hirschberg hatte viele Außen­termine. Katha würde zuhause sein und im Büro arbeiten. Er bat sie, einen längeren Text in den Computer einzu­geben. Das war eine Gelegenheit für sie, das Tippen mit zehn Fingern zu üben. Denn bisher hatte sie nur zwei oder drei Finger benutzt. Ein Lehrheft dazu hatte Hirschberg aus einem Ablage­karton heraus­geholt. Außerdem hatte er noch ein paar Recherchen-Aufträge für sie.

Am Ende der Bespre­chung sagte sie ihm, zum Frauenarzt gehen zu wollen. Zwar sei ihre Periode immer unregel­mäßig, aber jetzt dauere es schon etwas sehr lange. Da wolle sie sich Gewissheit verschaffen. Ob er einen Frauenarzt in Bonn kenne oder von einem wisse.

Gleich am nächsten Morgen rief er Frau Michalski an. Weil sie sich länger nicht gesprochen hatten, erzählten sie sich erst einmal Neuig­keiten. Hirschberg erzählte von seiner neuen Sekre­tärin, da sie ihn ja habe sitzen lassen. Damit ihm das nicht noch einmal passiere, habe er sie auch gleich gehei­ratet. Sie würde sie kennen. Es sei jene Katha, die von Mallorca aus angerufen habe. Vielleicht erinnere sie sich. Ein guter Frauenarzt sei gefragt. Sie scheinen ja aufs Ganze gegangen zu sein, meinte sie. Frauenarzt? Ja, da könne sie dienlich sein. Er hatte noch eine Frage: Ob sie eine katho­lische Kirche mit einem guten Prediger wisse? Nein, da könne sie nicht helfen. Sie und ihr Mann seien zwar katho­lisch, aber sie gingen schon lange nicht mehr in die Kirche.

Hinter­grund seiner Frage war: Nach einer der abend­lichen Lesungen aus der Bibel, die ihnen mittler­weile zur Gewohnheit geworden waren, äußerte Katha den Wunsch, eine Messe zu besuchen. Sie waren in die Pfarr­kirche gegangen. Aber der Gottes­dienst, insbe­sondere die Predigt, waren so enttäu­schend, dass sie beschlossen, auf die Suche nach einem anderen Gottes­dienst zu gehen. So hatten sie schon eine ganze Reihe von Gottes­diensten besucht. Katha kam es vor allem auf die Predigt an. Sie wollte immer in einer der ersten Reihen sitzen, um aus der Nähe hören und sehen zu können.

Im Elternhaus hatte sie keine religiöse Erziehung bekommen. Ihre Erstkom­munion war eher fremd­be­stimmt, weil ihre Klassen­ka­me­ra­dinnen daran teilnahmen. Der Vorbe­rei­tungs­un­ter­richt durch eine Katechetin hatte sie nicht beein­druckt. Katha war eine Neuheidin.

Hirschberg hatte sie mit den Bibel­le­sungen und seinen Anschau­ungen über Religion und Kirche jedoch neugierig gemacht. Sie wollte Genaueres wissen. Alles ging bei ihr aber nur über den Verstand. Sie wollte es einsehen können. Sie war bereit, die gängigen Vorur­teile der Kirche gegenüber zurück­zu­stellen. Wie war Kirche wirklich? Brauchte man sie überhaupt? Hirschberg konnte ihr einiges sagen. Er berichtete von seiner Organi­sa­ti­ons­be­ratung in einem Generalvikariat.

Wie Kirche heute sich vorort in den Pfarreien abspielte, das wusste er nicht. Also fuhren die Beiden, dieses Zweige­ne­ra­tio­nenpaar, nach ihrem sonntäg­lichen Frühstück zu der einen oder anderen Kirche im Großraum Bonn. Vorab versuchte Katha, im Internet über die einzelnen Gemeinden etwas in Erfahrung zu bringen. Er bemühte sich, diese Gottes­dienste nicht wie ein Angebots­ana­ly­tiker oder Kommu­ni­ka­ti­ons­trainer wahrzunehmen.

Doch das war schwierig. Denn es handelte sich ja nicht nur um ein Sakrament in Form von einem verfrem­deten Mahl, sondern es sollte auch eine Botschaft vermittelt werden, eine Frohe Botschaft. Nur über die zeitgemäße Verkün­digung dieser Botschaft gab es den Zugang zu diesem und zu den anderen Sakramenten.

Kein Zweifel: Ein Suchender würde in den Gottes­diensten, die sie besuchten, nicht für den katho­li­schen Glauben entflammt werden. Er würde nicht verstehen, was sich da tat, was da ablief. Die Atmosphäre würde ihn eher abstoßen als begeistern. Der Kirchenbau der Pfarr­ge­meinde, deren Gottes­dienst sie heute besuchten, war sogenannte Backstein­gotik. Der Innenraum in seiner Gestaltung ein Sammel­surium vergan­gener Jahrzehnte, etwa die moder­nis­tische Darstellung des Kreuzwegs und die Kinder­bilder aus dem Religi­ons­un­ter­richt der Grund­schule. Die Beicht­stühle fanden beide abstoßend. Die Kanzel war ein depla­ziertes Relikt. Warum gab es sie noch? Geschmacklose Leuchten mit kaltem Licht. Die Kirchen­bänke hart und unbequem geformt. Die Besucher waren vorwiegend ältere Menschen und nur wenige Männer. Drei Viertel der Plätze waren leer.

Was lief ab? Zwei Messdiener und ein älterer Priester kommen aus der Sakristei. Einer der Messdiener läutet die Glocke neben der Sakris­teitür. Die Gottes­dienst­be­sucher erheben sich. Die Messdiener tragen so eine Art Büßer­gewand mit Kapuze und Strick um die Hüfte. Außerdem: der eine trägt Adidas­lauf­schuhe, der andere Sprin­ger­stiefel. Der Priester geht zum Altar, bekreuzigt sich und spricht dazu: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Dann: „Der Herr sei mit Euch!“ Es folgt ein Eingangs­gebet. Schuld­be­kenntnis. Bitte um Erbarmen. Der Priester wirkt nicht sehr präsent. Ist er krank? Zu den Anwesenden nimmt er keinen persönlich anspre­chenden Kontakt auf, weder mit seinen Worten, noch mit Gesten, noch mit Blicken. Er spult die Liturgie ab.Das Gloria murmeln die Anwesenden gemeinsam. Wer den Text nicht kennt, wird nur hin und wieder eines der Worte erkennen. Zur Lesung kommt eine Frau mittleren Alters in einem blauen Anorak ans Pult. Hirschberg fällt ein: Das Pult wird Ambo genannt. Da die Frau klein von Statur ist, zieht sie das Mikrofon zu sich herunter. Ohne die Menschen vor sich auch nur einen Moment anzusehen, liest sie den Text ohne Betonungen und in einem gleich­blei­benden Tempo ab. Danach geht sie in sich gekehrt schnellen Schritts wieder zu ihrem Platz zurück.

Der Priester erhebt sich von seinem Polster­sessel an der Seite des Altars und geht zum Ambo. Er liest das Evangelium vor. Was schon vorher auffiel, wird jetzt unangenehm deutlich: Er nuschelt. Auch jetzt kein Kontakt zu den Zuhörern. Hören sie zu? Können sie etwas verstehen? Oder sind das seit Kindheit vertraute Texte, die sie kennen, ohne sie nochmal aktuell aufzu­nehmen? Hin und wieder blickt der Priester auf, ihm ist der Text vertraut, aber er sieht über die Anwesenden hinweg. Schluss­formel: „Evangelium unseres Herrn Jesus Christus.“ Hirschberg ist versucht, aufzu­springen und den Mann anzubrüllen: „Noch mal von vorne! Langsam und deutlich! Sieh uns dabei an! Verkün­digen sollst du das Evangelium, nicht runter­lesen wie ein Murmelgreis!“

Die Predigt liest der Priester vom Blatt. Jetzt wendet er sich seinem Publikum hin und wieder zu. Aber die Zuhörer, an die er sich wendet, sind gar nicht in der Kirche. Denn er schimpft in einem großen Lamento auf die Menschen, die dem Konsum verfallen sind, die Gottes Gebote missachten, die sich in Sünde von der Kirche entfernt haben. Dazu bemüht er Bibel­worte wie die Attacke Jesu gegen die Händler im Tempel. Auch die Geschichte vom „reichen Jüngling“ zitiert er. Die scharfe Verur­teilung des Ehebruchs durch Christus fehlt nicht. Die Ehebre­cherin, die mit einer Ermahnung davon kommt, bleibt unerwähnt. Die alte Schule: Den Menschen ins Gewissen reden.

Hirschberg schaltet ab. Er überlegt sich, ob der Mann, der vermutlich schon im Pensi­ons­alter ist, privat nicht ein ganz netter Mensch sein könnte. In der Rolle hier aller­dings war er fehl am Platze. Nach der Predigt folgt eine kurze Pause. Dann spricht die Gemeinde das Credo – in gleicher Art wie das Gloria. Es schließen sich die Fürbitten an. Die Frau von vorhin kommt wieder nach vorne. Hinzu kommt noch ein Mann aus einer anderen Reihe. Sie lesen sich abwech­selnd die Fürbitten: „Für alle, die das Wort Gottes verkünden.“ Hirschberg korri­giert in Gedanken: „ … die das Wort Gottes verkünden sollten, aber es nicht tun.“ „Für die Mächtigen der Erde, die Verant­wortung tragen für den Frieden.“ Hirschberg betet laut mit: „Christus, erhöre uns.“ Und er denkt: „Nicht nur die Mächtigen, wir alle tragen Verant­wortung für den Frieden.“

Der Priester wechselt zum Altar, die Eucha­ris­tie­feier beginnt. Das Vater­unser nach der Wandlung beten Hirschberg und Katha mit. Es freut ihn, dass Katha das Vater­unser beten kann. Danach das Friedens­gebet, an dessen Ende der Priester dazu auffordert: „Gebt einander ein Zeichen des Friedens und der Versöhnung!“ Katha und Hirschberg wenden sich einander zu, sehen sich an, er nimmt sie in die Arme. Dann wenden sie sich den anderen Gottes­dienst­be­su­chern in ihrer Umgebung zu und geben ihnen die Hand. Hirschberg gefällt diese Geste des Händer­ei­chens, sie stellt wenigstens für einen Moment Gemein­schaft her. In Pastor Schullers Crystal Cathedral, so hatte er es im Fernsehen öfter gesehen, stand ein solcher Akt am Anfang jeden Gottes­dienstes, die Besucher reichten sich die Hand mit den Worten: „God loves you and so do I.“

Die Kommunion wird ausge­teilt. Anschließend das Reinigen des Messkelchs und Aufräumen des Altars. Schluss­gebet. Der Priester geht noch einmal zum Pult und gibt einige Veran­stal­tungs­hin­weise. Auch das geschieht völlig unper­sönlich. Man kann nur zu dem Schluss kommen, der glaubt selbst nicht daran, dass jemand Interesse an einer dieser Veran­stal­tungen haben könnte. „Näheres entnehmen Sie bitte unserem Pfarr­brief!“, war der Abschluss. Zurück zum Altar. Segen. Entlassung. Abgang in die Sakristei.

Kirchenversagen

… Menschenverständnis: „Hirten und Schafe“ … Gottesdienst: eine langweilige
Museumsveranstaltung … Führungsstil: abgehobener Männerkult

Draußen vor der Kirchentür sahen sich Hirschberg und Katha an. Sie sprachen kein Wort und doch wusste jeder vom anderen, was er dachte. Sie fuhren an die Ahr, zur Lochmühle, um dort Mittag zu essen. Während sie auf ihr Gericht warteten, kamen sie dann doch auf den am Vormittag erlebten Gottes­dienst zu sprechen. Hirschberg äußerte Verständnis für den Priester, der zu einer Generation gehöre, die größten­teils noch in einem katho­li­schen Milieu aufge­wachsen sei. „Religion, das kann man doch nicht an einem Milieu festmachen“, meinte Katha.

„Du hast recht. Milieus bilden sich und lösen sich wieder auf. Glauben muss sich im Zeugnis manifes­tieren. Aber bevor ich mein Zeugnis gebe durch die Art und Weise, wie ich mein Leben gestalte, ist es notwendig, erst einmal zum Glauben zu finden. Und dabei sind Milieus, in denen Glauben gelebt wird, äußerst hilfreich. Wenn du in einer gottlosen Umgebung aufwächst, weißt du über Glauben höchstens vom Hören­sagen. Glauben wird vermittelt. Von den Eltern, von der Nachbar­schaft, von der Schule, von der Pfarrei als der örtlichen Präsenz der Kirche. Wenn das alles zusam­men­kommt, entsteht Milieu.“

„Aber dieses Milieu, von dem du sagst, dass es einmal vorhanden war, existiert heute nicht. Also haben die Menschen keine Chance, zum Glauben zu kommen.“

„Der Faden ist gerissen.“

„Und die Kirche nimmt das einfach so hin?“

„Sie ist ratlos wie der Professor, dem die Studenten wegge­laufen sind und der verzweifelt ausruft: Dabei halte ich seit 30 Jahren dieselbe Vorlesung! Bei der Kirche sind es weit mehr als 30 Jahre.“

„Warum tragen die Priester diese vermutlich histo­ri­schen Gewänder?“

„Gefallen sie dir nicht?“

„Ich weiß nicht, was das soll. Es hat sicher etwas mit Tradition zu tun. Aber auf mich wirkt das eher wie Folklore.“

„Was heute amüsant und erschre­ckend zugleich war, konntest du an der Kleidung der übrigen Mitwir­kenden sehen. Amüsant die Adidas-Schuhe bei dem einen und die Sprin­ger­stiefel bei dem anderen Messdiener im Kontrast zu den Kutten, die sie trugen. Der Anorak der Frau war unpassend, stand im Wider­spruch zu dem feier­lichen Pries­ter­gewand. Das Erschre­ckende: die Gedan­ken­lo­sigkeit, die in der Kleidung wie in der unkom­mu­ni­ka­tiven Art der Veran­staltung deutlich wurde. Keiner hat sich klar gemacht oder ist darauf gestoßen worden, in welcher Situation er agiert. Überkom­menes wurde abgespult, war mit ein paar Neuerungen durch­setzt, die heute üblich und von oben abgesegnet sind. Gestal­tungs­willen seitens der Akteure war nicht zu erkennen.“

„Besuchen wir weiter Gottesdienste?“

„Ich würde sagen: ja. Wir müssen uns das ja nicht jeden Sonntag antun.“

„Was würdest du denn ändern, wenn du auf die Gottes­dienst­ge­staltung Einfluss nehmen könntest?“

„Es kommt auf die Kommu­ni­kation an. Verkünden heißt kommu­ni­zieren. Und die gelingt nur, wenn Gemein­schaft herge­stellt wird. Das Altars­sa­krament ist Gemein­schaft mit Christus.“

„Was würdest du anders machen?“

„Der Priester sollte zu Beginn die Gemeinde herzlich begrüßen. Mit persön­lichen Worten, die einen aktuellen Bezug haben – und sei es nur der Verweis auf den Sonnen­schein draußen. Die Begrüßung muss Freude darüber ausdrücken, dass man zusam­men­ge­kommen ist. Das darf nicht wirken wie der Start in eine vorpro­gram­mierte, nur Einge­weihten verständ­liche Veran­staltung, deren Zeremo­nien­meister der Priester ist.“

„Also: begrüßen und Gemein­schaft herstellen.“

„Ja! Der Priester sollte mit eigenen Worten sagen, wozu man beisammen ist. Dann sollte er die Anwesenden auffordern, sich unter­ein­ander zu begrüßen. Wenn der Priester viele neue Gesichter vor sich sieht, sollte er nicht vergessen, sich vorzu­stellen, nicht nur mit Namen, sondern auch mit seiner Funktion und ein paar Worten zu seiner Person, etwa wie lange er in der Pfarrei ist, was er vorher gemacht hat.“

„Man sollte wissen, mit wem man es da vorne zu tun hat.“

„Seinen Begrü­ßungs- und Willkom­mens­auf­tritt sollte er auch nicht im Messgewand vollführen, sondern im dunklen Anzug mit Stola und Anhän­ge­kreuz darüber als Zeichen seines Amtes.“

„Und wann soll er das Messgewand anziehen?“

„Das könnte er nach seiner Begrüßung machen. Gelegentlich sollte er auch dabei erläutern, welche Tradition diesen Gewändern zukommt und welche Bedeutung die Farbe des Gewandes hat. Dann erst sollte die feier­liche Handlung des Gottes­dienstes beginnen.“

„Warum blieb die Orgel stumm?“

„Vielleicht war der Organist krank oder sie können ihn nicht mehr bezahlen. Ich weiß es nicht. In meiner Jugend wurde in der Kirche viel gesungen. Das ist eine hervor­ra­gende Möglichkeit, Gemein­schaft herzu­stellen: gemeinsam ein Lied singen. Dazu sollte nicht nur anstimmend und begleitend eine Orgel gespielt werden, sondern auch eine Bildwand im Raum stehen, auf der beispiels­weise die Liedtexte zu lesen sind. Bildwände finden heute in jeder größeren Veran­staltung Verwendung, damit alle Teilnehmer das Geschehen mitbe­kommen, nicht nur die Leute in der ersten Reihe. Dem Prediger könnte man mit einer Bildwand größere Präsenz geben. Auch wären Video­ein­spie­lungen möglich, etwa aus einer Partner­ge­meinde in der Dritten Welt.“

„Aber bitte kein Kino in der Kirche.“

„Für die Messfeier darf die Videowand nur das Geschehen unter­stüt­zende Funktion haben. Im Gottes­dienst wird ja auch kein Orgel­konzert gegeben. Auf die Begrüßung folgt das Schuld­be­kenntnis und die Bitte um Gottes Erbarmen. Hierzu wäre eine Einleitung gut, die jedem einsichtig macht, wodurch er in der vergan­genen Woche es zum Beispiel an Mitmensch­lichkeit eventuell hat fehlen lassen. Fernseh­leute kennen die Kommu­ni­ka­ti­ons­regel: Es muss ‚anmode­riert’ werden.“ Die Vorspeisen wurden serviert.

„Auf die Anrufung Gottes, er möge sich unser erbarmen, dem Kyrie, folgt das Gloria, die Lobpreisung Gottes. Jeder der Anwesenden hat das heute Morgen mehr oder weniger vor sich hin gemurmelt. Da war keine Gemein­schaft spürbar, da gab es keine hell und freudig klingenden Stimmen zum Lobpreis Gottes. Hinten in der Kirche lagen Gebet­bücher. Weißt du, welchen Titel die haben?“ „Ich habe mir eins davon angesehen. Auf dem Buchrücken steht in goldenen Lettern ‚Gotteslob’.“

„Das muss im Gloria seinen Ausdruck finden. Also: Eine Gruppe von Sängern singt mit der Gemeinde, begleitet von der Orgel oder von Musik­in­stru­menten das Gloria. Sie sind festlich, farbenfroh gekleidet, meinet­wegen in den Trachten ihrer Heimat. Das muss mitreißend sein: Gott wir loben dich, Gott wir preisen dich!“ Das Essen wurde serviert, der Wein eingeschenkt.

„Nach dem Gloria kommt die Lesung. Der Text muss ernst genommen werden. Ihn von einem Mitglied der Gemeinde vortragen zu lassen, finde ich gut. Aber der Text muss auch rüber­ge­bracht werden. Das muss sein wie in einer Dichter­lesung. Die Kleidung sollte angemessen sein: festlich, zum Lobe Gottes, zur Verkün­digung der Frohen Botschaft.“

„Lernen denn die Priester in ihrer Ausbildung nicht, wie eine Messe zu gestalten ist?“

„Die lernen die vorge­gebene Liturgie. Es hat Rom schon große Überwindung gekostet, die Feier der Messe in der jewei­ligen Landes­sprache zuzulassen. Daran kannst du erkennen, dass kommu­ni­kative Aspekte so gut wie keine Rolle spielen.“

„Bei der Predigt hast du überhaupt nicht zugehört.“

„Du etwa?“

„Ja. So wie du, einfach abschalten, kann ich nicht. Aber ich war in Versu­chung rauszu­gehen. Diese Verdammung in Bausch und Bogen war haarsträubend. Kein Wunder, dass die Kirchen leer sind. Wer lässt sich schon gerne beschimpfen? Und dann noch von einem, der ganz offen­sichtlich von der heutigen Welt keine Ahnung hat, der von meinen Problemen keinen Schimmer hat.“

„Das ist bei jungen Priestern nicht viel besser. Generell: Per Weihe kann einer Priester werden, aber damit ist er noch kein guter Prediger. Rheto­rische Fähig­keiten sind eine seltene Gabe. Die wenigsten Priester sind gute Prediger. Wenn so ein Jungpriester mit 26 oder 27 Jahren seine erste Stelle bekommt, hat er kaum Lebens­er­fahrung. Woher auch? Die können nur über Themen reden, die sie sich anstu­diert haben. Und schon haben sie ein Problem: Für die Mehrzahl ihrer Zuhörer sind sie unver­ständlich. Was können sie als Wegweisung für den Alltag denn schon sagen? Für die kompli­zierte Welt von heute haben sie Null-Kompetenz. Sie können sagen, was sie wollen, man wird es ihnen nicht abnehmen.“

Katha mahnte ihn, sein Essen nicht kalt werden zu lassen. Nachdem er seinen Teller leer gegessen hatte, fuhr Hirschberg fort.

„Die Rekru­tierung der Priester ist falsch. Man meint, man könne unter dem Stichwort ‚Berufung’ wie früher einmal aus dem katho­li­schen Milieu heraus Priester gewinnen. Aber es gibt kaum noch dieses Milieu und folglich kaum noch Priester. Vieles wird in der Kirche bis hin zum letzten Detail hoheitlich geregelt. Aber im Bereich des Pries­ter­nach­wuchses, wo seit Jahrzehnten dringender Handlungs­bedarf besteht, wo man seiner Verant­wortung für die Verkün­digung gerecht werden müsste, da zieht man sich auf die Position ‚Berufung’ zurück. Was nichts anderes heißt als: Lieber Gott, mach du das mal!“

„Und wo sollen die Priester deiner Meinung nach herkommen?“

„Aus der Gesell­schaft von heute. Mit Lebens­er­fahrung in der heutigen Welt.“

„Also keine jungen Männer mehr?“

„Priester werden sollten nur Männer, die sich als Christen entwi­ckelt und behauptet haben, sich in der Welt auskennen, wie sie ist, und nicht wie sie von Theologen zurecht gedacht wird. Dazu braucht man etliche Jahre, und dann ist man kein junger Mann mehr. Das hat es übrigens in der Kirche schon gegeben. Man sprach von ‚viri probati’, was ‚erprobte Männer‘ bedeutet.“

„Sollen diese ‚viri probati’ unver­hei­ratet sein?“

„Ihr Lebens­zeugnis ist entscheidend, nicht ihr Familienstand.“

„Aber es müssen Männer sein?“

„Die Botschaft Jesu soll jedes Mitglied der Kirche verkünden, der vertrau­ens­würdig als Person den Glauben der Kirche vermitteln kann. Jeder! Ob Mann oder Frau.“

„Also auch Frauen als Priester?“

„Priester haben den Auftrag, in der Nachfolge der Apostel die Sakra­mente zu spenden. Dazu werden sie geweiht. Um die ‚Abstammung‘ von den Aposteln klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen, um die ungebro­chene Verbindung zu den Wurzeln der Kirche in der Zeit ihrer Gründung durch Christus für jedermann sichtbar zu erhalten, um die Konti­nuität ihres Auftrags durch die Jahrhun­derte nicht aufgrund von Verir­rungen und Abspal­tungen zu ruinieren, halte ich es für wichtig, den Ursprung des Pries­tertums in der jüdischen Gesell­schaft zur Zeit Jesu unange­tastet zu lassen.“

„Also keine Frauen als Priester?“

„Der Stamm des Kreuzes wurzelt in jüdischer Erde. Der Querbalken mit den offenen Armen Jesu umfasst die Gegenwart. Verkünden ist Aufgabe aller, von Männern und Frauen. Aufgabe des Papstes und der Bischöfe ist, die Insti­tution Kirche als ‚Fels‘ zu erhalten – trotz allen mensch­lichen Versagens der Amtsin­haber. Die freiwillige Entscheidung zum Verzicht auf andere Verpflich­tungen sollte für diese Aufgabe Voraus­setzung sein, weil es ein Dienst ist, den man unein­ge­schränkt von anderen Verpflich­tungen leben muss. Priester, deren Auftrag es ist, im Dienste ihres Bischofs das religiöse Leben unter den Menschen lebendig zu halten, können je nach Aufga­ben­stellung auch verhei­ratet sein. Es geht um lebensnahe Lösungen, nicht um generelle lebens­ferne Festlegungen.“

„Du solltest Kirchen­re­former werden.“

„Auf der Organi­sa­ti­ons­ebene eines Bistums habe ich das schon versucht. Erfolglos.“

„Siehst du für die Kirche keine Chancen?“

„In der Kirche kannst du nur von oben refor­mieren oder dich abspalten.“

„Also hängt alles vom jewei­ligen Papst ab.“

„Der heutige Papst, Johannes Paul II., hat es verstanden, der Kirche globale Bedeutung zu verschaffen. Trotzdem ist die Kirche nicht in der Verfassung, den Menschen das Evangelium auf eine Weise nahe zu bringen, die sie verstehen können. Wir haben es heute Morgen erlebt. Wäre die Kirche in einer für unsere Zeit tauglichen Verfassung: Die Kirchen wären brechend voll! Warum? Jede Zeit braucht eine religiöse Orien­tierung. Die sich globa­li­sie­rende Welt braucht sie dringend. Die Katho­lische Kirche ist die einzige religiöse Insti­tution, die weder einer weltlichen Macht zugeordnet noch auf eine Weltregion begrenzt ist. Sie ist eine Weltkirche. Dieses ‚Allein­stel­lungs­merkmal‘ – wie Ökonomen sagen würden – ist Verpflichtung und Chance zugleich: Der Welt religiöse Orien­tierung geben!“

Hirschberg winkte dem Kellner und bezahlte.

Nachwuchs

… kann dir meine Familie nicht ersparen … mit Sicherheit ein Charmeur …
…tagsüber getrennte Wege … alle Mitarbeiter beflügelndes Arbeitsklima

Die folgende Woche wurde turbulent. Nicht nur weil ein Mittag­essen völlig daneben ging, Katha unvor­her­ge­sehen nach Mettmann gerufen wurde und Hirschberg Ärger mit einem Kunden bekam. Es gab auch einige Telefon­anrufe, die in Anspruch nahmen, Erwar­tungen weckten, Heraus­for­de­rungen waren oder Freude auslösten.

So meldete sich gleich am Montag Hannelore aus New York. Sie und Bob würden Ende des Monats, also in zwei Wochen, nach Deutschland kommen. Ob sie in Mehlem Quartier beziehen könnten. Na klar, sagte der Vater, noch seien die Kinder­zimmer verfügbar. Hannelore lachte und fragte: „Habt ihr es denn eilig?“ „Nein. Wir nehmen es, wie es kommt. Und wie sieht es bei euch aus?“ „Wir wollen erst unseren Standort in Deutschland gefunden haben. Dann kann das erste Baby kommen.“ Er freute sich darüber, dass sie sich in Deutschland ansiedeln wollten.

Einen unerwar­teten Anruf erhielt Katha. Ihr Bruder meldete sich. In der Regel hatten die beiden nur am Jahresende Kontakt. Dann teilten sie sich mit, was so im Laufe des Jahres bei ihnen geschehen war. Über ihre Heirat hatte Katha ihm bislang nichts zukommen lassen. Vermutlich steckte ihre Mutter hinter seinem Anruf. Sicher wollte sie etwas über ihre Tochter erfahren und hatte ihn deshalb vorge­schickt. Hirschberg hörte das Telefonat mit. Sie war freundlich, nicht abweisend, aber auch nicht gerade mitteilsam. Ja, sie wohne nach wie vor bei Herrn Hirschberg. Und sie habe den Namen geändert; sie trage jetzt den Namen Hirschberg. Das könne sie am Telefon nicht alles erzählen. Ihre Entscheidung habe sie sich reiflich überlegt.

Sie begann, auf und ab zu gehen. Hirschberg vermutete, dass er ihr Vorhal­tungen machte. Er könne die Mutter beruhigen, sagte sie. Sie sei sehr glücklich, solle er der Mutter sagen. Offenbar wollte er sie weiter ausfragen. Doch sie blockte ab. Er und seine Frau könnten sie in Mehlem besuchen. Sie blickte fragend zu Hirschberg rüber, der mit einem Kopfnicken sein Einver­ständnis gab. Einen genauen Termin könnten sie in den nächsten Tagen verein­baren. Sie werde sich bei ihm melden. Nach dem Auflegen meinte sie: „So ganz kann ich dir meine Familie nicht ersparen.“

„Das habe ich auch nicht erwartet. Irgendwann musst du auch das Verhältnis zu deiner Mutter wieder in Ordnung bringen. Ich muss mit meiner Schwester den Kontakt wieder herstellen. Dein Bruder soll mit seiner Frau ruhig herkommen. Ich stelle mich. Erinnere ich mich richtig, dass du mir erzählt hast, die hätten eine Tochter und seine Frau habe das Sagen?“

Monate lang höre man nichts von seinen Verwandten und Bekannten und dann meldeten sich alle auf einmal, stellte Hirschberg fest. Denn auch Freund Werner aus Berlin hatte sich wieder gemeldet. Hirschberg war bei seinem Anruf nicht im Haus. Katha nahm das Gespräch an. Es meldete sich seine Sekre­tärin. Als Katha erklärte, Herr Hirschberg sei nicht im Hause, hörte sie eine Männer­stimme im Hinter­grund, die sagte „Stellen Sie mal durch!“. Seine Sekre­tärin zu Katha: „Ich verbinde Sie mit Herrn Dr. Boone.“ Der wollte wissen, ob sie Hirsch­bergs neue Sekre­tärin sei. „Das auch“, sagte Katha. „Was denn noch?“, wollte er wissen. Sie, etwas kokett: „Seine Frau!“ „Ja so was! Dann sage ich Ihnen und sagen Sie ihm meinen herzlichen Glückwunsch.“

Er würde sich gerne mit Hirschberg mal wieder zusam­men­setzen. Aber das ginge leider nicht in Bonn. Wenn Hirschberg etwas in Berlin zu tun habe, wäre das am besten. Katha erwiderte, sie wisse nichts von Terminen, die Hirschberg in Berlin habe. Er bat um Rückruf, dann könne man auch über den Treff­punkt reden. Vielleicht ließe sich in Berlin etwas arran­gieren, wozu sie mitkommen könne, ein Empfang oder Ähnliches. Und dann: „Sie haben übrigens eine sehr schöne Stimme am Telefon. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?“ „Ja, mein Mann, als ich noch nicht seine Frau war. Danke für Ihr Kompliment.“ „Schade, dass der Hirschberg Sie vor mir entdeckt hat. Ich suche zwar keine Ehefrau, aber eine neue Sekre­tärin, mit einer so angenehmen Stimme, wie Sie sie haben. Ich erwarte den Rückruf.“

Als Hirschberg am Nachmittag ins Büro kam, berichtete sie über die Anrufe vom Vormittag und wollte wissen, wer denn dieser Schleimer Dr. Boone sei. „Boone ist kein Schleimer, aber mit Sicherheit ein Charmeur. Er ist Mitglied des Deutschen Bundestags. Er gehört zu den wenigen Abgeord­neten, die ihr Einkommen mit viel Energie und Arbeit in der Wirtschaft verdienen, und nicht als Angestellter im öffent­lichen Dienst oder als Beamter oder Funktionär. Er ist Unter­nehmer. Ich habe ihn bei der Ludwig-Erhard-Stiftung kennen­ge­lernt. In seiner Umgebung wird er nur Freund Werner genannt, weil er gerne die Redefloskel ‚als Ihr Freund’ benutzt. Wir treffen uns von Zeit zu Zeit, um über Wirtschafts- und Gesell­schafts­po­litik zu reden. Er meint, ich sei ein inspi­rie­render Querkopf. Wenn ich die Power hätte, die dieser Vital­brocken mitbe­kommen hat – wahrscheinlich wäre ich für meine Umgebung unerträglich strapaziös. Ich schätze ihn.“ Hirschberg versuchte, Freund Werner zu erreichen. Er sei in einer Ausschus­sitzung, hieß es.

Katha hatte ihren Termin beim Frauenarzt. Er arbeitete in seinem Büro und studierte Unter­lagen. Gespannt wartete er auf ihre Rückkehr. Als sie endlich kam, lächelte sie ihn stumm an, ging zu ihm, setzte sich auf seinen Schoß und schlang die Arme um ihn. Hirschberg dachte: Ist das ihr Vorspiel, um mich gleich zu trösten, oder will sie mich auf die Folter spannen, ehe sie mit der frohen Botschaft heraus­rückt? Schließlich kam sie mit dem Mund an sein Ohr und sagte leise: „Wir sind zu dritt!“ Sie brachen beide in Freudenrufe aus, umarmten und küssten sich.

Von dem neuen Leben in ihrem Körper spürte Katha in den ersten Wochen ihrer Schwan­ger­schaft nichts. In ihrem allge­meinen Befinden glaubte sie indes Verän­de­rungen festzu­stellen. Doch sie war sich nicht sicher. Spannung im Kopf und Nervo­sität hatte sie gelegentlich auch vorher schon gehabt. Was sich tatsächlich in ihr tat, zeigte ihr der Arzt bei ihren Besuchen auf dem Monitor seines Ultra­schall­geräts. Einer­seits entzückte sie das, was sie sah und inter­pre­tiert bekam, anderer­seits erschrak sie. Da wuchs etwas heran, zielstrebig und unauf­haltsam, das ihr Leben nachhaltig verändern würde.

Der Arzt gab ihr auch Ratschläge, wie sie sich jetzt ernähren, welche Belas­tungen sie am besten vermeiden solle und wie sie ihren Körper auf die Schwan­ger­schaft einstellen könne. Zuhause am Computer recher­chierte sie. Aus der Vielzahl der Artikel, die sie fand, druckte sie einige aus. Mehr und mehr gewann sie den Eindruck, ihre Wissens­lücke ausge­füllt zu haben. Nun beobachtete sie aufmerksam, ob denn bei ihr auch alles so ablaufe, wie es beschrieben wurde. Vorsorglich warnte sie Hirschberg und bat ihn um Nachsicht, wenn sie in der nächsten Zeit sich unaus­ge­glichen und wider­sprüchlich verhalte. Das seien Auswir­kungen der Schwan­ger­schaft. Er empfahl ihr, sich nicht übermäßig auf ihren Körper und ihre Psyche zu konzen­trieren, sondern ganz normal ihren Alltag weiter zu leben.

Einen normalen Alltag gab es indes für die beiden in den folgenden Monaten nur selten. Aus Amerika kamen Hannelore und Bob. Sie bezogen Quartier in Mehlem, waren jedoch viel unterwegs. Meistens traf man sich morgens beim Frühstück, wenn sie denn nicht über Nacht wegblieben. Hannelore schrieb sich in der Juris­ti­schen Fakultät der Univer­sität Frankfurt ein, mit dem Ziel einer Promotion. Einer ihrer bishe­rigen Lehrer hatte ihr eine Empfehlung an den Frank­furter Kollegen gegeben. Auf die Referen­darzeit mit abschlie­ßendem zweiten Staats­examen wollte sie verzichten. Statt dessen wollte sie sich auf inter­na­tio­nales Wirtschafts­recht spezia­li­sieren. Die zuneh­mende Verflechtung der Unter­nehmen rund um den Globus würde mit Sicherheit Beratungs­bedarf hervor­rufen. Zusammen mit Bob könnten sich da Möglich­keiten für eine freibe­ruf­liche Tätigkeit ergeben – so ihr Kalkül.

Bob besuchte seinen künftigen Arbeit­geber. Sein Vertrag wurde abschließend verhandelt. Was sich in Frankfurt als schwierig erwies, war das Finden eines geeig­neten Wohnhauses. Deshalb überlegten sie, ob für die erste Zeit eine Wohnung nicht ausreichen würde. Sie schal­teten eine Anzeige, verfolgten Anzei­gen­an­gebote und versuchten es auch über Makler. Aber immer gab es einiges auszu­setzen. Nach und nach schraubten sie ihre Ansprüche herunter. Schließlich mieteten sie eine kleine Wohnung in Sachsen­hausen, die in drei Monaten frei werden sollte. Von da aus würden sie weiter suchen.

Die Zielstre­bigkeit, mit der Hannelore und Bob ihre Vorhaben angingen, riefen bei Katha starke Selbst­zweifel hervor. Hirschberg tröstete sie: Der Wert eines Menschen bestimme sich nicht aus seiner beruf­lichen Karriere. Sie erwiderte: „Die beiden wissen, was sie wollen, und können deshalb ohne Umschweife ihre Ziele verfolgen. Die haben Boden unter den Füßen. Ich nicht.“

„Wir machen das gemeinsam. Wir haben drüber gesprochen. Schon jetzt sind wir ein starkes Team. Unsere Arbeit hat zwar nicht so klar erkennbare Umrisse wie die Juris­terei bei den beiden. Aber auch wir haben unsere Aufgaben.“

„Bei mir tut sich gar nichts. Im Gegenteil. Das Tennis­zentrum ist nicht mehr ausge­lastet. Zuerst haben alle geglaubt, das sei nur eine vorüber­ge­hende Flaute, aber es zeichnet sich ab, dass der Tennisboom vorbei ist. Die Geschäfts­führung überlegt, wie sich zumindest Teile der Anlage anders nutzen lassen. Für mich ist da bald keine Arbeit mehr.“

„Wir sind zu dritt. Und eine größere Aufgabe als so einen kleinen Menschen gibt es nicht.“

Sie sah ihn verwundert an: „Hast du mir nicht geraten, mich nicht zu sehr darauf zu konzentrieren?“

„Habe ich. Aber damit meinte ich, dass du dich nicht ausschließlich mit deiner Schwan­ger­schaft beschäf­tigen solltest. Bei Hannelore habe ich den Eindruck, dass der Kinder­wunsch gar nicht so groß ist, wie sie behauptet. Sie hat den Ehrgeiz, eine erfolg­reiche Juristin zu werden. Also: Das rechte Maß!“ „Du bist so ein kluger Mensch. Schade, dass nur wir Frauen Kinder bekommen können.“

Hirschberg spürte: Das war ein kleiner Hieb. Er habe gut reden, hatte sie wohl gemeint und ihm andeuten wollen, dass er das Glück habe, seine Weisheit nicht unter Beweis stellen zu müssen. Er nahm sie in die Arme und wieder­holte: „Lass uns das gemeinsam machen.“ Sie blieb passiv.

Der Besuch ihres Bruders mit Frau und kleiner Tochter stand bevor. Hirschberg und Katha hatten beschlossen, wiederum die Gelegenheit zu nutzen, ihre Kochkünste unter Beweis zu stellen. Nach dem Mittag­essen würden sie dann einen Spaziergang über den Rodderberg zum Rolands­bogen machen. Dort könnte man zu Kaffee und Kuchen einkehren.

Das Essen wurde ein Erfolg. Katha hatte Schweine-Medaillons mit einer Auflage aus rohem Schinken und Camembert sowie eine sehr leckere Bratensoße zubereitet. Hirschberg hatte sich um die Kartoffel und den Salat gekümmert; sie noch Erbsen und Möhren gedünstet. Den Nachtisch hatte sie schon tags zuvor gemacht und in den Kühlschrank gestellt: Schoko­la­den­pudding mit Vanil­lesoße. Als Getränk hatte Hirschberg einen trockenen Riesling vorgesehen.

Das Treffen verlief zunächst etwas wortkarg. Man tastete sich anein­ander heran. Hirschberg hielt sich völlig zurück. Er wollte es den jungen Leuten überlassen, worüber geredet werden sollte. Die Schwä­gerin ging schließlich in die Offensive. Sie fragte Katha, wie es denn so mit dem Studium laufe. Jetzt war Gefahr im Verzug, dachte Hirschberg. Denn Katha würde in Verle­genheit geraten, sagen zu müssen, dass sie ihr Studium aufge­geben habe. In Sachen Tennis würde sie auch keinerlei Erfolge oder Aussichten auf Erfolge vorweisen können.

Als Katha sich aus der Affäre zog mit der Antwort, Hirschberg sei sehr vielseitig beschäftigt und da arbeite sie ihm in einigen Projekten zu, stieg er ein. Er äußerte, wie froh er über ihre vielseitige Unter­stützung sei. Und dann erzählte er ausführlich über seine Berater­tä­tigkeit. Schließlich meinte er, seine Arbeit biete einem Paar die großartige Möglichkeit, auch im Beruf gemeinsam aktiv zu sein, Ziele anzustreben. In Sachen Arbeit und Geld verdienen gingen sie nicht – wie so viele Paare – getrennte Wege.

Der Bruder seufzte: „Bei uns ist das so. Wir gehen tagsüber getrennte Wege.“

Sofort nahm Hirschberg den Faden auf: „Und was für Wege gehen Sie?“

Jetzt war der Ball im anderen Feld. Immer wieder setzte Hirschberg mit Fragen nach. Heraus kamen die Karriere-Geschichten der beiden. Sie schien die steilere Karriere zu machen. Da Katha Hirsch­bergs Ansichten kannte, beobachtete sie voller Vorahnung, wie er den Gesprächs­faden spann, und fragte sich, wie deutlich er die beiden denn wohl merken ließe, dass er diese Doppel­kar­rieren für famili­en­feindlich hielte. Die ersten Fragen in diese Richtung kamen: Sie hätten vermutlich eine Putzfrau? Klar! Auch eine Haushalts­hilfe? Ja, auch. Und die Tochter habe sicherlich eine Tages­mutter? Anders wäre das ohne schlechtes Gewissen nicht zu organisieren!

Hirschberg wandte sich unmit­telbar an die Tochter, die neben ihm saß: „Du hast sehr erfolg­reiche Eltern. Und mit dir machen sie Wochen­end­aus­flüge und Ferien. Gehst du gerne zu deiner Tagesmutter?“

„Ja, die ist prima. Manchmal schlafe ich auch da, wenn meine Eltern abends erst spät nach Hause kommen können.“

„Hättest du gerne ein Geschwis­terchen? Einen Bruder oder eine Schwester?“

„Das wäre ganz schön. Dann hätte ich jemanden zum Spielen.“

Hirschberg zur Schwä­gerin: „So eine Tages­mutter ist nicht ganz billig.“

„Da geht schon einiges Geld drauf. Aber ich habe noch Glück gehabt. Denn eine gute Tages­mutter findet man kaum. Da die Frau keine eigenen Kinder hat, eine studierte Pädagogin ist, aber wegen ihrer pflege­be­dürf­tigen Mutter zuhause arbeiten möchte, hat sich für alle eine vorteil­hafte Lösung ergeben.“

„Die Frau betreut wohl mehrere Kinder?“

„Ja, muss sie. So ist unsere Kleine auch mit anderen Kindern zusammen. Nur ist da auch Fluktuation. Gerade sind die Eltern ihrer besten Freundin wegge­zogen, weil der Mann nach London versetzt wurde.“

Seine Meinung ließ Hirschberg zu Kathas Erleich­terung nicht weiter erkennen. Er sagte: „Wie wir das mal regeln werden, ist noch ungewiss. Aber Gedanken müssen wir uns darüber demnächst auch machen.“ Er sah die beiden freundlich lächelnd an und regis­trierte amüsiert, wie sie aufhorchten. Dann: „Katha ist schwanger.“ Die Köpfe flogen zu ihr rum. Die Schwä­gerin: „Du bekommst ein Kind?“ „Ja, ich bin im dritten Monat.“ Stolz schwang in ihrer Stimme mit. Hirschberg freute das.

Während des Spazier­gangs über den Rodderberg gingen sie paarweise hinter­ein­ander. Hirschberg mit der Schwä­gerin, Katha mit ihrem Bruder. Das Töchterchen pendelte hin und her. Mal nach vorne zum Vater, mal zurück zu ihrer Mutter. Und immer buhlte sie mit irgend­einer Frage um Aufmerksamkeit.

Hirschberg und Kathas Schwä­gerin unter­hielten sich angeregt über die Frage, wohin der rasante Fortschritt, den die Forscher der Menschheit bescherten, denn führen werde. Während sie immer neue Beispiele dafür brachte, wie die Menschheit von vielen Übeln befreit worden sei und noch befreit werden würde, überwog in seinen Äußerungen die Skepsis dessen, der immer auch die Kehrseite in Betracht zieht. Dennoch war er bemüht, ihren Enthu­si­asmus nicht pausenlos zu trüben, so dass sie sich des Öfteren auf eine gemeinsame Ansicht durchaus verstän­digen konnten.

Bei der Gentechnik kamen sie indes nicht überein. Während sie der Meinung war, bis auf das Klonen von Menschen könne alles frei gegeben werden, plädierte er für die Unantast­barkeit gezeugten mensch­lichen Lebens. Aber er äußerte auch seine Überzeugung, der Mensch wäre durch kein Gebot davon abzuhalten, den Homun­kulus aus der Flasche zu lassen. Seit dem Paradies wollten die Menschen schon immer wie Gott sein.

Im Ausflugs­lokal am Rolands­bogen kehrten sie ein. Alle nahmen ein Kännchen Kaffee außer Hirschberg und Töchterchen. Beide bestellten sich Kakao. Kuchen wollte keiner. Alle waren noch satt vom Mittagessen.

Auf dem Rückweg gingen sie in gleicher Formation wie zuvor. Hirschberg und Schwä­gerin nahmen das Thema des Fortschritts wieder auf. Er versuchte, das Gespräch in mehr persön­liche Bereiche zu lenken. Ihr Job sei sehr inter­essant und sie sei auch an Forschungs­auf­trägen beteiligt, aber der Arbeits­platz sei, wie heute wohl in der gesamten Wirtschaft, nicht allzu sicher. Daher bemühe sie sich, in eine staat­liche Forschungs­ein­richtung zu wechseln. Aber ihr Arbeit­geber sei doch ein solides Unter­nehmen, meinte Hirschberg. Das könne ja durchaus sein, aber man wisse nie, welche Abteilung als nächste umstruk­tu­riert, an einen anderen Standort verlagert, aufge­geben und verkauft werde. Den Aussagen der Geschäfts­führung, die ständig von notwen­diger Flexi­bi­lität rede, traue sie schon länger nicht mehr.

Er stellte ein paar präzise Fragen. Als sie darauf nicht einging, bohrte er nicht weiter nach. Sie war offenbar ein vorsich­tiger Mensch. In Unter­nehmen stieß er bisweilen auf solche Mitar­beiter, die streng darauf achteten, dass sie nicht zu viel sagten. Er ging dazu über, von seinen Erfah­rungen bei fortschritts­ori­en­tierten Firmen zu erzählen. Er brachte das Beispiel einer kleineren Firma, deren Chef es gelungen war, ein alle Mitar­beiter beflü­gelndes Arbeits­klima ständiger Erneuerung zu schaffen.

Nach einer Weile fiel ihm auf, dass sie ihrer­seits keinerlei Fragen stellte. Nur hin und wieder machte sie eine Feststellung oder äußerte sie Meinung. Sie sagte beispiels­weise, sie sei lieber in einer etwas größeren Firma beschäftigt. Auch sagte sie, Deutschland gehöre wohl nicht mehr zu den Ländern, in denen es vordringlich um Forschung und Entwicklung gehe. Wie wider­sprüchlich, dachte er: Die Lebens­si­cherheit eines Beamten haben wollen und gleich­zeitig beklagen, dass der Fortschritt in Deutschland lahmt.

Zurück in Mehlem verab­schiedete sich der Besuch. Der Bruder lud zu einem Gegen­besuch ein. Danke, tschüs, bis bald.

In der Küche wartete der Abwasch, Kehrseite gastfreund­licher Mahlzeiten. Am liebsten hätten die beiden alles stehen und liegen lassen, sich vor dem Fernseher nieder­ge­lassen und auf andere Gedanken bringen lassen, als den Nachmittag nochmal mit seinen Gesprächen während des Spülens nachzu­er­leben. Katha bedauerte, nicht sagen zu können, das macht morgen unsere Frau Soundso. Er bemerkte trocken, sie sei ja auch keine Karrie­refrau, die mit ihrem Einkommen Personal in Brot und Arbeit bringe. Sie rafften sich auf und beschlossen, noch klar Schiff zu machen.

Er räumte den Geschirr­spüler ein. Sie entsorgte die Reste, die nicht aufbe­wahrt werden konnten, spülte, was nicht in die Spülma­schine sollte.

„Bei den beiden kocht mein Bruder, wenn denn zuhause gekocht wird. Sie mag keine Haushaltsarbeit.“

„Sie ist sehr zurückhaltend.“

„Ich kann nicht viel über sie sagen. Ich kenne sie kaum. Wir haben noch nie ein persön­liches Gespräch mitein­ander geführt. Was ich weiß, hat mein Bruder mir erzählt.“

„Auf dem Hinweg haben wir ein durchaus inter­es­santes Gespräch gehabt. Aber jetzt auf dem Rückweg war sie ziemlich verschlossen.“

„Vielleicht war sie müde.“

„Mag sein. Seid ihr Geschwister euch denn etwas näher gekommen?“

„Durchaus. Wir wissen wieder mehr vonein­ander. Das ist wichtig. Sonst kommt man zu falschen Annahmen. Von unserer Mutter hatte er einiges gehört und sich völlig falsche Vorstel­lungen gemacht. Er findet dich sympathisch.“

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