15.
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Kommunikationstalent

… spontan, subjektiv, ehrlich … sein Ohr auf ihrem Bauch … 
noch keine Flitterwochen gehabt

Am folgenden Tag musste Hirschberg zu einem Kunden fahren. Er frühstückte noch mit Katha wie gewohnt, dann fuhr er los. Sie hatte nur ihren Morgen­mantel überge­zogen. Nachdem sie den Frühstücks­tisch abgeräumt hatte, ging sie wieder nach oben zurück ins Schlaf­zimmer und legte sich aufs Bett. Sonnen­strahlen erhellten das Zimmer. Sie schloss die Augen, fühlte in sich hinein. Da war es wieder: dieses sich regende Leben in ihrem Unterleib.

Nachdem es wieder ganz ruhig in ihr geworden war, stand sie vorsichtig auf, ließ den Morgen­mantel fallen und streifte den Schlaf­anzug ab. Sie stellte sich auf die Waage, dann seitwärts vor den großen Spiegel. Sie hatte ein wenig zugenommen. Von einem Schwan­ger­schafts­bauch konnte indes noch keine Rede sein, eine leichte Wölbung war zu sehen.

Sie strei­chelte ihren Bauch, auch ihre Hüften, ihre Brüste – sie gefiel sich. Beschwingt machte sie einige Tanzschritte. Sie ging hinunter in die Küche zum Kühlschrank. Einen Piccolo nahm sie heraus und stieg damit wieder nach oben. Sie öffnete die Flasche, schwang sie durch die Luft, begann erneut zu tanzen und trank dabei. „Ich trinke auf dich, mein Kleiner!“, rief sie aus. Sie wirbelte ausge­lassen durch den Raum, sang dabei. Die Flasche trank sie nicht aus, sondern schüttete den Rest über ihren Leib. Schließlich ging sie ins Bad und duschte voller Lust.

Es war schon später Vormittag, als Katha ins Büro ging. Aus dem Brief­kasten hatte sie die Post geholt, die sie jetzt an ihrem Arbeits­platz öffnete und sortierte. Den Anruf­be­ant­worter schaltete sie nicht aus. Ihr war nicht danach, Anrufe in Empfang zu nehmen. Ruhe wollte sie haben, sich ihrer Wonne hingeben. Schon auf dem Bad hatte sie ihr Hochgefühl ausgelebt, sich sorgfältig mit allerlei Wohlrie­chendem betupft und benetzt, sich geschminkt, als gehe sie gleich auf den Laufsteg. Angezogen hatte sie ein farben­frohes Kleid wie zu einer Sommerparty.

Sie setzte sich in Hirsch­bergs Lesesessel. Ihren Gedanken ließ sie freien Lauf. In ihr bahnte sich neues mensch­liches Leben seinen Weg hinaus in die Welt. Ihr war dieses Leben anver­traut. Sie war das Gefäß, der Humus, die Gebärende – die Mutter. Ihr Leib fand darin seine Erfüllung. Sie, Katha Hirschberg, bekam ihre Lebens­aufgabe. Für dieses neue mensch­liche Leben hatte sie die Verant­wortung. Was da heran­wuchs, war ausge­stattet mit dem Potential, das sie und Johannes als Teile der Geschlech­ter­kette hinein­gelegt hatten. Was für ein Mensch sich daraus entwickle, mit welchen Eigen­schaften und Fähig­keiten, was für ein Charakter sich bilde, daran würden sie, die Mutter, und er, der Vater, maßgeb­lichen Anteil haben.

Dankbarkeit und Freude stiegen in ihr auf bei dem Gedanken, dass Hirschberg der Vater war. Er war so stark und erfahren, so klug und einfühlsam. Ihr und dem Kind gab er eine Atmosphäre der Sicherheit und des Gebor­gen­seins. Nein, sie war nicht die Superfrau, die Beruf, Haushalt und Kind hätte bewäl­tigen können. Mochten andere Frauen ihr in ihrer totalen Selbstän­digkeit überlegen sein – ihr war es so lieber. Dieser Winzling in ihr, der sich nun bemerkbar machte, der zunehmend mensch­liche Gestalt annahm, den sie in wenigen Monaten als schrei­endes und hungriges Wesen heraus­drücken würde, der hörte bestimmt schon jetzt die ruhige Stimme seines Vaters.

Jos umsichtige Fürsorge, seine unauf­fällige Nachsich­tigkeit und seine erprobte Stand­fes­tigkeit gaben ihr den Halt, sich ganz und gar auf das Abenteuer, Mutter zu werden, furchtlos einlassen zu können. So war auch sie selbst­sicher und stark.

Sie stand auf und setzte sich an den Computer, klickte sich ins Internet und gab das Suchwort „Mutter­schaft“ ein. Als sie die Fülle der Webadressen sah, verlor sie die Lust, all dem nachzu­gehen. Zu einem anderen Zeitpunkt würde sie die Infor­ma­ti­ons­an­gebote durch­sehen, die von Interesse sein könnten. Ausfindig machen wollte sie Beratungs­mög­lich­keiten und Vorbe­rei­tungs­kurse für sich, und wenn Jo mitwollte, auch für Paare. Aber das musste ja nicht heute sein. Gebären war ein natür­licher Vorgang. Warum eigentlich kamen die meisten Babys im Krankenhaus zur Welt? Eine Hausgeburt! Warum nicht?

Die Versöhnung mit ihrer Mutter kam ihr in den Sinn. Eine stille Belastung war aufgelöst worden. Auf eine neue Schiene war gekommen, was aus den Gleisen gesprungen war. Ihrer Mutter, der sie nichts verraten hatte, würde sie ein Loch in den Bauch fragen: Wie das denn bei ihren Schwan­ger­schaften war, ob es Kompli­ka­tionen gab, wie ihr Mann daran Anteil genommen habe. Zwar war heute sicherlich einiges anders als vor 25 Jahren, aber für sie war ja auch inter­essant, zu erfahren, wie die Mutter die ersten neun Monate ihrer Tochter wahrge­nommen hatte.

Sie wollte etwas über ihre aller­ersten Anfänge erfahren. Wo wohnten sie? Wie war zu dieser Zeit das Verhältnis der Eltern zuein­ander? Welchen Anteil nahm der Vater, als die Mutter mit ihr schwanger war? Hatte ihre Mutter auch Tage solcher Hochge­fühle, wie sie heute einen hatte? Gab es Freun­dinnen, mit denen sie sich über ihre Schwan­ger­schaft austauschte? Welchen Beistand hatte sie seitens ihrer Mutter? Sie wollte alles wissen!

Heute Abend würde sie ihre Mutter anrufen, ihr sagen, sie habe ihr etwas verschwiegen und erste Fragen stellen. Jo könnte am Ende des Gesprächs den Hörer übernehmen und sie zu einem Besuch einladen. Dann gäbe es viel Zeit, um ausführlich mitein­ander zu reden. War das aufregend! Warum nur lehnten heute so viele Frauen eine Schwan­ger­schaft ab? War es denn nicht die schönste und höchste Form der Selbst­ver­wirk­li­chung, sich zum kreativen Teil des Menschen­ge­schlechts zu machen! Sich mit Gebären, Nähren, Erziehen und Begleiten der nächsten Generation zu widmen!

Vom Ende des Lebens betrachtet: Was würde eine Frau eher mit Stolz erfüllen, beruflich erfolg­reich gewesen zu sein oder Kinder erzogen zu haben? Für sie galt Letzteres. Sie wollte für Jo die beste aller Frauen sein und für ihre Kinder – das war ja gerade mal das erste! – die beste aller Mütter. So gesehen, wollte sie durchaus eine Karrie­refrau sein.

Es war Mittagszeit. „Wir gehen jetzt etwas Gesundes essen“, sagte sie und ging hinunter in die Küche. Sie dünstete Gemüse, Kartoffeln und machte sich als Würze dazu aus Kräuterkäse eine Sauce. Als Getränk ein Bier. Während sie am Küchen­tisch aß, dachte sie wieder an ihre Mutter. Mit ihr würde sie gerne in den nächsten Wochen Umstands­kleider kaufen. Sie erinnerte sich an ihr Bild am Morgen im Spiegel. Was würde ihr stehen? Zweck­mäßig wäre etwas Legeres. Da die letzten Schwan­ger­schafts­monate in den Winter fielen, brauche sie warme Sachen.

Gegen Abend kam Hirschberg zurück. Er war abgespannt. Sie versuchte, sich zurück­zu­halten, um ihn nicht mit ihrer Gefühls­se­ligkeit zu überschütten. Er spürte jedoch, wie freudig erregt sie war, sie strahlte es aus. Während sie das Abend­essen zubereitete und auftischte, ruhte er sich auf der Wohnzim­mer­couch aus. Als der Tisch gedeckt war, zündete sie noch zwei Kerzen an und setzte sich dann zu ihm auf die Kante der Couch. Er nahm ihre Hand und drückte sie.

Die beiden saßen schon eine Weile beim Abendbrot, als sie schließlich fragte, wie der Tag denn gelaufen sei. Es sei nicht schlecht gewesen, aber es hätte besser sein müssen. Doch es gäbe ja immer und überall ein paar Quertreiber. Mehr sagte er nicht. Sie merkte, er wollte den Tag abhaken. Daher begann sie von ihrem Tag zu erzählen. Es sei ein wunder­voller Tag gewesen. Der Spross bewege sich jetzt immer öfter. Auch habe sie überlegt, was sie nun alles zu regeln habe.

Er fragte: „Hast du dir auch schon einen Namen für den Jüngling überlegt?“

„Das machen wir gemeinsam.“

„Aber zunächst jeder für sich. Sobald jeder fünf beisammen hat, die infrage kommen, sagen wir sie uns. Ist einer oder sind mehrere dabei, die wir uns beide vorstellen können, kommen sie auf die Entschei­dungs­liste. Haben wir zehn mögliche Namen auf der Liste, erstellen wir eine Rangfolge, die in den beiden folgenden Wochen von uns immer wieder überprüft wird. Am Ende der zwei Wochen werden die Namen auf den Positionen sechs bis zehn gestrichen. Die Vorschlags­liste wird fortge­schrieben. Stehen erneut zehn Namen in Reihen­folge zur Wahl, beginnen die nächsten zwei Wochen, und so weiter bis sich eine Nummer 1 heraus­stellt, die über mehrere Perioden die Nummer 1 bleibt.“

„Das ist ja fast schon eine Seminar­aufgabe.“ „Wir sollten uns da schon Mühe geben. Schließlich muss das Kind sein Leben lang diesen Namen tragen. Ich finde es schlimm, wenn Eltern ihren Kindern Namen verpassen, die einer Laune oder dem Zeitgeist oder einem Fanclub entspringen. Manchmal ist es auch nur ein Name aus Verle­genheit. Montag zum Beispiel.“ „Ich frage meine Mutter, warum sie mir den Namen Katharina gegeben haben.“

„Mich wundert, dass es noch keine Organi­sation gibt, die aus Gründen der Selbst­be­stimmung fordert, Kinder sollten bei Erreichen der Volljäh­rigkeit darüber entscheiden können, ob sie für sich einen neuen Namen wählen oder den von den Eltern bestimmten Namen behalten wollen.“

„Das würde aber zu einiger Verwirrung führen. Bei einem neuen Namen würde jeder fragen: Ist das der, der gestern noch Josef oder Lutz oder Benjamin gerufen wurde. Und alle Urkunden müssten neu erstellt werden.“

„Selbst­be­stimmung und Emanzi­pation haben eben ihren Preis. Aber ich glaube, die meisten Volljäh­rigen würden bei dem Namen bleiben, den die Eltern ihnen gegeben haben. Denn an den hat man sich gewöhnt. Als Kind und Jugend­licher hat man seine Identität daran festge­macht. Ich jeden­falls würde bei Johannes bleiben.“„Meine Mutter hat eine ganze Zeit lang nicht Katha, sondern Katharina zu mir gesagt. Das hat mir gefallen.“

„Auch mir hat die Langfassung meines Namens, Johannes, gut gefallen. Doch meinen Schul­ka­me­raden war das zu lang. Die haben einfach Jo gesagt. Man ist gar nicht Herr seines Namens. Selbst wenn man ihn sich selbst geben würde.“ „Meinem Vater war Katharina auch zu lang. Er hat daraus Cat, Katze, gemacht. Manchmal rief er mich: Kiss me Cat! Ein Onkel von mir sagte Käthe, das gefiel mir überhaupt nicht.“

„Gab es einen anderen Namen, den du lieber als Katharina gehabt hättest?“

„Ich hatte eine Lehrerin, die ich über alles mochte. Die hieß Elisabet. Da wollte ich lange Zeit auch Elisabet heißen.“

„Zuhause hat man wahrscheinlich nur Lisa zu ihr gesagt.“

„Eine Kollegin von ihr, mit der sie sich duzte, sagte Lisa zu ihr.“

„Meine Mutter hatte eine Schwester, die Elisabet hieß. Die wurde nur Li genannt. War eine prima Tante, immer guter Laune.“

„Li für Elisabet? Ein bisschen sehr kurz.“

„Genau so kurz wie Jo.“

„Li und Jo Hirschberg.“

„Wer dich nicht kennt, könnte auf die Idee kommen, du wärest aus Vietnam oder so.“

„Jetzt komm du nur nicht auf die Idee, unserem Sohn den Namen Ho geben zu wollen.“

„Vielleicht Kai?“

„Setz ihn auf deine Vorschlagsliste.“

Gemeinsam räumten sie den Tisch ab. Sie brachte die Küche in Ordnung, während er noch ins Büro ging, um die Post durch­zu­sehen und den morgigen Tag vorzu­be­reiten. Als er danach die Treppe runterging, kam ihm Katha von unten entgegen. Er würde gerne noch einen Spaziergang machen, das hätte sie auch gerade vorschlagen wollen. „Aber vorher noch mit meiner Mutter telefonieren!“

Heirat in der Kirche? 

… katholisch getaufte Christen … aus Überzeugung oder gar nicht … das Buch
rutschte ihm aus der Hand … Einladung nach Berlin

Stumm und sich bei den Händen haltend gingen sie am Rhein entlang. Hirschberg geriet mehr und mehr in eine Stimmung, als bewege er sich in einem Traum. Er fasste Kathas Hand fester, um sich zu verge­wissern, dass er nicht träumte. Da ging er wie ein Jüngling Hand in Hand an einem warmen Spätsom­mer­abend mit einer wunder­baren Frau den Rhein entlang; er, der seine Famili­en­phase doch eigentlich schon hinter sich hatte. Und diese junge Frau trug ein Kind in sich, das ihn erneut zum Vater machte. Ein Wunder der Schöpfung, an dem er teilhaben durfte!

Nach einiger Zeit fragte sie: „Machen wir am Sonntag wieder einen Gottesdienstversuch?“

Er äußerte Skepsis, endlich einen Gottes­dienst zu finden, der sie ansprechen würde. Dann kamen ihm jedoch selbst­kri­tische Gedanken. „Vielleicht haben wir falsche Vorstel­lungen. Die Predigt ist nicht das Wichtigste an einer Messe. Gottes­dienst ist keine Veran­staltung, die man sich nach Konsu­men­tenart aussucht, weil einem bestimmte Predigten besser gefallen als andere.“

Katha insis­tierte: „Aber es könnte doch Predigten geben, die einen eher zum Glauben führen als andere.“ „Du hast recht. Die Verkün­digung liegt im Argen. Aber die Haupt­sache eines Gottes­dienstes ist nicht die Verkündigung.“

„Was ist dann die Hauptsache?“

„Die Feier des Abend­mahls, der Kommunion.“

„Aber es findet kein Mahl statt.“

„Wie willst du in einer Kirche ein Mahl feiern? Das wird immer eine Art von Speisung.“

Katha wurde konkret: „Lassen wir unseren Sohn taufen?“ „Ich würde das wollen.“ „Und wie soll das ablaufen?“ „Ich, bezie­hungs­weise wir gehen zum Pfarramt und erklären, wir seien katho­lisch getaufte Christen, wohnten im Pfarr­bezirk und würden unseren Sprössling gerne taufen lassen.“

Sie äußerte Unbehagen: „Das kommt mir so vor, als gingen wir zu einem Veran­stalter von Zeremonien. Außerdem: Werden die auf dem Pfarramt uns nicht nach unserer kirch­lichen Heirat fragen?“ Er nahm ihren Gedanken auf, drehte ihn indes ins Ironische: „Das ist die Idee: Bei der Gelegenheit lassen wir uns auch gleich trauen. Ich im Frack, du im blüten­weißen Kleid mit Söhnchen auf dem Arm zu Hochzeit und Taufe.“

„Meinst du das ernst? Oder machst du Scherze?“

„Ich stelle mir das witzig vor.“

„Also dann bin ich dafür, dass wir beides sein lassen. Entweder aus Überzeugung oder gar nicht. Jeden­falls nicht als Farce.“

„Du hast recht Elisabet. Für Sonntag schlage ich vor: Wir fahren nach Maria Laach zur Messe. In Klöstern gibt es noch Gemein­schaften, religiöse Gemein­schaften. Mein Religi­ons­lehrer hat sogar einmal gemeint, ich in meiner ruhigen und bedäch­tigen Art könnte ein guter Benedik­tiner werden. Mit der Armut hätte ich wohl kaum Probleme gehabt. Aber mit dem Gehorsam und der Keuschheit – ich fürchte, das wäre schief gegangen.“

„Fahren wir nach Maria Laach!“

Wieder zurück im Haus gingen sie gleich zu Bett. Sie fragte, ob er ihr denn noch aus der Bibel vorlese oder ob er zu müde sei. Nein, das Lesen sollte nicht ausfallen. Ihm fiel aufgrund ihres Gesprächs über Namen das Lukas-Evangelium ein, wo von dem Priester Zacharias und seiner Frau Elisabet berichtet wurde. Das Paar war schon betagt und dennoch bekamen sie einen Sohn, der als Johannes der Täufer Hirsch­bergs Namens­patron war. Hirschberg las die anrüh­rende Geschichte von der Verheißung der Geburt des Täufers vor. Katha erinnerte sich, einmal gehört zu haben, wie ein Engel Maria die Botschaft überbracht habe, sie werde einen Sohn bekommen, obwohl sie mit keinem Mann geschlafen habe. Hirschberg las ihr den genauen Text vor, wie der Engel Gabriel in Nazareth der Jungfrau Maria ihre Schwan­ger­schaft verkündete. Er las ihr auch noch die nächste Überschrift ‚Der Besuch Marias bei Elisabet’ vor und fragte: „Weiter­lesen?“ „Ja, bitte!“

Und er las: „Nach einigen Tagen machte sich Maria auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa. Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabet. Als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? In dem Augen­blick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ. Da sagte Maria:

Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm macht­volle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig. Und Maria blieb etwa drei Monate bei ihr; dann kehrte sie nach Hause zurück.“

Hirschberg fielen die Augen zu und das Buch rutschte ihm aus der Hand. Er war einge­schlafen. Katha küsste ihn zärtlich auf die Stirn. Dann legte sie das Buch zur Seite und zog sich in ihr Bett zurück, voller seliger Gedanken.

Hirschberg und Lisa, wie er Katha jetzt öfter nannte, sowie Tochter Hannelore und Bob, die seit einigen Wochen bei ihnen Quartier bezogen hatten, saßen beim Frühstück. Hannelore: „Könnt ihr euch das denn überhaupt leisten? Zwei Wochen Mallorca! Einfach so, mal zwischen­durch.“ Hirschberg: „Das ist heute sozialer Standard in Deutschland. Zumindest für Rentner. Aber du hast recht. Eigentlich dürfte ich nicht weg. Ein paar Akten werde ich mitnehmen müssen. Doch hin und wieder brauche ich so einen Wechsel. Sonst wäre ich nur noch ein Arbeitstier.“

Katha: „Außerdem haben wir noch keine Hochzeits­reise gemacht.“

Bob: „Dann fliegt doch nach Hawaii. Das ist ein Paradies für Hochzeitspaare.“

Hirschberg: „Uns genügt Mallorca.“

Hannelore: „Am liebsten käme ich mit. Bevor in Frankfurt alles losgeht, könnte ich ein paar Tage Urlaub mit meinem Vater und meiner Stief­mutter gebrauchen.“

Katha: „Dann tu das doch!“ Zu Hirschberg: „Hat die Wohnung Platz für vier?“

Hirschberg: „Zur Not ja. Einer müsste aller­dings in der sala d’ estar auf dem Sofa schlafen. Na Bob, ist das keine Idee?“

Bob: „Die Idee ist gut. Aber wir haben noch so viel zu erledigen, bevor ich meinen Job anfange.“

Hannelore: „Das meiste haben wir schon geschafft.“

Katha: „Wenigstens eine Woche, wäre das nichts?“

Hirschberg: „Das fände ich gut. Ihr seid jetzt schon eine ganze Weile hier. Aber wir haben noch keine Zeit gehabt, um einmal ausgiebig mitein­ander zu reden.“

Katha: „Das Meer wird noch warm genug zum Baden sein. An kühleren Tagen könnten wir auch gemeinsame Wande­rungen unternehmen.“

Hirschberg: „Ich wüsste schon ein paar schöne Wege. Und Katha kennt die schönsten Buchten.“

Hannelore: „Ihr könnt einem das richtig schmackhaft machen.“

Hirschberg: „Ernsthaft: Eine Woche ist nicht drin? Bob, was meinst du?“

Bob: „Die Versu­chung ist groß.“ Zu Hannelore: „Sollen wir es einfach tun?“

Hannelore: „Was meine Termine angeht, wäre es möglich.“

Bob: „Wir prüfen das. Wenn es irgendwie geht, kommen wir für ein paar Tage dazu. Denn ihr habt ja recht: Wir sollten etwas mehr Zeit fürein­ander haben.“

Allge­meine Zustimmung. Am Nachmittag schon des folgenden Tages rief Hannelore an und teilte Katha mit: „Ja, es geht. Wir kommen vier oder fünf Tage dazu. Gerade haben wir noch einen Termin gecancelt. Ich freue mich. Das ist genau das Richtige, um noch mal Luft zu holen. Und schließlich möchte ich meine Stief­mutter etwas näher kennenlernen.“

Katha: „Wenn du noch einmal Stief­mutter zu mir sagst, bin ich dir ernsthaft böse. Ich heiße Katha.“

„Versprochen.“ Katha bot an, die Tickets zu besorgen, und sagte, sie freue sich riesig.

In den nächsten Tagen rief Katha ihren Bruder an und sagte ihm, der Besuch bei ihm würde sich verschieben, da sie vor der Mallorca-Reise nicht mehr dazu kämen. Ähnlich vertröstete sie auch ihre Mutter mit der Einladung nach Mehlem. Hirschberg rief seine Schwester an, die von Hannelore schon die Neuig­keiten der Familie erfahren hatte. Mit Bob hatte sie ihre Tante von Frankfurt aus besucht. Für die Zeit nach Mallorca stellte Hirschberg seiner Schwester einen Besuch mit Katha in Aussicht, wenn sie denn ihre neue Schwä­gerin kennen­lernen wolle. Klar wolle sie, Hannelore habe nur Gutes über sie erzählt. Na dann! dachte Hirschberg.

Freund Werner bezie­hungs­weise sein Büro meldete sich. Im November gäbe es ein Symposion zum Thema „Ehe und Familie in der postin­dus­tri­ellen Gesell­schaft“. Hirschberg und seine Frau seien dazu herzlich nach Berlin einge­laden. Wenn Hirschberg eines der Impuls­re­ferate, die für die Arbeits­kreise vorge­sehen seien, übernehmen wolle, könnten für ihn die Kosten übernommen werden. Wenn Interesse bestehe, würden die Unter­lagen zugeschickt. Katha, die den Anruf angenommen hatte, berichtete Hirschberg. Sie entschieden sich für die Teilnahme. Katha meldete nach Berlin, dass ihr Mann das Referat übernehme und sie mitkomme.

Zug um Zug arbeitete Katha ihre to do-Liste ab. Da stand auch, Frau Schneider anrufen, ob sie zur selben Zeit auf der Insel sei. Sie sei schon seit ein paar Wochen da und werde auch noch ein paar Wochen bleiben. Das sei eine großartige Idee, nach Mallorca zu kommen, und sie sollten nicht erst am letzten Tag sie besuchen. Es gäbe Inter­es­santes zu erzählen. Wie es ihr denn ginge, was sie mache? Katha verriet, sie sei in Umständen und manage in ihrem Tennis­zentrum Veran­stal­tungen. Darüber wollte die Schneider Genaueres erfahren. Zum Schluss: Also gleich in den ersten Tagen melden!

Hirschberg nahm mit großer Zufrie­denheit wahr, wie Katha mehr und mehr die tausend Kleinig­keiten in den Griff bekam. Sie fädelte ein, brachte Aktivi­täten in die notwendige Reihen­folge. Sie achtete auf die Zusam­men­hänge und koordi­nierte, sie konnte ihre Zeit einteilen und traf beim Telefo­nieren meistens den richtigen Ton. Sie wurde immer selbst­be­wusster. An ihrem Briefstil ließe sich noch einiges verbessern.

Die letzten Tage vor dem Abflug wurden mit 12 und 14 Stunden Tages­pensum für Hirschberg anstrengend. Katha machte die damit verbundene Hektik nichts aus. Bei ihr zeigten sich Fähig­keiten, die sie selbst jetzt erst entdeckte und sie anspornten.

Fluch der Schönheit

… kroch zu ihm unter die Decke … Ausflug nach Sant Elm … 
ein aufdringlicher, widerlicher Kerl … 

Hannelore fuhr die beiden zum Flughafen. Der Flug verspätete sich. Wie immer tat sich Hirschberg mit der Warte­si­tuation schwer. Den ganzen Vormittag noch Stress, jetzt zur Untätigkeit verdammt. Wie Katha ein Buch lesen oder Illus­trierte durch­blättern, konnte er nicht. Er tat, was er immer in solchen Situa­tionen tat, er beobachtete die Leute. Doch er wurde müde. Der Kopf fiel ihm auf die Brust und die Augen fielen ihm zu. Er begann, vor sich hin zu dösen. Als es endlich losging, musste ihn Katha wecken. Der Flug in die Nacht hinein verlief ruhig. Am Gepäckband in Palma mussten sie schon wieder über Gebühr warten. Ehe sie den vorbe­stellten Mietwagen hatten, verging noch zusätz­liche Zeit. Gegen Mitter­nacht kamen sie endlich in Santa Ponça an.

Am nächsten Tag schliefen sie sich erst einmal aus. Hirschberg wurde zwar immer wieder wach, schlief dann aber erneut ein. Katha schlief durch. Als sie am späten Vormittag wach wurde, schlief er. Leise stand sie auf, öffnete das Fenster, um die Persianas zurück­zu­klappen. Doch der Wind riss ihr die eine Hälfte aus der Hand, so dass diese krachend gegen die Hauswand schlug. Hirschberg fuhr hoch. Sie entschul­digte sich und kroch zu ihm unter die Decke.

Nach dem Aufstehen fuhren sie nach Porto Pi, um dort zu frühstücken und für die nächsten Tage einzu­kaufen. Am Nachmittag gingen sie zum Baden in die kleine Bucht nicht weit vom Hafen. Das Wasser war noch angenehm warm. Frau Schneider hatten sie, wie versprochen, schon angerufen. Sie verab­re­deten sich für den nächsten Abend bei ihr in Puerto Andratx. Sie überlegten: Sollten sie am nächsten Tag nach Palma fahren oder eine erste Wanderung machen? Katha schlug vor, eine erste kleine Wanderung zu machen und anschließend an irgend­einen schönen Strand zu fahren. Sie entschieden sich für einen Ausflug nach Sant Elm.

Am nächsten Morgen war das Wetter so traumhaft, wie man es sich an trüben Tagen in Deutschland auf Mallorca vorstellt. Ohne Eile standen sie auf, frühstückten und starteten zu ihrem Ausflug. Sie wanderten ein Stück in Richtung S’Arraco, bogen dann auf der ersten Höhe nach rechts zum Meer hin ab. Es sah so aus, als hätte es hier vor Jahren gebrannt. Büsche und Sträucher hatten sich breit gemacht, verwit­terte Baumstämme lagen dazwi­schen, hier und da standen junge Pinien.

Sie wanderten bis zur Steil­kante über dem Meer und blickten auf den maleri­schen Ort Sant Elm sowie die Insel Dragonera. Sie gingen an der Kante entlang und setzten sich schließlich auf einen der abfal­lenden Felsen. Sie genossen die herrliche Aussicht. Die Badebucht war gut besucht. Davor ankerten Boote. Unten tuckerte ein Fischerboot vorbei. Möwen nutzten den Aufwind der Steil­küste, um sich in die Höhe tragen zu lassen, dann schwebten sie hinaus übers Wasser. Ein Ausflugsboot fuhr in Richtung Puerto Andratx. Von Dragonera her kam ein Boot auf den Anleger von Sant Elm zu. Hirschberg hatte Bergers Fernglas mit: Es war die „Margarita“.

Später schlen­derten sie durch den Ort und kehrten zu einem Imbiss in eine der Bars ein. Anschließend Siesta am Strand. Kathas kleiner Bauch war nicht mehr zu übersehen. Sie streckte sich aus und schloss die Augen, während er mit angezo­genen Beinen da saß und die Leute rings­herum beobachtete.

Viele Dickleibige, darunter auch Kinder, stellte er fest. Frauen durch­blät­terten Illus­trierte oder lasen dicke Taschen­buch­romane. Ihre Männer lagen zeitung­lesend oder untätig daneben. Einige gingen am Wasser auf und ab oder standen mit verschränkten Armen herum. Viele Raucher, ihre Kippen steckten sie in den Sand. Junge Paare schmusten. Eltern sahen ihren Kindern beim Planschen zu; andere betätigten sich selbst mit Schaufel Eimerchen, während sich ihre Kleinen gegen­seitig mit Sand bewarfen. Eis wurde geschleckt, Chips wurden reinge­stopft, Snacks gefuttert, Bier oder Limonade getrunken. Ein älterer Single hatte Hochpro­zen­tiges dabei.

Zu hören waren Deutsch, Englisch, Franzö­sisch, Italie­nisch, Schwe­disch, Hollän­disch – was Europa so an Sprachen zu bieten hat. Katha glaubte, das Paar neben ihnen mit einem vielleicht achtjäh­rigen Sohn spräche Russisch. Im Wasser stand eine Gruppe älterer beleibter Frauen bis zur Hüfte im Wasser. Sie redeten laut und gestenreich.

Plötzlich stand in ein paar Meter Entfernung ein junger fettlei­biger und sonnen­ver­brannter Mann, der Katha fotogra­fierte. Sie fragte ihn, was das solle. Er meinte, dies sei ein öffent­licher Strand. Reihen­weise schoss er Bilder von ihr, kam näher, ging wieder zurück, verän­derte die Brenn­weite, wechselte von Quer- auf Hochformat, forderte Hirschberg auf, zur Seite zu rücken. Der erwiderte, er möge gefäl­ligst verschwinden.

Doch dieser aufdring­liche Kerl ließ sich nicht verscheuchen. Er legte sich in den Sand und fotogra­fierte aus der Frosch­per­spektive. Sie möge mal aufstehen, bat er. Als er ihr zu einer Großauf­nahme recht nahe kam, versuchte sie, ihm die Kamera aus der Hand zu schlagen. „Vorsichtig schöne Frau!“, herrschte er sie an. „Na gut, ich stehe auf. Aber dann verschwinden Sie.“ Er dachte gar nicht daran zu verschwinden. Sie blickte Hirschberg hilfe­su­chend an. Der erhob sich jetzt auch und ging auf den Mann zu. Doch der wich aus, sein Objekt nicht aus dem Sucher lassend. „Nur noch ein paar Aufnahmen. Gönnen Sie mir das doch bitte! Wenn Sie Ihr Oberteil ablegen könnten, wäre das super.“ Die Leute rings­herum waren längst auf die Szene aufmerksam geworden, standen neugierig dabei, waren im Zweifel, was da gespielt wurde. War da eine ernste Ausein­an­der­setzung im Gange oder ein Happening oder so etwas wie ein Photoshooting?

Hirschberg und Katha war der Aufruhr peinlich. Dem Mann schien es zu gefallen. Er forderte Katha zu eroti­schen Posen auf. Als die nicht reagierte, beschimpfte er sie. Eine verklemmte Zicke sei sie. Sie solle sich doch nicht so haben. Was sie denn mit diesem Opa am Strand wolle? Unter den umher­ste­henden Leuten war auch ein junger athle­tisch gebauter und braun gebrannter Typ mit kahl gescho­renem Kopf. Den forderte er auf, sich neben Katha zu stellen, was dieser sofort tat. „Näher zusammen!“, rief der Porno-Fotograf. Der Typ wollte Katha um die Hüfte fassen und an sich ziehen. Doch sie entzog sich, hockte sich auf ihre Matte und begann sich anzuziehen.

Hirschberg packte die Badesachen ein und rollte die Matten zusammen. Der Widerling machte immer noch Fotos und meinte, sie habe die Chance ihres Lebens vertan. Der Kahlkopf verdrückte sich. Die umste­henden Leute kehrten zu ihren Liegen, Handtü­chern und Spielen zurück, während die beiden zwar nicht flucht­artig, aber schnellen Schritts den Strand verließen. Der Mistkerl rannte an ihnen vorbei und voraus, drehte sich um, baute sich vor ihnen auf und schoss ein letztes Bild, ehe er dreist grinsend zur Seite ging und meinte, wer sich so abartig verweigere, der gehöre eigentlich an den Pranger gestellt. Statt den Mund zu halten, machte Hirschberg ihn voller Wut darauf aufmerksam, dass die Frau schwanger sei. „Hoffentlich nicht von Ihnen! Sie schwach­köp­figer Grufti! Deshalb habe ich sie doch gerade fotografiert.“

Als die beiden zum Auto kamen, holten sie tief Luft, warfen ihre Sachen in den Kofferraum und fuhren los. Katha meinte, er sei ihr aber keine große Hilfe gewesen. Er fragte, was er denn habe machen sollen, er sei kein Bodyguard. „Schon gut“, beschwich­tigte sie.

Wieder in Santa Ponça stellte sie sich unter die Dusche. Dann machten sie sich fertig für ihren Besuch bei Frau Schneider. Man würde wohl auf der Terrasse sitzen, vermutete er, als sie fragte, was sie denn anziehen solle. Einen Pullover oder eine Strick­jacke mitzu­nehmen, wäre sicher nicht falsch. Am Abend könne es kühl werden.

Ein Job für Katha? 

… mit Witz herunterspielen … einen Wettbewerb veranstalten … Schneiders
Angebot: uns organisatorisch unterstützen … verlockende Idee …

Als sie bei der Schnei­der­schen Villa vorfuhren, stand das Tor offen. Vor der Garage stand der Pickup des Gärtners. Er lud gerade seine Gerät­schaften auf. Die beiden Hunde waren im Zwinger. Nach dem Aussteigen sah sich Katha erst einmal um. Das Ehepaar Schneider kam ihnen aus Richtung Swimmingpool entgegen, sie vorneweg. Herzliche Begrüßung.

Sie nahmen, wie von Hirschberg vermutet, auf der Terrasse Platz. Schneider hatte wohl etwas abgenommen, was schon auf dem Standesamt Hirschberg aufge­fallen war. Auch war er nicht mehr der Big Boss, den er von ihrer Bespre­chung in Köln noch in Erinnerung hatte. Die Schneider erzählte, sie würden mittler­weile haupt­sächlich hier leben. „Auch mein Mann. Ich bin keine grüne Witwe mehr.“

Schneider fragte, was er denn zum Trinken anbieten dürfe. Jeder bekam seinen Wunsch erfüllt. Was sie denn so vorhätten, wollte die Schneider von den Hirsch­bergs wissen. Die Hirsch­bergs erklärten, keine beson­deren Pläne zu haben. Sie erzählten von der Beläs­tigung am Strand. Während Katha voller Empörung den Hergang schil­derte, versuchte Hirschberg mit ergän­zenden Bemer­kungen, das peinliche Erlebnis mit Witz herunterzuspielen.

Dann berich­teten die Schneiders von ihren Aktivi­täten. In Koope­ration mit einer einhei­mi­schen Bauträ­ger­ge­sell­schaft betrieben sie die Vermarktung von Wohnan­lagen mit gehobenem Komfort für wohlha­bende Deutsche. Und um das Geschäft auch gesell­schaftlich anspruchsvoll zu etablieren, hätten sie in Palma eine Kunst­ga­lerie eröffnet.

„Ihr glaubt gar nicht, was für einen Spaß uns das macht.“

Was sie denn für Künstler ausstellten, wollte Hirschberg wissen. „Da haben wir lange überlegt.“, sagte die Schneider. „Wir haben uns andere Galerien angesehen, haben auch einen kunst­ver­stän­digen Bekannten aus Köln herge­beten. Um es kurz zu machen: Wir wollen aus dem Rahmen fallen. Aber nicht, indem wir versuchen, den vorherr­schenden Strömungen im Kunst­be­trieb noch das eine oder andere Krönchen aufzu­setzen, sondern durch die Ausstellung einer­seits ganz solider Arbeiten tradi­tio­neller Bereiche der Bildenden Kunst, beispiels­weise der Landschafts­ma­lerei oder der Porträt­ma­lerei, anderer­seits durch die Ausstellung beispiels­weise junger spani­scher Künstler oder durch neu entste­hende Bereiche.“

Hirschberg: „Woran denken Sie denn da?“ Die Schneider nahm das ‚Sie‘ auf: „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir zum ‚Du‘ übergehen.“ Zu Katha gewandt: „Dich habe ich ja schon auf dem Standesamt geduzt. Was haltet ihr davon?“ Hirschberg: „Von mir aus gerne.“ Alle griffen zu ihren Gläsern und tranken auf gute Freundschaft.

Jetzt griff die Schneider Hirsch­bergs Frage auf: „Kriterium für die Auswahl der Künstler, die wir ausstellen, ist: Sie müssen von ihrer Arbeit besessen sein.“ Hirschberg: „Das gefällt mir. Und wie findet ihr die Künstler?“ Schneider: „Wir haben Kontakt mit Kunst­aka­demien aufge­nommen, wir besuchen Kunst­messen und Ausstel­lungen. Zur Zeit überlegen wir, ob wir einen Wettbewerb veran­stalten sollen.“ Von Frau Schneiders Kunst­pro­fessor, mit dem sie Hirschberg vor einiger Zeit wegen einer Vortrags­reihe angesprochen hatte, war keine Rede. Der hatte wohl ausgedient.

Frau Schneider: „Das Ganze verlangt inzwi­schen schon einen gewissen organi­sa­to­ri­schen Aufwand.“ Zu Katha: „Als du mir am Telefon sagtest, Veran­stal­tungs­ma­nagement zu machen, hat es bei mir geklingelt. Denn ob im Sport oder in der Kunst – so unter­schiedlich ist das gar nicht. Ohne Umschweife gefragt: Hättest du Lust, uns bei unserer Arbeit organi­sa­to­risch zu unter­stützen?“ Katha: „Das könnte mich reizen.“

Frau Schneider: „Du musst dich nicht jetzt gleich entscheiden. Überlegt euch das in aller Ruhe. Was du auf jeden Fall können solltest, ist Spanisch. Wie sieht das bei dir aus?“

Katha: „Ich weiß nicht, ob Jo dir erzählt hat, dass wir uns nicht nur auf Mallorca kennen­ge­lernt haben, sondern dass ich vorher schon eine Weile hier gelebt habe. Ich kann also schon ein wenig Spanisch. Das ist sicher nicht ausrei­chend. Aber ich traue mir zu, relativ schnell die Sprache zu lernen.“

Schneider: „Das ist ja großartig! Notwendig wäre außerdem, dass ihr euren Haupt­wohnsitz hier auf die Insel verlegt. Denn wir müssen eng zusammenarbeiten.“

Hirschberg: „Was du da in Aussicht stellst, ist eine verfüh­re­rische Perspektive. Noch verfüh­re­ri­scher als die Idee der Senioren-Univer­sität, die wir gemeinsam vor einiger Zeit verfolgt haben – bis dir die Steuer­fahnder die Laune verdorben haben.“

Schneider: „Erinnere mich nicht daran! Wir sind zwar unbescholten aus der Sache heraus­ge­kommen – was ich immer vorher­gesagt habe –, aber das hat mich viel Nerven gekostet. Erst jetzt habe ich wieder den Kopf frei für neue Engagements.“

Hirschberg: „Wir überlegen uns das. Bei einer Stand­ort­ver­la­gerung bin ja vor allem ich betroffen. Außerdem ist meine junge Frau schwanger.“

Frau Schneider: „Das hat sie mir schon am Telefon verraten. Aber der Umzug sollte auch nicht von heute auf morgen statt­finden. Im Laufe des nächsten Jahres – das würde reichen.“

Schneider: „Wir möchten in keiner Weise drängen. Ihr müsstet uns nur in abseh­barer Zeit sagen, ob wir mit euch rechnen können.“

Zu Hirschberg: „Wann willst du denn in deinem Beruf etwas kürzer treten? In Rente willst du vermutlich noch lange nicht gehen. Freibe­rufler ziehen das immer erst nach ihrem ersten Herzin­farkt in Erwägung. Aber dazu solltest du es nicht kommen lassen.“

Hirschberg: „Du hast Recht. Aber ehrlich gesagt, ich kann mir den sogenannten Ruhestand noch nicht vorstellen.“

Schneider: „Das ging mir genau so. Und jetzt genieße ich es, aus dem Geschäft ausge­stiegen zu sein. Dabei bin ich vermutlich jünger als du.“

Frau Schneider wechselte das Thema: „Heute Abend, also gleich, erwarten wir einen Künstler zum Abend­essen. Schon mal etwas von einem Karl Löwe gehört?“ Hirschberg: „Nein. Muss man den kennen?“

Frau Schneider: „Der ist nur in bestimmten Kreisen bekannt. Haupt­sächlich in Katho­li­schen Akademien. Aber er hat auch schon in der Düssel­dorfer Kunst­halle ausge­stellt. Löwe ist Priester.“ Hirschberg: „Ehema­liger?“

Frau Schneider: „Irgend etwas macht er noch. Aber sicher nicht haupt­amtlich. In der Eifel hat er ein tolles Atelier. Ein altes Gemäuer, eine renovierte Mühle. Wir haben ihn da besucht.“

Hirschberg: „Und wie habt ihr ihn kennengelernt?“

Schneider: „In der Thomas-Morus-Akademie war eine Ausstellung von ihm, auf die uns unser kunst­ver­stän­diger Bekannter aufmerksam gemacht hatte. Zeitge­nös­sische Kunst zu bibli­schen Themen. Seine Bilder gefielen uns, da haben wir ihn angesprochen.“

Hirschberg: „Und wieso ist er auf Mallorca?“

Schneider: „Weil wir ihn einge­laden haben.“

Frau Schneider: „Er wird ein paar Tage hier bleiben.“

Hirschberg: „Hattest du nicht schon mal einen Pfarrer hier, mit dem du schlechte Erfah­rungen gemacht hast? Hast du mir nicht so etwas erzählt? Dass er deinen Luxus und Müßiggang gerügt habe?“ Frau Schneider: „Dem ich den Kopf gewaschen habe! Du hast aber ein gutes Gedächtnis!“

Schneider: „Der hier hat zu Geld kein Verhältnis. Der lebt ganz der Kunst. Er ist kein armer Schlucker. Sein Atelier solltet ihr sehen! Sparsam, aber sehr kostbar einge­richtet. Er lebt, so sieht es aus, sparta­nisch. Umgeben von Kunst. Er sammelt Werke anderer Künstler, vor allem Skulpturen.“

Während sie noch über ihn sprachen, hörte man ein Auto in der Einfahrt. Schneider: „Das ist er.“ Er stand auf und ging, ihn zu begrüßen.

Frau Schneider: „Wir haben für ihn einen Mietwagen am Flughafen gemietet, damit er selbständig ist und sich etwas auf der Insel umsehen kann. In Palma wollen wir mit ihm eine Ausstellung machen. Deshalb haben wir ihn eingeladen.“

Schneider kam mit Löwe auf die Terrasse. Er war ein Hüne. Die Schneider musste sich zu seiner Begrüßung mit Küsschen auf die Fußspitzen stellen, obwohl er sich zu ihr herun­ter­beugte. Sie stellte Hirschberg als Freund des Hauses mit seiner Frau vor. Schneider rückte noch einen Korbsessel in die Runde. Alle nahmen Platz. Frau Schneider in Small talk-Manier: Ob er denn einen guten Flug gehabt und den Weg gut gefunden habe. Schneider wollte wissen, was er zu trinken bringen dürfe.

Von Erscheinung und Stimme, Mimik und Gestik gehörte Löwe nach Hirsch­bergs Einschätzung zu den Menschen, die bei ihrem Erscheinen sofort alle Aufmerk­samkeit auf sich ziehen. Dabei trat er eher bescheiden, in seinen Bewegungen etwas hölzern auf. Die Stimmlage war ein tiefer Bass. Seine Augen waren dunkel, sein Blick eindringlich. Kräftige Augen­brauen. Die Haare waren schwarz, ein wenig grau durch­setzt, auf Finger­länge geschnitten, Mittel­scheitel. Knappe Stirn mit zwei Querfalten. Ein mächtiges vorge­scho­benes Kinn. Lange Nase mit Höcker. Ein breiter Mund, den ein ständiges Lächeln umspielte. War das ein freund­liches Lächeln? Oder ein abgehoben verächt­liches Lächeln? Hirschberg war unsicher.

Er beobachtete ihn genau, während sich die Schneiders mit ihm unter­hielten. Wenn er sprach, waren seine Hände meist gesten­reich beteiligt. Hörte er zu, sah er den Sprechenden mit bohrendem Blick an. Der Mann konnte einen verlegen machen. Bevor er redete, legte er mitunter eine Nachdenk­pause ein. Dann erstarrte sein Lächeln zu einer ernsten Miene, die sich erst beim Sprechen wieder löste.

In der Terras­sentür erschien Feli, die Köchin. Sie gab Frau Schneider ein Handzeichen, die sich daraufhin erhob und zu Tisch bat. Wie schon bei Hirsch­bergs erstem Besuch gab es erlesene Speisen und Getränke.

Israel

… Brennpunkt des Weltgeschehens … verstrahlt mehr und mehr nicht nur
den Nahen Osten … allen Friedensbemühungen zum Trotz

Schneiders und ihre Gäste kamen auf Israel zu sprechen. Denn in Tel Aviv, so erzählte Löwe, hatte er einen Maler­freund. Den werde er in einem Monat besuchen. Hirschberg erzählte von den Israel­reisen, die er im Auftrag der Bundes­zen­trale für politische Bildung unter­nommen habe. Sein Eindruck sei, die Spannungen zwischen Israelis und Paläs­ti­nensern hätten sich immer mehr verschärft. Aber noch gebe er die Hoffnung nicht auf, dass die beiden Völker einen Frieden mitein­ander fänden. Da er seit ein paar Jahren nicht mehr da gewesen sei – wie die Lage denn im Augen­blick einzu­schätzen sei?

Löwe: „Niemand hat, so glaube ich, mehr den rechten Durch­blick. Jeder beurteilt die Lage gemäß seinem Stand­punkt. Ich erlaube mir immer weniger ein Urteil, je mehr Gespräche ich über Israel und mit Israelis führe.“

Sie verließen das Feld der Politik und Löwe sowie Hirschberg erzählten Erleb­nisse von den Reisen, die sie in Israel gemacht hatten: Jerusalem, das Tote Meer, der Negev, die Mittel­meer­küste, Galiläa, der See Genesaret. Vor allem aber sprachen sie von den Menschen, denen sie begegnet waren, von den Schick­salen, die sie erfahren hatten. Darunter waren viele Schicksale, die nach Deutschland und in den Holocaust führten. Da wurde es still in der Runde. Hirschberg wandte den Blick in die Zukunft und berichtete von seinem Besuch in den Forschungs­labors der Univer­sität von Beershewa.

Löwe schwärmte von der Kultur­vielfalt, die sich entwi­ckelt habe, aufgrund der unter­schied­lichen Herkunft der israe­li­schen Künstler. Es gebe phantas­tische Museen und Galerien. Das konnte Hirschberg nur bestä­tigen. Beide erzählten begeistert von der Jerusa­lemer Altstadt. Hirschberg schil­derte eine Begegnung, die er mit Teddy Kollek hatte, als der Bürger­meister Jerusalems war.

Immer mehr Erinne­rungen kamen Hirschberg in den Sinn. Etwa sein Besuch in der Wüsten­stadt Yamid, mit deren Gründer er ein Interview führte. „Der war besessen von der Idee, eine Stadt zu gründen, eine blühende israe­lische Stadt an der Mittel­meer­küste des Sinai. Doch das Land war besetztes Land und Yamid wurde aufge­geben, als Israel den Sinai an Ägypten zurückgab. Der Frieden war wichtiger als die auf Sand gebaute Stadt.“

Löwe erzählte von seinen Reisen durch Galiläa, von einer Wanderung am Südhang des Carmel, von seinem Aufenthalt in einem nahe gelegenen Künstlerdorf.

Beide waren in der Negev­wüste gewesen. Sie hatten die Ausgra­bungen der Nabatä­er­stadt Avdad besichtigt, den Alters­wohnsitz Ben Gurions im Kibbuz Sedé Boqér besucht und waren im Wadi Zin gewandert.

An Elat hatte Hirschberg eine besondere Erinnerung. Eine Boots­fahrt mit jungen Israelis in den Golf von Akaba hinaus und abends in die Disko des Caesar Palace, wo der Diskjokey vor allem Modern Talking auflegte.

Die beiden schwelgten in Erinne­rungen. Katha und die Schneiders hörten faszi­niert zu. Ein Stichwort genügte und schon kamen die Stories. Jericho, Qumran, Massada, Arad, Jordan, Golan, Cäsarea Philippi, Akko, Haifa – es wollte kein Ende nehmen.

Hirschberg: „Am liebsten würde ich gleich morgen wieder hinfliegen!“

Löwe: „Dann kommen Sie doch mit! Ich fliege in vier Wochen wieder hin.“

Frau Schneider: „Ist das nicht viel zu gefährlich, jetzt dort hin zu reisen?“

Löwe: „Es ist nicht so gefährlich, wie es die Medien erscheinen lassen. Wenn man keine Busse benutzt und sich nicht unter größere Menschen­an­samm­lungen mischt, ist man ziemlich sicher.“

Schneider: „Ich weiß nicht – ich glaube, ich würde mich nicht wohl fühlen in einem Land, in dem seit Jahren unablässig getötet wird.“

Löwe: „Ich habe einen Traum: Israel und Palästina sollten gemeinsam zum Weltge­schichts- und Kulturerbe erhoben und dann unter der Feder­führung der Vereinten Nationen befriedet und verwaltet werden.“

Hirschberg: „Eine großartige Idee – wie die von Herzl, dort einen jüdischen Staat zu gründen.“ Schneider: „Leider wohl ein unerfüll­barer Traum.“

Löwe: „Nirgendwo in der Welt lagert so viel Geschichte aufein­ander wie in Israel und Palästina. Nirgendwo zeigt sich die Zerris­senheit der Welt so grausam wie in diesen beiden Ländern. Nirgendwo anders wird das Schicksal der Menschheit so offen­kundig wie in diesem Brenn­punkt der Weltgeschichte.“

Hirschberg: „Haben Sie mit Ihren israe­li­schen Freunden über Ihren Traum gesprochen?“

Löwe: „Die sagen, das sei mit den Paläs­ti­nensern nicht möglich.“

Hirschberg: „Und die Paläs­ti­nenser sagen mit Sicherheit, das ginge mit den Israelis nicht.“

Löwe: „Und so steigert sich der Unfriede, die Feind­schaft, der unerbitt­liche Hass und Fanatismus von Exzess zu Exzess und verstrahlt mehr und mehr die ganze Welt. – Kommen Sie mit?“

Hirschberg sah Katha an, die während der ganzen Zeit nichts gesagt, aber mit großen Ohren zugehört hatte.

Katha: „Wenn du fliegst, komme ich mit.“ Zu Löwe: „Ich darf doch?“ Löwe: „Kein Problem.“ Hirschberg: „Wir prüfen das.“

Weit nach Mitter­nacht machten sich die Hirsch­bergs auf die Heimfahrt. Er: „Jetzt haben wir zwei verlo­ckende Angebote. Eine Reise nach Israel und die Übersiedlung nach Mallorca.“ Sie: „Beides sehr verlockend.“

Am nächsten Tag fuhren die Hirsch­bergs zur „schönsten aller Buchten“, der Bucht, zu der sie vor eineinhalb Jahren am ersten Tag ihrer Bekannt­schaft einen Ausflug gemacht hatten. Auf der Fahrt sprachen sie über die mögliche Israel­reise. Wie würden die Kunden reagieren? Im Frühjahr war er für längere Zeit nicht zu erreichen wegen seiner Süd- und Nordame­ri­ka­reise, jetzt zwei Wochen auf Mallorca und in vier Wochen – wenn sie sich dazu entschieden – war er in Israel. Unter so viel Abwesenheit litt das Geschäft, das war sicher.

Eine Umsiedlung nach Mallorca würde eine grund­sätz­liche Umstellung seiner Arbeit erfordern. Kam das in Betracht? Wollte er das? Seminare auf Mallorca – das ließe sich machen, Beratung nicht. Er war unschlüssig.

Katha wollte beide Entschei­dungen ihm überlassen. Denn für ihn ginge es um Grund­satz­ent­schei­dungen. Sie reize es sehr, Israel kennen­zu­lernen. Gefahren seien sicher gegeben, aber in Rio sei es auch nicht ungefährlich gewesen. Wenn man einhei­mische Begleitung habe, sei das Risiko nicht so hoch. Und Seminare auf Mallorca – die würde sie ihm gerne organi­sieren. Er hörte heraus: beide Angebote annehmen.

Wenn er zurück­schaute: Bisher hatte er diese Art von Reise­an­ge­boten in seinem Leben noch nie ausge­schlagen. Denn schon immer war seine Überzeugung, dass man ein Land am besten kennen­lernt, wenn man bei seinen Menschen zu Gast ist, sie einem ihr Land zeigen.

Der erneute Besuch in „ihrer Bucht“ war enttäu­schend. Sie war ganz offen­sichtlich in ihrer Idylle von denen entdeckt worden, die jede Idylle für sich haben wollen – und dadurch zerstören. Wie bei schönen Blumen, die von der Natur hervor­ge­bracht, aber dann von einer egois­ti­schen Hand abgepflückt und zuhause in die Vase gestellt werden. Hätte man die Häuser, die in ihrer Niedlichkeit der Bucht das Pitto­reske gaben, durch eine behutsame Renovierung als Gesamt­komplex vor dem Verfall bewahrt, wäre es sicherlich möglich gewesen, diesen märchenhaft gebor­genen und verbor­genen Ort zu erhalten. Jetzt war stillos und brutal etwa die Hälfte der Häuser und Hütten saniert worden, verrie­gelte und verram­melte Ferien­häuser; die anderen verfielen weiter. Was waren das für Baube­hörden, die solch einen blind zerstö­renden Egoismus zuließen?

Die beiden badeten, schwammen ein Stück hinaus, ließen sich auf den Felsen von der Sonne wieder aufwärmen und fuhren zurück nach Santa Ponça.

Am Abend waren die Hirsch­bergs wieder bei den Schneiders. Denn Löwe hatte mit seinen israe­li­schen Freunden telefo­niert und wollte nochmal mit ihnen über ihre eventuelle Reise sprechen. Hirschberg saß mit Löwe auf der Terrasse. Schneider war mit der Begründung, er müsse noch ein paar Telefonate führen, ins Haus gegangen. Frau Schneider hatte Katha gebeten, ihr beim Schmieren von ein paar Schnittchen zu helfen. Feli hatte ihren freien Tag.

Löwe infor­mierte: Seine Freunde seien gerne bereit, sie zu empfangen. Sie würden auch einen Guide engagieren, der für sie eine Rundreise organi­sieren und begleiten werde. Dazu brauchten sie eine Aufstellung der Orte, die besucht werden sollten. Übernach­tungen, Fahrt­kosten und Guide seien zu bezahlen. Wie viel zu zahlen sei, ergäbe sich aus ihren Vorgaben. Diese müssten sie so schnell wie möglich haben. Jetzt ginge alles rasend schnell – wenn sie denn wollten, sagte Löwe. Hirschberg sicherte zu, sich in den nächsten zwei bis drei Tagen mit einer verbind­lichen Antwort zu melden.

Er war innerlich bereits entschlossen, die Reise mit Katha zu machen. Morgen würden sie checken, ob das von ihrer Arbeit her zu machen wäre, und er wollte noch zwei Bekannte anrufen, von denen er wusste, dass sie vor nicht allzu langer Zeit in Israel waren. Die wollte er über die Situation im Lande und bezüglich der Sicher­heitslage befragen. Jetzt nutzte er das Zusam­mensein, um Löwe etwas näher kennenzulernen.

Er erfuhr: Der Mann hatte die übliche Ausbildung zum Priester absol­viert, war einige Jahre Pfarrer einer größeren Gemeinde und vor ein paar Jahren hatte man ihn auf eine kleine Pfarr­stelle in der Eifel versetzt. Schon als Kind hatte er gerne gezeichnet und gemalt. Aber das zu seinem Beruf zu machen, hatte er nie erwogen. Er wollte Priester werden. Also malte er nebenher.

In seiner ersten Pfarr­ge­meinde war ein Künstler, der eine akade­mische Ausbildung hatte und mittler­weile Professor an der Kunst­hoch­schule in Düsseldorf war. Der sah eines Tages einige von Löwes Arbeiten im Pfarrhaus und erkannte Talent darin. Er gab ihm Unter­richt, wurde sein Lehrer. Die Beschäf­tigung mit der Kunst brachte ihn mehr und mehr zu der Einsicht, dass die Verkün­digung der Frohen Botschaft zu allen Zeiten auch durch die Bildenden Künste geschah. Die Kirchen waren voller Bilder und Skulpturen.

Sein Lehrmeister mahnte ihn, sein Talent für eine christ­liche Kunst der Gegenwart zu nutzen. Er versuchte sich an Themen des Alten wie des Neuen Testa­ments, malte für seine Kirche einen Kreuzweg. Nach und nach fand er seinen Stil, der vor allem von der Farbigkeit seiner Bilder geprägt wurde. Erste Ausstel­lungen fanden statt. Schließlich, so erzählte Löwe, habe er Seelsorge und Malen nicht mehr als Tätig­keiten neben­ein­ander geschafft. Daraufhin habe er seinen Bischof gefragt, was er tun solle. Der sei von seinen Bildern angetan gewesen und habe ihn dazu bewogen, sich haupt­sächlich der Malerei zu widmen und ihn dann auf die kleine Pfarr­stelle in der Eifel versetzt.

Woher denn der Kontakt zu Israel komme, wollte Hirschberg wissen. Der habe sich bei einer seiner Ausstel­lungen ergeben. Wie lange er jetzt in Israel bleiben wolle? Drei Wochen, es sei eine Gemein­schafts­aus­stellung mit seinem israe­li­schen Freund in Kopen­hagen geplant, die wollten sie vorbe­reiten. Ob es nicht störend sei, wenn er und Katha mitkämen? Keineswegs. Sie würden ja eine Rundreise machen, während er in Tel Aviv bleibe.

Katha kam und bat die Herren zu den fertigen Schnittchen. Am Tisch unter­hielten sich die Schneiders und Löwe über die für Dezember geplante Ausstellung in Palma. „Keine Advents­motive“, meinte Schneider. Löwe: „Aber die Weihnachts­freude möchte ich schon sichtbar machen. Bei Ihrem nächsten Besuch zeige ich Ihnen, an welche Bilder ich denke: Betlehem heute.“

Die Hirsch­bergs verab­schie­deten sich. Im Auto erzählte Katha, wie gut sie sich mit der Schneider unter­halten habe. Die sei ihr sehr sympathisch.

Hirschberg: „Das ist eine kluge und lebens­tüchtige Frau, die das Herz am rechten Fleck hat.“

„Von der kann ich bestimmt eine Menge lernen.“ „Du möchtest also bei ihr anfangen.“ „Ja. Aber es bleibt dabei: Nur wenn wir eine gemeinsame Perspektive darin sehen.“

Die erste der beiden Wochen auf Mallorca war vorüber. Die Kligers kamen. In Bergers Wohnung wurde es eng. Hannelore und Bob wollten am ersten Tag nur entspannen. Man entschied sich, gemeinsam nach Sa Rapita zu fahren. So wie die anderen am Strand liegen, das mochte Hirschberg nicht. Er ging am Wasser entlang spazieren. Er kam nach Ses Covetes, wanderte in die Dünen hinein und legte sich in den Schatten einer Pinie. Israel – ja, diese Reise würden sie machen.

Zurück bei den anderen meinten die, sie hätten ihn schon suchen wollen. Er entschul­digte sich damit, dass er ein schönes Schat­ten­plätzchen gefunden habe und dort einge­schlafen sei. Wovon er denn geträumt habe, wollte Katha wissen. „Von Israel!“ Sie lachte und umarmte ihn. Hirschberg wollte von den Kligers wissen, ob sie denn morgen fit für eine Wanderung seien. Ja, morgen seien sie zu allem bereit.

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