16.
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Atelierbesuch

… Priester und Maler … erzwungene Ehelosigkeit für die Nachfolge … Wert
einer kinderlosen Ehe … Gleichnis vom Sämann … Brautmesse in Tabgha

Die nächsten drei Tage des Urlaubs auf Mallorca waren Wander- und Ausflugstage. Die Hirsch­bergs und die Kligers hatten sich viel zu erzählen. Viele Fragen wurden gestellt, so manches disku­tiert. Natur und Kultur versetzten sie immer wieder in Bewun­derung und Erstaunen. Palma, Sa Calobra, Kloster Lluc. Rücksicht wurde auf die schwangere Katha genommen. Beim Wandern hatte die indes die wenigsten Probleme. Bei den anderen zeigte sich, dass sie untrai­niert waren, bei Hirschberg, dass er nicht mehr der Jüngste war.

Im Restaurant des Klosters Lluc erzählte Hirschberg, dass Katha und er in vier Wochen nach Israel fliegen würden. Hannelore spitzte die Ohren. Ja, sie hätten eine Einladung. Hannelore wollte Genaueres wissen. Dann: „Ich komme mit.“ Zu Bob: „Darf ich?“ Er käme auch gerne mit, aber das sei unmöglich.

Hannelore: „Wie lange wollt ihr in Israel bleiben?“

Hirschberg: „Eine Woche. Obwohl das viel zu kurz ist. Aber länger kann ich nicht.“

Hannelore zu Bob: „Schade, dass du nicht mitkommen kannst. Aber ich sehe ja ein, man kann nicht gleich nach Antritt eines neuen Jobs Urlaub nehmen. Bei mir würde eine Woche passen.“

Hirschberg: „Ich müsste aber erst den Löwe fragen, ob außer uns noch jemand mitkommen kann.“ Hannelore zu Bob: „Angenommen, das geht, darf ich dich eine Woche allein lassen?“ Bob: „Warten wir erst einmal ab, ob es geht.“

Am nächsten Morgen rief Hirschberg bei Schneiders an und fragte nach Löwe. Der sei schon wieder in Deutschland. Vormittags erreiche man ihn am ehesten. Er erreichte ihn. „Wir haben uns entschieden mitzu­kommen.“ Löwe: „Das finde ich großartig. Und wie lange werden Sie bleiben?“ „Eine Woche.“ „Haben Sie auch schon überlegt, was Sie in der Woche unter­nehmen, was Sie sehen wollen?“ „Auf jeden Fall Jerusalem, das Tote Meer, die Wüste. Im Norden Galiläa, den See Genesaret. – Noch etwas: Meine Tochter käme gerne mit. Wäre das möglich? Wir wollen Sie nicht ausnutzen.“ „Ich telefo­niere mit meinen israe­li­schen Freunden und rufe Sie dann an.“ Am nächsten Tag war auf dem Anruf­be­ant­worter das Ok.

Hirschberg trat auf den Balkon hinaus, wo die anderen den Blick auf den Hafen, Santa Ponça und die Berge genossen. Hirschberg zu Bob: „Hast du dich entschieden? Darf Hannelore mit nach Israel?“ Bob drehte sich zu ihm: „Du hast eine Zusage bekommen! Was sollte ich dagegen haben? Sie sollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.“ Hannelore fiel ihm um den Hals: „Danke­schön!“

Am Nachmittag ihres letzten Tages auf Mallorca waren die Hirsch­bergs ein weiteres Mal bei Frau Schneider einge­laden, diesmal zu einer Poolparty. Die Kligers kamen mit. Unter den vielen Leuten war auch das Ehepaar Neuefeind, das Hirschberg schon von seinem ersten Besuch her kannte. Sie begrüßten sich, Geplauder. Die Schneider arran­gierte es, dass Hirschberg den Liege­stuhl neben ihrer Liege hatte.

Frau Schneider zu Hirschberg: „Wenn ich mich nicht täusche – Katha würde mein Angebot gerne annehmen. Wie stehst du dazu?“ „Du täuschst dich nicht. Aber sie möchte, dass ich entscheide, weil der Ortswechsel für mich wesentlich einschnei­dendere Konse­quenzen hat als für sie. Mehlem aufgeben, das Haus vielleicht sogar verkaufen und hier etwas Adäquates suchen oder zwischen Deutschland und Mallorca hin und her pendeln, außerdem habe ich noch das Wochen­endhaus in der Eifel – das will alles gut überlegt sein.“

„Ich habe nicht geglaubt, dass ich jemals von Köln wegziehen könnte. Jetzt genügt es mir, alle paar Monate für ein paar Tage dort zu sein. Und sieh dir die Neuef­einds an! Einmal im Jahr für zwei Wochen, das genügt denen.“ „Zwei Dinge sind für mich wichtig: 1. Ob ich von hier aus meiner Arbeit nachgehen kann, vielleicht in etwas verän­derter Form? Und 2. Schaffe ich es, mich hier so wohl zu fühlen, dass ich mir nicht wie ein Fremder vorkomme?“

„Zu Punkt 1 kann ich nichts sagen. Das kannst du nur selbst beurteilen. Zu Punkt 2: Wenn du dir zutraust, noch ein wenig Spanisch zu lernen, wirst du hier ganz schnell heimisch. Hier lebt man in einer inter­na­tio­nalen Gesell­schaft. – Ich will nicht drängen, wann glaubst du, mir Bescheid sagen zu können?“ „Wir müssen noch einen Punkt bedenken: Du weißt, wir erwarten ein Baby. Also wird Katha dir zunächst nicht unein­ge­schränkt zur Verfügung stehen. Und wir müssen überlegen, ob das Kind in Deutschland oder hier aufwachsen soll.“ „Was mich betrifft: Katha kann sehr viel von zuhause aus und nach eigener Zeitein­teilung arbeiten. Mein Mann ist da schon verein­nah­mender; er will die Leute, mit denen er zusam­men­ar­beitet, um sich haben.“ „Würde es reichen, wenn wir uns nach unserer Israel­reise – wir fahren – bei dir melden?“ „Einver­standen.“ Sie stand auf, um sich anderen Gästen zu widmen.

Hirschberg beobachtete Hannelore und Bob. Ihm kam ein Gespräch in Erinnerung, das er mit Hannelore beim Rundgang über den Kreuzweg des Klosters Lluc geführt hatte. Ob in ihrer Ehe die Flitter­wochen noch lebendig seien, hatte er gefragt. Sie verstand sofort, worauf er hinaus wollte und antwortete: „Bob wünscht sich voller Sehnsucht ein Kind, möglichst einen Sohn. Aber obwohl wir alles tun, damit es dazu kommt – bis jetzt hat sich noch nichts getan. Bob versucht zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich glaube, das betrübt ihn. Er muss jetzt heraus­finden, ob unsere Ehe an sich für ihn schon ein großes Geschenk ist. Vielleicht hilft es, wenn er ohne mich etwas Zeit hat nachzu­denken.“ Hirschberg dachte: Diese Ehe hatte schon ihre erste Prüfung.

Der Heimflug verlief reibungslos. Diesmal sogar ohne Verspätung. Katha ging sofort daran, die Israel­reise vorzu­be­reiten. Sie verlegte wieder Termine, stimmte sich mit Löwe ab, telefo­nierte mit der Botschaft, mit dem Büro der israe­li­schen Fluglinie, las alles, was Hirschberg an Literatur zu diesem Land hatte, sah sich Dias, Fotos und Landkarten an.

Zehn Tage vor der Abreise nach Israel besuchten die Hirsch­bergs Löwe in seinem Atelier. Es sollten noch ein paar Fragen im persön­lichen Gespräch geklärt werden. Auch wollten die beiden den Mann, der sie zu dieser Reise angeregt hatte, etwas näher kennen­lernen, ihn in seiner Umgebung sehen.

Während der Fahrt fragte Katha: „Was glaubst du, wie alt der Löwe ist?“

„Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich glaube, er ist älter als sein Äußeres vermuten lässt.“ „Über 50 würde ich schätzen.“ „Mit Sicherheit. Mitte bis Ende 50 würde ich sagen.“

„Glaubst du, er lebt ohne Frau?“ „Ja. Der hat für sein Leben zwei Aufgaben gewählt, wovon eine schon ausreichen würde, ein Leben völlig auszu­füllen: Priester und Maler.“ „Wäre er nur Maler, würde er wohl kaum allein leben.“ „Das ist nicht gesagt, es gibt Künstler, die ausschließlich ihrer Kunst leben.“ „Von Priestern hört man immer wieder, sie hätten sexuelle Probleme.“

„Niemand kann sagen, wie viele Priester Probleme mit dem Zölibat haben. Manche werden auffällig durch Handlungen, die gegen die Vorgaben der Kirche oder gegen die Gesetze verstoßen. Das ist dann ein gefun­denes Fressen für alle, die der Kirche feindlich gesonnen sind.“ „Warum sollte ein Löwe nicht heiraten dürfen?“ „Die Kirche will, dass ihre Priester beispiel­gebend in der Nachfolge Christi sind. Auch der Apostel Paulus war unver­hei­ratet.“ „Ist das nicht ein zu hoher Anspruch? Gehört die Sexua­lität nicht zum Menschen?“

„Nach meiner Meinung: ja. Außerdem wage ich zu bezweifeln, dass ehelos bleiben sollte, wer Christus nachfolgen will. Auch weiß ich nicht, ob ein zöliba­täres Leben geeignet ist, das Reich Gottes auf der Erde erkennbar zu machen. Die Kirche muss für ihre Dienste wohl oder übel die Menschen nehmen, wie sie sind – diesseitig. Sie kann sie nicht per Vorschrift sakra­mental überhöhen.“

„Menschen überzeugen mich, wenn sie echt sind, nicht in einer Rolle oder Funktion auftreten, die sie anhand von Vorschriften erfüllen.“ „Das ist der Unter­schied: Ein Löwe, der freiwillig zölibatär für seine Kunst und seine Seelsorge lebt, würde mich beein­drucken. So weiß ich nicht, ob er zölibatär wegen der kirch­lichen Vorschrift lebt oder ob er auch ohne diese Vorschrift zölibatär leben würde.“

„Wir wissen nicht, ob er wirklich zölibatär lebt.“

„Ich gehe davon aus, dass er ohne Frau lebt.“

„Ohne sexuelle Bezie­hungen zu einer Frau?“

„Das kann man.“

„Aber nicht jeder!“

Hirschberg kamen noch einige Gedanken zum Thema „Priester und Frauen“ in den Sinn, aber er sprach sie nicht aus. Er wollte das Gesagte nicht breit treten.

Nach einiger Zeit sagte Katha: „Wir wollen doch noch kirchlich heiraten. Was meinst du, sollen wir den Löwe nicht bitten, uns in Israel an einem der bibli­schen Orte zu trauen?“ Dass er auf diesen Gedanken noch nicht gekommen war! Er drehte den Kopf zu ihr.

„Das ist eine tolle Idee!“

„Glaubst du, er macht das?“

„Er hat wohl kaum einen Grund, es abzulehnen.“

„Eine große Hochzeits­ge­sell­schaft wird das aber nicht.“

„Und es wird wohl auch kein weißes Hochzeits­kleid mit Schleppe und Braut­jungfern geben.“

„Aber eine Hochzeit im Hl. Land!“

„Mir gefällt der Gedanke. Ich wüsste auch schon einen Ort: Tabgha am See Genesaret. Dort gibt es eine Basilika an dem Ort, an dem man annimmt, dort habe sich das Wunder der Brotver­mehrung ereignet. Gleich in der Nähe gibt es einen open air-Altar und ein paar Balken zum Sitzen drum herum. An Schlichtheit ist der Platz nicht zu übertreffen. Dort würde ich gerne „ja“ sagen, zu dir und unserem Kleinen. Was meinst du?“ „Wir reden mit Löwe. Willst du oder soll ich davon anfangen?“ „Das überlassen wir dem Augen­blick. Ich vermute, er will ein wenig mehr über uns und von uns erfahren, als er in Puerto Andratx gehört hat. Die Schneider hat ihm ganz sicher über uns schon einiges erzählt.“

Aufgrund der Anfahrts­skizze, die Löwe gefaxt hatte, fanden sie seine Mühle auf Anhieb. Das Gebäude lag an einem Bach, also eine ehemalige Wasser­mühle. Ein mächtiges Haus aus Bruch­stein und angrenzend Fachwerk­bauten. Durch ein schmiede-eisernes Tor, das offen stand, gingen sie hinein in einen kleinen Innenhof, an dessen rechter Seite die Eingangstür zum Haupt­ge­bäude war, zu der man über ein paar blank getretene Blaustein­stufen hoch ging. Keine Türklingel, sondern eine Glocke. Hirschberg läutete.

Es dauerte einige Augen­blicke, bis Schritte auf Stein­boden laut wurden. Löwe öffnete, hieß die Beiden willkommen. Er führte sie ins Haus und man nahm Platz in der stilvoll einge­rich­teten Guten Stube des alten Wohnhauses. Als Willkom­mens­schluck bot Löwe wahlweise einen Cherry oder einen Calvados an. Hirschberg lehnte beides höflich dankend mit Verweis auf seinen empfind­lichen Magen ab. Etwas anderes? Nein, höchstens einen Saft oder so etwas. Er bekam Apfelsaft.

Nach der Erkun­digung darüber, wie die Fahrt gewesen sei und ob man gut herge­funden habe, bot Löwe an, das Haus und sein Atelier zu zeigen. Das nahmen die Beiden voller Neugier an. Löwe erzählte über den Bau, er sei gar keine Mühle gewesen, man nenne es nur so, weil die kleine Fabrik, die hier einmal in Betrieb war, von einem Wasserrad mit Energie versorgt wurde. Hirschberg wollte wissen, was denn produ­ziert worden sei. Wahrscheinlich sei es ein Hammerwerk gewesen. Er habe nicht weiter nachgeforscht.

Die Eigen­tümer hätten in Köln gelebt. Während des Nachkriegs­booms habe ein Famili­en­mit­glied, das vermutlich Erbe des seit Jahrzehnten ungenutzten und verfal­lenen Baus gewesen sei, den ganzen Komplex saniert. Der junge Mann habe einen Nobel­schuppen – Hotel und Feinschme­cker­lokal – daraus machen wollen. Doch dazu sei es nicht gekommen. Die Gründe wisse er nicht. Ob Verkauf oder weitere Vererbung – jeden­falls habe eine Frau als letzte Eigen­tü­merin alles der Kirche geschenkt. Wiederum seien Jahre vergangen, bis er die Gebäude entdeckt habe. Nach einigem Hin und Her habe man sie ihm zur Verfügung gestellt. Jetzt habe er endlich die Räumlich­keiten, die er für seine Arbeit brauche. Mit dem Wasserrad erzeuge er übrigens Strom, alter­native Energie.

Sie standen im Atelier. Ein hoher Raum mit weiß getünchtem Mauerwerk. An einer der beiden Längs­seiten zwei große Fenster mit Eisen­sprossen. Zwischen den Fenstern ein doppel­flü­ge­liges Holztor. Holzbal­ken­decke. Darunter ein Schein­wer­fer­gerüst. Hirschberg meinte, auch ein Kamera­podest zu erkennen. Er fragte nach. Ja, hier würde er auch Videos drehen.

Überall Materialien: Leinwände, Farbtöpfe, Spachtel, Rollen, Pinsel, Hammer, Zange, Hänge­vor­rich­tungen, Flaschenzüge; auch Gasfla­schen, Schweiß­gerät, Metall­stäbe, Gussformen – das sah nach Schlos­ser­werk­statt gleicher­maßen wie nach Maler­be­trieb aus. Zeich­nungen und Entwürfe lagen herum. Auf einem Tisch ein Kirchen-Modell.

„Ich liebe es, die ganze Breite handwerk­licher Möglich­keiten für meine Ideen zu nutzen.“, sagte Löwe. „Haben Sie ein Handwerk gelernt?“, fragte Hirschberg. „Nach dem Abitur habe ich eine Schlos­ser­lehre gemacht, bevor ich mit der Philo­sophie angefangen habe.“

In das große Tor nach draußen war eine kleinere Tür eingebaut. Durch sie verließen sie das Atelier und gingen zu den Fachwerk­bauten. „Hier sind meine Magazine“, erklärte Löwe. Offenbar dienten die Gebäude früher als Lager­räume. Durch kleine Fenster fiel nur spärlich Licht herein. Löwe schaltete zwei große Leuchten an. Rechts und links vom Mittelgang befanden sich Boxen. Darin bewahrte Löwe seine Instal­la­tionen auf. Ein Großfoto, eine Skizze oder auch nur der darauf geschriebene Titel bezeich­neten das verwahrte Kunstwerk. Es herrschte Ordnung. Katha und Hirschberg sahen sich an: Ungeheu­erlich, was dieser Mann schon alles geschaffen hatte.

In einer angren­zenden Halle, einge­richtet als Werkstatt, entstand gerade eine neue Arbeit: Ein Quadrat von zweimal zwei Metern, in vier Quadrate unter­teilt. Ein Quadrat war eine Beton­fläche, ein anderes ein Stück Plattenweg – noch nicht fertig – und ein weiteres war mit Stachel­draht bedeckt und das vierte war gefüllt mit fein geharktem Mutter­boden. Auf alle vier Felder waren Samen­körner gestreut. Hirschberg lachte. Denn er hatte gleich erkannt, welches Gleichnis hier gemeint war. Er fragte: „Welchen Titel wird die Instal­lation haben?“ „Arbeits­titel ist: Das Gleichnis vom Sämann.“

Priestertum

… bin frei, gerade weil ich Priester bin … Kunst als Mittel der Verkündigung 
… selbstherrliches Pharisäertum … Profis statt Dilettanten

Sie gingen zurück in die Gute Stube. Löwe erklärte, er habe Kuchen einge­kauft und hoffe, sie damit beglücken zu können. Er bat Katha, ihm beim Sahne­schlagen und Kaffee aufschütten behilflich zu sein. Dann ginge es schneller. Hirschberg sagte, er würde sich auch gerne nützlich machen. Also gingen sie alle drei in die Küche. Katha äußerte den Wunsch, für sich und Hirschberg lieber Tee aufzu­schütten. Löwe öffnete die Tür eines Oberschranks und deutete auf ein Dutzend Dosen und Schachteln mit Tee. „Bedienen Sie sich!“. Für sich selbst machte er Kaffee. Hirschberg übernahm das Schlagen der Sahne.

Da in der Küche ein Tisch mit Eckbank und zwei Stühlen stand, schlug Hirschberg vor, doch keine Umstände zu machen und den Tisch hier zu decken. Löwe wehrte ab, das sei nicht sonderlich gemütlich. Aber die beiden erklärten ihm, in der Küche würde es ihnen gefallen. Er ließ es geschehen. Noch ein paar Checks: Zitrone? Oder lieber Milch? Braunen Zucker? Etwas Rum dazu?

Zwanglos kamen sie ins Gespräch. Welche Kleidung für Israel ratsam sei, wollte Katha wissen. Wie nach Mallorca, außerdem einige strapa­zier­fähige Sachen, da sie ja herum­reisen wollten. Eine Kopfbe­de­ckung gegen die Sonne und eine weitere für den Besuch religiöser Stätten. Unter­ge­bracht seien sie in den ersten beiden Nächten privat, bei der Reise durchs Land in Hotels. Er sei wie immer Gast im Haus seines Freundes Jossi. – Seid ihr verheiratet?“

Die beiden sahen sich an – eine Steil­vorlage, um das auf der Fahrt bespro­chene Thema anzuschneiden. Hirschberg: „Standes­amtlich ja, kirchlich nein.“ Katha: „Sie sind doch nicht nur Künstler, sondern auch Priester?“ Löwe: „Ich wollte keine indis­krete Frage stellen – aber Sara, Jossis Frau, wollte es vermutlich wegen der Übernach­tungen wissen.“ Katha: „Auf der Fahrt hierher haben wir darüber gesprochen, ob es wohl möglich wäre und ob Sie wohl dazu bereit wären, uns im Hl. Land zu trauen.“ Löwe sah die Beiden an. Dann: „Ich habe da unten ein dichtes Programm. Aber wenn ich Sie beide so ansehe, kann ich Ihnen das wohl kaum abschlagen.“ Katha: „Wenn Sie kein Priester wären, würde ich jetzt aufspringen und Ihnen einen Kuss geben.“ Löwe: „Es gibt kein Hindernis.“ Sie sprang auf und er bekam einen satten Kuss. Löwe: „Jetzt möchte ich Genaueres über Sie wissen. Wie haben Sie sich kennengelernt?“

Hirschberg erzählte: „Sie hat sich in einem Straßencafé in Palma zu mir gesetzt. Zurück in Deutschland hatte ich sie als Episode schon vergessen. Aber sie meldete sich bei mir und wir haben uns in Köln wieder­ge­troffen. Dann hat sie mich mit ihrem Freund in meinem Wochen­endhaus besucht. Von dem jungen Mann hat sie sich einige Zeit später getrennt. Da sie in Bonn studierte, hat sie sich bei mir einge­mietet. Als mir die Nähe, die sich anbahnte, nicht mehr geheuer war, habe ich versucht, sie los zu werden, sie wegzu­beißen – aber es gelang mir nicht. Ihre Mutter hat alles versucht, damit sie sich von mir trennt. Meine Schwester hat mir schlimme Vorhal­tungen gemacht. Nach beider­sei­tiger Prüfung haben wir alle Mahnungen in den Wind geschlagen und uns fürein­ander entschieden.“

Katha: „Er und meine Mutter haben mich sehr hart geprüft. Daher kann ich sagen, dass ich mir meine Entscheidung gründlich überlegt habe. Dass wir von unserem Umfeld als ungleiches Paar gesehen werden, manche uns belächeln oder auch die Nase rümpfen – das wiegt alles nichts im Vergleich zu dem, was wir anein­ander gefunden haben und mitein­ander leben.“

Löwe: „Ich belächle Sie nicht. Aber natürlich fragt man sich, wenn man hört, Sie seien nicht Vater und Tochter, sondern seien Ehepartner, ob in dem älteren Herrn denn noch so ein Lüstling steckt und ob die schöne junge Frau einen puber­tären Vater­komplex befriedigt. Verzeihen Sie, wenn ich das so offen ausspreche. Ich kann nicht sagen, ob das eine oder andere zutrifft.“

Katha: „Ich glaube, nur völlige Unvor­ein­ge­nom­menheit verstellt die Situation nicht. Sie begegnen mit Sicherheit auch Vorur­teilen. Entweder haben Sie eine Geliebte oder Sie sind schwul oder Sie sind pädophil. Dass Sie Ihre Sexua­lität zölibatär beherr­schen – das nimmt Ihnen heute kaum noch einer ab.“

Löwe: „Bisher bin ich nur in Künst­ler­kreisen auf diese Ansicht gestoßen.“

Hirschberg: „Das dürfte mittler­weile allge­meine Ansicht sein. Und wenn ich mich nicht täusche, sind es vor allem junge Leute, die es sich kaum vorstellen können, ein Mensch lebe seine Sexua­lität nicht aus – es sei denn, er ist nicht normal veranlagt.“

Löwe: „Und was glauben Sie, wie komme ich mit meiner Sexua­lität zurecht?“

Hirschberg: „Ich weiß es nicht. Vielleicht kasteien Sie sich. Vielleicht ist Ihr Sexual­trieb nicht so stark, dass er Sie zu irgend­einer Normver­letzung treibt. Vielleicht haben Sie eine Geliebte. Vielleicht sind Sie aber auch so in Ihrer Arbeit engagiert, dass Sie das Ausleben Ihrer Geschlecht­lichkeit gar nicht als Bedürfnis empfinden. Man verhungert ja schließlich nicht, wenn man keinen Sex hat.“

Katha: „Aber es gibt immer weniger Priester.“

Löwe sah die beiden irritiert an. „So hat das noch keiner bei mir angesprochen.“

Hirschberg: „Wir wollen Ihnen nicht zu nahe treten. Ich verstehe ja, dass die Kirche an dem Vorbild der Ehelo­sigkeit Jesu festhalten will. Nachfolge Christi. Aber ich frage mich: Darf die Kirche ihren Auftrag, die Frohe Botschaft zu verkünden, hinter ihre sakra­mentale Erschei­nungsform als Heils­vor­stufe zurückstellen?“

Löwe sah Hirschberg mit großen Augen an. „Für mich ist meine ganze Arbeit Verkün­digung. Und darin gehe ich ganz und gar auf. Wenn ich Frau und Kinder hätte, könnte ich das nicht.“

Hirschberg: „Werden Sie von den Künst­ler­kol­legen akzeptiert?“

Löwe: „Das ist unter­schiedlich. Wenn, dann mit Einschrän­kungen. Immer wieder höre ich: Löwe zieh den Rock aus! Begründung: Ein Künstler muss frei sein. Ich entgegne darauf: Ich bin frei, gerade weil ich Priester bin.“

Hirschberg: „Aber das versteht keiner. Denn das in seiner tradi­tio­nellen Form heute erkennbare Chris­tentum wird nicht als Befreiung verstanden.“

Löwe: „Und deshalb versuche ich, mit den Mitteln der zeitge­nös­si­schen Kunst mein Chris­tentum darzu­stellen, so wie andere Künstler ihre Ideen und Vorstel­lungen in ihren Werken zum Ausdruck bringen.“

Hirschberg: „Arbeiten Sie, um etwas mitzu­teilen, eine Botschaft rüberzubringen?“

Löwe: „Jeder Künstler will etwas rüber­bringen. Sonst würde er weder den Kontakt zu Galerien noch zu Museen suchen, um ausge­stellt zu werden. Ob er das tut, weil er berühmt werden will oder weil er seine Sicht der Dinge vorzeigen möchte oder weil es ihm nur um ein ästhe­ti­sches Spiel geht – das weiß niemand. Ich teile mich und meine Gedanken mit. Beispiels­weise habe ich vor Jahren einen Kreuzweg gemalt, in dem ich von Station zu Station alle heute angewandten Folter- und Verhör­me­thoden darge­stellt habe.“

Er ging in die Gute Stube und kam mit einem Katalog zurück, schlug ihn auf und zeigte den Beiden die Abbil­dungen seines Kreuzwegs.

Katha: „Hat ein Museum den Kreuzweg gekauft?“ Löwe: „Nein. Er hängt in einer Kirche.“
Hirschberg: „Kirchen müssten durch Arbeiten der Bildenden Kunst wieder viel mehr verkünden.“ Löwe: „Darum bemühe ich mich.“

Katha kam zurück auf ihre Trauung: „Müssen wir uns oder müssen wir etwas vorbe­reiten, wenn Sie uns in Israel trauen?“ Löwe: „Sie sind beide katho­lisch?“ Katha: „Ja.“ Löwe: „Keiner von Euch ist geschieden?“

Katha und Hirschberg regis­trierten: Er hatte das annähernde „Euch“ verwendet.

Katha: „Wir sind standes­amtlich verhei­ratet. Johannes war Witwer und ich unver­hei­ratet.“ Löwe: „Und ihr schließt Kinder nicht aus? Keiner von Euch?“ Katha hob ihren Bauch hervor: „Ich bin schwanger.“ Löwes Gesichts­aus­druck wechselte von ‚dienstlich‘ zu ‚freudige Überra­schung‘. Dann fuhr er fort: „Ihr wollt dieses und weitere Kinder katho­lisch erziehen?“ Katha: „Ja, das wollen wir.“ Löwe: „Dann sind alle Voraus­set­zungen erfüllt.“ Hirschberg: „Würde es Ihnen gefallen, uns in Tabgha zu trauen? Nicht in der Kirche, sondern an dem Altar­platz draußen?“ Löwe: „Das ist ein sehr würdiger Platz.“ Hirschberg: „Der Ort der wunder­baren Brotvermehrung.“

Löwe: „Der Platz gibt keinerlei tradi­tio­nelles Verständnis vor, aber wir bringen unser Verständnis mit. Ohne Tradition hätte uns die Heils­ge­schichte nicht erreicht. – Wer sollen denn die Trauzeugen sein?“ Hirschberg: „Meine Tochter; und vielleicht einer der Israelis?“

Löwe: „Mal sehen, ob einer von denen mitkommt.“ Hirschberg: „Vor Gott und nur wenigen Menschen. Eine ganz andere Hochzeit habe ich in diesem Frühjahr in Los Angeles erlebt: Die Hochzeit meiner Tochter. Soll ich erzählen?“ Löwe: „Erzählen Sie!“

Hirschberg schil­derte die Hochzeit von Hannelore und Bob. Danach trafen sie noch einige Absprachen für ihre Reise. Über Gastge­schenke wollten sie nochmal telefo­nieren. Auf Hirsch­bergs Angebot, gemeinsam von Mehlem aus zum Frank­furter Flughafen zu fahren, ging Löwe gerne ein. Man würde über König­stein fahren, den Wagen dort bei seiner Schwester abstellen und sich von seinem Neffen zum Flughafen bringen lassen.

Auf der Heimfahrt fuhr Katha. Sie sprachen ein paar Sätze über das Treffen, das beide für gelungen hielten. Sie waren der Meinung, Löwe sei eine eigen­willige, aber ihnen zugetane Person. Sie waren sich einig, er sei einer­seits sehr entge­gen­kommend und liebens­würdig, nicht reser­viert und nicht verschlossen, aber anderer­seits sei er alles andere als ein Kumpeltyp, er dränge sich nicht auf, sondern halte trotz des „Euch“ Distanz. Von sich selbst, so stellten sie fest, habe er nur wenig erzählt. Sie würden ihn auf der Reise schon noch besser kennenlernen.

Hirschberg versank in Gedanken. Eine Überlegung beschäf­tigte ihn: Verkün­digung durch zeitge­nös­sische Kunst. War das nicht eine Chance für die Kirche? Heute gingen mehr Menschen in die Museen als auf den Fußball­platz, hatte man ihm gesagt. Mehr und mehr Kirchen wurden geschlossen, weil es keinen Pfarrer mehr gab. Die Kirchen konnte man doch nutzen. Natürlich müsste man unter­neh­me­risch an die Sache heran gehen und die Einstellung aufgeben: Wir sind im Besitz der göttlichen Wahrheit; und wenn ihr der Kirche fern bleibt und der Pries­ter­nach­wuchs ausbleibt, dann machen wir halt den Laden dicht; euer Problem, wir sind ja schon katho­lisch; wegen euch können wir unsere Wahrheit schließlich nicht ändern. Das war selbst­herr­liches Pharisäertum.

Statt dessen sollte man die Kirchen als Kapital sehen. Sie standen an den besten Stand­orten der Städte und Dörfer, als Bauwerk meistens hervor­ge­hoben. Die Kirchen könnte man für Ausstel­lungen und Events der Verkün­digung nutzen, je nach baulicher Eignung so gestalten, dass eindrucks­volle Präsen­ta­tionen möglich wurden. Eintritt verlangen, Sponsoren gewinnen. Für jede Kirche einer Stadt sei ein spezi­elles Konzept zu entwi­ckeln, von Profis, nicht von Dilet­tanten. Alle Kirchen seien in einer Perspektive von Vielfalt und Ereig­nis­reichtum mitein­ander zu verknüpfen. Jede einzelne Kirche müsste zum aktuellen kultu­rellen Mittel­punkt ihres Stadt­viertels werden und alle Kirchen zusammen müssten eine Kultur­haupt­stadt leben­digen Chris­tentums bilden.

Am nächsten Tag schil­derte er Katha seine Überle­gungen. Sie fand sie großartig und meinte, er habe so viele tolle Ideen. Schon sein Konzept der neuen Schule, das er ihr in Köln bei ihrem Wieder­sehen darge­stellt habe, sei für sie faszi­nierend gewesen. Warum nur tue er nichts, damit seine Konzepte Wirklichkeit würden?

Er sah sie traurig an und sagte: “Dazu bin ich nicht ausge­rüstet. Und mein ganzer Lebenslauf ist nicht darauf hinaus­ge­laufen, etwas zu bewegen oder ins Werk zu setzen.“

Israelreise

… Jerusalem und das Land Jesu … Christentum: gespalten, verstaatlicht,
traditionalistisch … die unternehmerischen Fähigkeiten entscheiden

Die Tage bis zur Abreise vergingen schnell. Die Anreise zum Flughafen verlief wie besprochen. Seiner Schwester musste Hirschberg versprechen, nach der Reise sie mit Katha wenigstens für ein Wochenende zu besuchen. Hannelore stieß im Flughafen zu ihnen. Bob brachte sie. Der Checkin mit ausführ­licher Befragung und peinlich genauer Unter­su­chung des Gepäcks dauerte unendlich lange. Löwe und Hirschberg kannten das. Sie ließen es mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Die beiden Frauen staunten, wonach man aus Sicher­heits­gründen alles fragen konnte.

Um Mitter­nacht kamen sie in Tel Aviv an. Löwes Freund Jossi holte sie ab. Für die nächsten beiden Nächte sei vorge­sehen, dass Hannelore in seinem Haus schliefe. Löwe habe wie immer das Gäste­zimmer. Das Ehepaar Hirschberg schlafe bei Freunden. Der Mann sei Guide für jüdische Einwan­derer, denen er ihre neue Heimat zeige. Er kenne Israel bis in den letzten Winkel. Das komme ihnen zugute, denn er habe es übernommen, in dieser Woche ihr Guide zu sein. Seine Frau sei Hebräisch-Lehrerin, die den Immigranten ihre neue Sprache beibringe. Sie spreche auch Deutsch.

Am nächsten Morgen lernte Hannelore die Familie von Jossi kennen. Vier Kinder hatten Jossi und seine Frau Sara. Die beiden jüngeren, ein Mädchen und ein Junge, lebten noch bei den Eltern, die beiden älteren, zwei Jungs, waren beim Militär. Die Hirsch­bergs kamen mit ihren Gastgebern Shimon und Shula dazu. Im Wohnzimmer stand ein großer Tisch, an dem alle Platz hatten. An der Wand wurde ein Frühstücks­büfett aufgebaut. Während die Frauen den Tisch eindeckten und das Büfett bestückten, zogen die Männer sich zu einem ersten Gespräch in den kleinen Garten des Bungalows zurück.

Hirsch­bergs Wünsche wurden noch einmal abgefragt und ein Zeitplan aufge­stellt. Heute Vormittag eine Rundfahrt durch Tel Aviv, ein Gang über den Carmel-Markt und Fahrt hinüber nach Jaffa. Am Nachmittag Besuch des Diaspora-Museums. Morgen nach Jerusalem. Am Nachmittag ans Tote Meer, Massada und die Kuran­lagen. Übernachtung in einem der Hotels dort. An den folgenden Tagen Jericho und Galiläa.

Beim Frühstück saß Shula neben Hirschberg. Sie sprach wirklich ein sehr gutes Deutsch. Wo sie das gelernt habe, wollte Hirschberg wissen. Zwei Jahre habe sie in Deutschland gelebt, bei ihrem Onkel in Bremen. Der sei dort Arzt. Hirschberg sagte, wie dankbar sie seien, dass ihr Mann ihm und seinen beiden Frauen Jerusalem und das Land zeigen werde. Sie hätten großes Glück, ihr Mann sei gerade zu dieser Jahreszeit nach der Hitze des Sommers viel gefragt. Ob es denn keine allzu große Mühe mache, sie zu beher­bergen. Also diese zwei Nächte, die sie im Haus seien, würden keine Mühe machen.

Nach dem Frühstück Aufbruch in die Stadt und nach Jaffa. Das Diaspora­museum kannte Hirschberg schon von einem früheren Besuch her. Aufs Neue beein­druckte ihn die jüdische Kultur, die über Jahrhun­derte von den Juden, vertrieben aus ihrer Heimat, geschaffen und gepflegt wurde, die um das Zentrum der Synagoge das Volk Gottes auch in der Zerstreuung zusam­men­hielt und seine Identität bewahren ließ. Andere Völker waren im Laufe der Geschichte aufge­taucht und wieder verschwunden oder hatten nur in Verbindung mit einem Terri­torium die Zeitläufe überlebt – die Juden hatten als Heimatlose der Geschichte trotz aller Verfol­gungen als Volk überlebt.

Jerusalem. Sicherheit könne er nicht garan­tieren, sagte Shimon. Aber eine Reise nach Israel ohne den Besuch Jerusalems sei kein Israel-Besuch. Hirschberg stimmte ihm zu, relati­vierte, indem er sagte, auch andere Städte in der Welt seien heute gefährlich.

In der Jerusa­lemer Altstadt besuchten sie als erstes die Grabes­kirche. Die beiden Frauen hatten zu ihrer Reise­vor­be­reitung ausführlich darüber gelesen. Hirschberg besuchte sie zum dritten Mal. Die Zerris­senheit und Wider­sprüch­lichkeit der christ­lichen Kirchen, die sich hier darstellte, Frömmigkeit zelebrierend, jeder eigen­bröt­le­risch für sich – das machte ihn tief traurig. Für ihn kein Ort der Erbauung. Zu den beiden Frauen sagte er: „Hier ist Christus schon lange tot.“

Sie folgten ein Stück der Via Dolorosa. Dann bogen sie ab ins beein­dru­ckend renovierte jüdische Viertel. Weiter zur Klage­mauer. Ein Junge in jüdisch ortho­doxer Kleidung und eine Schrift­rolle tragend, begleitet von Männern mit Schlä­fen­locken, schwarzen Hüten und Kaftan­mänteln, drängte in die für Männer reser­vierte Zone vor der Mauer. Shimon erklärte: Bar Mizwa – das ist wie bei den Christen Konfir­mation oder Erste Hl. Kommunion. Wenn sie eine Kopfbe­de­ckung dabei hätten, könnten auch sie hinein gehen, aller­dings nach Geschlechtern getrennt. Die Frauen holten Schleier hervor und gingen bis vor die Mauer, befühlten sie. Hirschberg und Shimon warteten draußen.

Shimon sah sich um. Dann sagte er, sie könnten auf den Tempelberg. Als die Frauen zurück waren, gingen sie gemeinsam zu der Fußgän­ger­passage, über die man hinauf zur Al Aqsa-Moschee und zum Felsendom gelangt. Ein Mann kam auf sie zu, begrüßte Shimon, dann die anderen und forderte auf, ihm zu folgen. Die drei sahen Shimon an, der ihnen erklärte, das sei ein Freund von ihm, dem sie sich anver­trauen könnten, ihn würden sie hier unten wieder­treffen. Etwas verwundert gingen sie mit. Auch hier oben religi­ons­träch­tiger Boden. Die Al Aqsa-Moschee, ein lang gezogenes Kirchen­schiff mit kleiner silberner Kuppel, und der Prachtbau des Felsendoms, mit der großen Goldkuppel über einem Fleckchen von ursprünglich belas­senem Fels.

Von Jerusalem fuhren sie hinunter ans Tote Meer, von 800 Meter über Meeres­niveau auf 400 Meter unter Meeres­niveau. An Qumram vorbei, vorbei an En Gedi, nach Massada. Shimon bedauerte, dass sie nur für so wenige Tage gekommen seien, es gäbe so viel zu besich­tigen, wofür sie leider nicht die nötige Zeit hätten. Sie müssten wieder­kommen. Schon von Ferne beein­druckte Massada als aus der Ebene aufra­gender Felsstock, nicht zu einem Gipfel aufsteigend, sondern zu einem Plateau, den Bergen der judäi­schen Wüste vorgelagert.

Sie fuhren mit der Seilbahn nach oben. Über den Schlan­genweg zu Fuß zum Plateau hoch zu wandern, dazu fehlte die Zeit. Shimon erzählte die Geschichte: Herodes der Große hatte dort oben einen Palast mit allem erdenk­lichen Luxus erbauen lassen. Nicht nur wegen seiner Lage 400 Meter über dem Toten Meer mit ringsum steil abfal­lendem Fels, sondern wegen der noch zusätzlich gebauten Befes­ti­gungs­an­lagen galt der Palast als unein­nehmbar. Als in späterer Zeit nach einem vergeb­lichen Aufstand der Juden gegen die Besetzung des Landes durch die Römer eine Flücht­lings­gruppe eine Zuflucht suchte, floh sie nach Massada. Das war 70 nach Christus. Es waren etwa 1000 Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Zwei Jahre lang wider­standen sie der Belagerung durch die Römer. Die ließen einen Erdwall als Rampe an der Westseite des Bergs aufschütten und erstürmten schließlich mit Hilfe eines Belage­rungs­turms und eines Rammbocks von der Rampe her die Festung. Die Römer fanden nur Tote. Denn die Juden hatten sich gegen­seitig umgebracht, um nicht lebend in die Hände ihrer Feinde zu fallen.

Im Wasser des Toten Meers nahm die kleine Gruppe ein Bad. Aus aller Welt kamen Menschen mit Hautkrank­heiten hierher und hofften auf Linderung. Auch die Hirsch­bergs schmierten sich mit Schlamm ein und gingen ins Wasser. Und es stimmte: Hier konnte man sich aufs Wasser legen und ging nicht unter. Sie beendeten den Tag in einem der Kurhotels.

Nächster Tag: Zuerst nach Jericho. Eine blühende Oasen­stadt in der Jordan­senke. Eine der ältesten Städte der Welt, deren Ruinen erst zu einem kleinen Teil ausge­graben waren. Grund der Stadt­gründung: Der mächtige Quell­strom, der hier zu Tage tritt. Berühmt die Mauern, mit denen sich die Bewohner gegen Überfälle schützten. Aber wegge­blasen von den Israe­liten, als sie nach 40 Jahren Wüste in das ihnen verheißene Land eindrangen – so wird es im Alten Testament berichtet.

Hirschberg wusste, dass von hier aus ein Fußweg durch die Wüste rauf nach Jerusalem führt. Diesen Weg gab es schon zur Zeit Jesu. Jesus ging ihn, wenn er von Galiläa nicht über Samaria, sondern durch das Jordantal nach Jerusalem zog. Kam er dann einige Kilometer vor Jerusalem nach Betanien, kehrte er bei seinem Freund Lazarus und dessen beiden Schwestern ein. Über den Ölberg erreichte er Jerusalem. Diesen Weg wäre Hirschberg gerne gewandert. Nächstes Mal!

Sie fuhren zurück zur Schnell­straße nach Jerusalem und weiter zur Mittel­meer­küste, dann nordwärts bis Haifa. Shimon hatte sie in der Univer­sität angemeldet. Vor allen Dingen Hannelore wollte wissen, wie sie organi­siert sei, wer hier studiere, welche Abschlüsse gemacht werden könnten, mit wem man koope­riere – über all das wurden sie infor­miert. Danach kehrten sie im Restaurant israe­li­scher Araber unten in der Stadt ein. Sie übernach­teten in einem Hotel am Nordrand des Carmel-Gebirges mit einem traum­haften Blick auf die Stadt. Im Hafen lag ein Kreuzfahrtschiff.

Nach einer erhol­samen Nacht setzten sie ihre Reise mit einem Besuch der Ruinen in Akko fort, der Hafen­stadt der Kreuz­fahrer: Ritterzeit im Hl. Land. Auch über diese Epoche war die Zeit hinweg­ge­gangen. Hirschberg fühlte sich erinnert an Barbara Tuchmans Buch „Der ferne Spiegel“, über das er einige Einsichten über das Handeln der Menschen im Mittel­alter gewonnen hatte. Geschichte wiederholt sich, zwar unter anderen Gegeben­heiten, aber aufgrund der mangel­haften Lernfä­higkeit des Menschen.

Die weiteren Stationen: die Verkün­di­gungs­kirche in Nazareth, die Ausgra­bungen in Kafarnaum und schließlich Tiberias. Dort bezogen sie für die letzten beiden Nächte Quartier. In der Nähe von Kafarnaum hielten sie in Tabgha an, wo als Schluss­punkt ihrer Reise die kirch­liche Trauung von Katha und Hirschberg vorge­sehen war.

Shimon erläu­terte ihnen, bevor er sich vor dem Hotel für diesen Tag von ihnen verab­schiedete, das Programm für den kommenden Tag. Er habe von Jossi erfahren, dass Hirschberg Unter­neh­mens­be­rater sei. Deshalb wolle er mit ihnen ein Kibbuz im Hulatal besuchen und anschließend das Unter­nehmen des deutsch­stäm­migen Stef Wertheimer, dessen Zusage er gestern erst erhalten habe.

Zwei Vertreter der Kibbuz­leitung, der Vorsit­zende und der Verkaufs­leiter, zeigten ihnen die Plantagen des Agrar-Unter­nehmens. Die Gründer seien Pioniere gewesen. Denn hier sei vorher nichts anderes als ein großes Sumpf­gebiet gewesen. Daraus habe man frucht­bares Land gemacht. Man habe kein Kapital gehabt, nur Arbeits­kraft. Und von den Golan­höhen herunter hätten die Syrer sie immer wieder beschossen.

Für die Besucher aus Deutschland nahmen sich die Beiden viel Zeit. Erst als Shimon auf die Uhr sah, kam man zum Ende. Hirschberg fasste kurz zusammen, was sie erfahren hatten: Europäische Einwan­derer, von den sozia­lis­ti­schen Ideen Naphtalis beein­flusst, gründen eine Art landwirt­schaft­licher Genos­sen­schaft, die Obst und Gemüse anbaut. Das Leben wird gemein­schaftlich organi­siert. Es werden keine Löhne gezahlt. Jeder erhält für sich und seine Familie, was zum Leben notwendig ist. Die Aufgaben werden entspre­chend den Fähig­keiten der Mitglieder verteilt. Die Führungs­per­sonen werden in ihre Stellungen gewählt. In den Gremien der Gemein­schaft werden alle Entschei­dungen für das Zusam­men­leben gefällt. Es gibt so gut wie kein Privatleben.

Der Vorsit­zende bestä­tigte, dass es in der Anfangs­phase in etwa so gewesen sei, aber heute wesentlich diffe­ren­zierter. Die Grundidee gelte indes auch heute noch: Kein kapita­lis­ti­sches, sondern ein Gemeinschaftunternehmen.

Auf der Weiter­fahrt sagte Hirschberg zu Shimon, was sie gehört und gesehen hätten, erinnere ihn sehr an katho­lische Orden. Die Mitglieder lebten von dem, was sie gemeinsam erwirt­schaf­teten, auch dort gäbe es kein Privat­ei­gentum, die Amtsträger würden gewählt. In überschau­baren Gruppen wäre Kommu­nismus durchaus eine mögliche Lebensform, jedoch nicht auf staat­licher Ebene. Dort entarte die idealis­tische Idee der sozialen Gerechtigkeit.

Der Besuch bei Stef Wertheimer wurde zu einem Kontrast­pro­gramm, wie es drasti­scher nicht hätte sein können. Ein Mann mit der Begeis­te­rungs­fä­higkeit eines Luis Trenker, Tatkraft in Person, global orien­tiert, charis­ma­tisch. Sein Antrieb: Eine Gesell­schaft schaffen, in der jeder seine unter­neh­me­ri­schen Fähig­keiten entwi­ckelt, in der man friedlich zusam­menlebt aufgrund der Erfahrung, dass so Wohlstand entsteht.

Seine Sekre­tärin kam herein und legte ihm ein Ticket auf den Schreib­tisch. Er bat sie, den Produk­ti­ons­leiter zu rufen. Zu den Hirsch­bergs: Er müsse das Gespräch in einer viertel Stunde leider beenden, wenn sie noch Fragen hätten, bitte! Zur Führung durch den Betrieb habe er den Produk­ti­ons­leiter rufen lassen. Sie hätten hoffentlich Verständnis, dass er das aus Termin­gründen nicht selber tue.

Im Auto sagte Hirschberg: „Von solchen Menschen lebt eine Gesell­schaft. Aufgabe der Politik ist, ihnen die notwen­digen Rahmen­be­din­gungen zu schaffen. Genau so hat es Erhard mit der Sozialen Markt­wirt­schaft gemacht.“

Für den Abend hatten die Hirsch­bergs Jossi und Sara mit Löwe sowie Shimon und Shula zum Essen einge­laden. Denn am darauf folgenden Abend war Abreise. Er wollte sich bedanken und über die Reise­ein­drücke sprechen.

Nachdem der Dank ausge­sprochen und die Reise­er­fah­rungen mitge­teilt waren, fragte Jossi Hannelore und Katha, was ihnen besonders aufge­fallen sei.

Hannelore erklärte, sie sei im Gegensatz zu ihrem Vater zum ersten Mal in diesem Land. Zur Vorbe­reitung habe sie viel gelesen. Aber erst durch das Eintauchen in dieses Land, den Anschau­ungs­un­ter­richt von Shimon sei ihr klar geworden, wie sich hier Mensch­heits­ge­schichte wie in einem Brennglas ereignet habe und heute noch ereigne. Besonders von der Vielfalt des Landes, von dem dichten Neben­ein­ander geschicht­licher Zeugnisse und modernen Lebens sei sie beein­druckt. Modernes Leben in Tel Aviv, religiöses Leben in Jerusalem, archaische Wüsten­land­schaft und Ruinen vergan­gener Lebens­formen, Spitzen­for­schung und von Archi­tekten und Sozio­logen entworfene Wohngebiete.

Katha tat sich schwer, ihre Eindrücke in Worte zu fassen. Sie sagte, sie brauche noch Zeit, um ihre Beobach­tungen und Empfin­dungen zu verar­beiten. Sie legte ihren Arm um Shimon, der neben ihr saß, und sagte: „Ich danke dir. Jeden Tag habe ich gespürt, wie du dein Land und seine Menschen liebst. Menschen aus der ganzen Welt, die hierher gekommen sind, um eine Heimat zu finden. Menschen aller Hautfarben und vorher Bürger unter­schied­licher Staaten. Immer wieder habe ich mich gefragt, wenn ich in die Gesichter der einzelnen Menschen gesehen habe, wie lebt der, wo lebt der, was für Vorfahren hat er, welche Lebens­ein­stellung, welche Weltan­sicht? Der junge orthodoxe Jude? Der Polizist? Der Soldat? Die Schul­mädchen? Der bärtige Moslem? Die herum­streu­nenden Jungs? Der Schwarz­häutige? Die arabi­schen Frauen? Wie sehen diese Menschen sich selbst? Wie sehen sie die anderen?“

Hirschberg nahm noch einmal das Wort: Er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Norma­lität, die man sehe, nur trüge­rische Oberfläche sei, unter der ein aufge­wühltes und wohl auch gespal­tenes Volk lebe.

Jossi meinte, dieser Eindruck sei sicher stark beein­flusst von den Infor­ma­tionen, die von den Medien in Europa über Israel verbreitet würden. Hirschberg räumte ein, das spiele sicherlich eine Rolle. Aber irgendwie sei er bei früheren Besuchen öfter auf Anzeichen von Friedens­willen getroffen als jetzt. Über die Spannungen der Israelis mit den Paläs­ti­nensern habe er ein langes Gespräch mit Teddy Kollek geführt.

Shimon entgegnete ihm: Niemand sehne sich mehr nach Frieden als die Israelis. Was Barak diesen Sommer in Camp David Arafat angeboten habe, sei ein großzü­giges Friedens­an­gebot gewesen. Mehr könne Israel nicht zugestehen, wenn es seine Existenz nicht gefährden wolle.

Das Gespräch der vier Israelis wechselte vom Engli­schen ins Hebräische. Löwe meinte zu Hirschberg, beim Austragen der Meinungs­ver­schie­den­heiten unter­ein­ander machten das Israelis so. Sie ließen andere dann nicht gerne mithören. Löwe weiter: Die Ermordung Rabins sei eine Katastrophe für Israel, die Paläs­ti­nenser und die gesamte Region. Hirschberg: Für ihn sei der Konflikt zwischen Juden und Paläs­ti­nensern, die Fortschreibung der Geschichte des Alten Testa­ments, es gäbe nach wie vor nur Sieger und Besiegte. In früheren Zeiten habe das die übrige Welt kalt lassen können, heute gehe das alle Völker der globa­li­sierten Welt an. Alle seien von diesem Konflikt betroffen. Er habe sich im Frühjahr in Boston mit einem ameri­ka­ni­schen Professor darüber unter­halten. Der meine, Israel habe auf lange Sicht keine Überlebenschance.

Die Israelis beendeten ihre interne Diskussion und wandten sich wieder den anderen zu. Shimon drehte sich Katha zu: „Ja, ich liebe dieses Land und seine Menschen, alle, die hier leben. Und ich leide darunter, dass wir nicht in Frieden mit denen leben, die auch ein Recht haben, hier zu leben. Ihr seid Christen. Ich bin Jude, aber kein gläubiger Jude. Ich will euch nicht die Geschichte meiner Familie erzählen. Ich weiß, dass es nicht nur Juden sind, denen in der Geschichte unendlich Grausames angetan wurde und wird. Das hat mich dazu gebracht, nicht an einen Gott als Herrscher der Welt glauben zu können, der all diese Grausam­keiten auch in diesem, seinem angeblich gelobten Land zulässt.“

Schweigen. Nach einiger Zeit fuhr Shimon fort: „Vorhin waren wir euch gegenüber unhöflich, als wir Hebräisch gesprochen und uns gestritten haben. Sorry. Man sagt hier: Zwei Israelis, vier Meinungen. Wer bringt uns Gefahr? Wer beschwört all diese Angst und diesen Schrecken herauf? Es sind die Fanatiker unter uns, die Leute mit den Radikal­lö­sungen. Vor denen müssen wir uns hüten, denen müssen wir entge­gen­wirken.“ Hirschberg: „Sind die ortho­doxen Juden eine Gefahr für Israel?“

„Solange einer­seits die radikalen Israelis die Paläs­ti­nenser nicht anerkennen, sondern am liebsten vertreiben würden, und wenn das nicht geht, sie klein und gefügig halten wollen, werden wir uns hier zerflei­schen, weil das die Paläs­ti­nenser nicht mit sich machen lassen. Solange anderer­seits die radikalen Paläs­ti­nenser uns Juden ins Meer treiben wollen, unseren Staat zu vernichten suchen, wird es unauf­hörlich Tod und Elend und Verzweiflung geben, weil die Israelis das nicht zulassen werden. Leider diktieren die Radikalen auf beiden Seiten das Geschehen. Seit der Ermordung Rabins habe ich keine Hoffnung mehr, dass wir aus diesem Dilemma herauskommen.“

Löwe: „Könnte Druck von außen helfen? Von der UNO, von den Amerikanern?“

„Die UNO nimmt hier keiner ernst. Die Ameri­kaner wollen nicht.“ Hirschberg: „Und die Europäer?“ „Die sind – verzeihen Sie – unfähig. Auf dem Balkan würde doch heute noch ethnisch gesäubert, wenn die Ameri­kaner nicht militä­risch einge­griffen hätten.“

Das Essen wurde serviert. Man lobte die Speisen. Als der Nachtisch gereicht wurde, bat Hirschberg Shimon an den freien Neben­tisch, um mit ihm die finan­zi­ellen Dinge zu regeln. Die Tafel wurde aufge­hoben und man verab­schiedete sich. Jossi sagte zu Hirschberg: „Ich werde morgen euer zweiter Trauzeuge sein.“

Schon im Bett liegend, fragte Hirschberg sich, was für ein Mensch Jossi wohl sei. Er machte auf ihn einen weltläu­figen Eindruck. Er hatte wie Löwe eine statt­liche Figur, war nicht ganz so groß wie dieser. Auf einem kräftigen Hals saß ein mächtiger Kopf, lange blonde Haare, glatt nach hinten gezogen und zu einem Pferde­schwanz zusam­men­ge­fasst, blaue Augen – ein Wikinger. Seine Stimme war laut und durchdringend.

Bei solchen Menschen überkam Hirschberg früher ein Unter­le­gen­heits­gefühl, das er erst überwand, als er mit Politikern wie Freund Werner zu tun bekam. Die Erfahrung, dass man von solchen Menschen akzep­tiert wird, wenn man ihnen gegenüber selbst­be­wusst auftritt, hatte ihn erst befähigt, Unter­nehmer zu beraten. Denn auch unter Unter­nehmern gab es diesen Typus. Denen durfte man sich nicht mit dem Kopf unterm Arm nähern, sonst nahmen sie einen höchstens als Wasser­träger an.

Er sah zu Katha, die aus dem Bad kam: „Was für einen Eindruck macht Jossi auf dich?“

Katha: „Ich bin müde. Morgen, wenn ich es nicht vergesse.“

Die Sonne ging auf über dem See Genesaret. Katha war unruhig. Ein überdrehter Wachzu­stand hielt sie gefangen. Das übertrug sich auch auf das Leben in ihrem Bauch, da war Bewegung. Sie trat auf den Balkon, blickte auf den See im Morgen­licht. Da umfassten sie von hinten Jos Arme und wiegten sie sanft hin und her. Er strei­chelte ihren Bauch. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Ruhe überkam sie. Wohlige Wärme breitete sich aus. Sie schmusten, gingen ins Zimmer zurück und legten sich aufs Bett, liebten einander.

Nach dem Aufstehen machten sie einen Spaziergang am Seeufer entlang. Stumm, Hände haltend. Hannelore gesellte sich dazu, nahm die andere Hand des Vaters, passte sich ihren Schritten an und sagte: „Ich bin so froh, mit euch hier sein zu dürfen.“

Trauung

… am See Genesaret … unvollkommene und sündige Menschen … 
habt Verantwortung füreinander … das Hochzeitsmahl

Nach einem ausgie­bigen Frühstück fuhren sie nach Tabgha. Löwe sowie Jossi mit Sara und Shimon mit Shula würden, so war es verab­redet, in einer Stunde kommen. Die Hirsch­bergs setzten sich ans Seeufer. Jo nahm ein Neues Testament aus seiner Reise­tasche und las die Geschichte über die wunderbare Brotver­mehrung vor.

Löwe und die Israelis waren pünktlich. Die Vorbe­rei­tungen für die Messe begannen: Löwe ging mit Hirschberg und Katha in die kleine Basilika, in deren Nähe der Altar­platz lag und ging mit ihnen den Ablauf der Feier durch. Bevor er zu den anderen wieder hinausging, zeigte er ihnen die Sakristei, in der sie sich umziehen könnten. Er würde sie später in der Kirche abholen.

Draußen waren die anderen bei der Herrichtung des Platzes. Sara fegte den Platz. Jossi richtete zwei Stell­wände her. Auf der einen ein Stilleben mit Broten, auf der anderen mit Fischen, beide von Löwe gemalt. Shula holte aus einem großen Koffer einen Kelch, einen Silber­teller, zwei Karaffen, eine Flasche mit Rotwein, zwei Kerzen­ständer, zwei Kerzen und ein Kreuz. Als sich der Staub vom Fegen gelegt hatte, bedeckten Jossi und Shimon mit einer großen Brokat­decke die Altar­platte. Hannelore übernahm es, die Kultge­gen­stände auf dem Altar anzuordnen. Sara schmückte den Altar mit Blumen.

Löwe trat hinzu und legte eine Bibel sowie Texte aus. Die beiden Sitzbalken wurden vor den Altar gerückt und die beiden Stell­wände dahinter aufge­stellt. Über die ganze Szene spannten sie ein großes Sonnen­segel. Dann gingen sie zu den Autos und zogen sich festlich an. Löwe legte sein Pries­ter­gewand auf den Altar. Er holte das Ehepaar ab.

Katha hatte ein sand-farbenes schlichtes Leinen­kleid an. Die Taille war unter ihren Busen hochge­zogen, kurze Ärmel, knielang. Flache Leinen­schuhe. Eine schmale Halskette aus Gold mit Kreuz. Sonst keinerlei Schmuck. Die Haare nach hinten zu einem Dutt geknotet.

Hirschberg trug einen hell anthrazit-farbenen einfachen Anzug auf einem offenen weißen Hemd. Schwarze Sandalen, die er schon an den Vortagen öfters anhatte.

Alle gingen aufein­ander zu und umarmten sich zum Zeichen ihrer Gemein­schaft. Dann stellten sie sich vor die Sitzbalken, blickten einen Moment hinaus auf den See, der in der Sonne glänzte, und setzen sich. Shula hatte noch Sitzkissen aufgelegt. Auf dem Balken rechts saßen von außen zur Mitte Shula, Shimon, Sara und Jossi, auf dem anderen, von der Mitte weg Hannelore, Hirschberg, Katha und Löwe.

Löwe erhob sich, breitete die Arme aus und begann den Gottes­dienst mit einem Gebet: „Herr, wir sind in diese Landschaft, an diesen Ort gekommen, an dem du gelehrt und Wunder gewirkt hast, um deiner zu gedenken, dich zu loben, um uns zu dir zu bekennen und uns in der Eucha­ristie mit dir zu verbinden. Unter uns sind Johannes und Katharina, die als deine Jünger ihre Liebe zuein­ander vor dir und vor uns als den Bund ihres Lebens kundtun wollen. Wir sind unvoll­kommene, sündige Menschen. Wir bitten dich um Vergebung, bitten um Gnade und Erlösung von dem Bösen. Wir danken dir für die Überlie­ferung deiner Worte und Werke, die uns über deine Nachfolger in der Kirche erreicht haben. Wir beten dich an, wir preisen dich, wir verherr­lichen dich.“

Gemeinsam beteten sie das Kyrie: „Herr, erbarme dich unser!“

Löwe nahm die Bibel vom Altar, schlug eine Stelle des Alten Testa­ments auf und bat Shula, sie vorzu­lesen. Shula las: „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf. Gott, Du erregst lauten Jubel und schenkst große Freude. Man freut sich in Deiner Nähe, wie man sich freut bei der Ernte, wie man jubelt, wenn Beute verteilt wird. Denn wie am Tag von Midian zerbrichst Du das drückende Joch, das Tragholz auf unserer Schulter und den Stock des Treibers. Jeder Stiefel, der dröhnend daher­stampft, jeder Mantel, der mit Blut befleckt ist, wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers.“

Danach bat er Hannelore einen Text aus dem Neuen Testament vorzu­lesen. Hannelore las: „Als die Jünger Jesus über den See kommen sahen, erschraken sie, weil sie meinten, es sei ein Gespenst, und sie schrien vor Angst. Doch Jesus begann mit ihnen zu reden und sagte: Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht! Darauf erwiderte ihm Petrus: Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme. Jesus sagte: Komm! Da stieg Petrus aus dem Boot und ging über das Wasser auf Jesus zu. Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unter­zu­gehen. Er schrie: Herr, rette mich! Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Klein­gläu­biger, warum hast du gezweifelt?“

Löwe nahm die Bibel wieder an sich, schlug eine andere Stelle des Neuen Testa­ments auf und las nun selbst vor: „Das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst. Es trat ein Mensch auf, der von Gott gesandt war; sein Name war Johannes. Er kam als Zeuge, um Zeugnis abzulegen für das Licht, damit alle durch ihn zum Glauben kommen. Er war nicht selbst das Licht, er sollte nur Zeugnis ablegen für das Licht. Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.“

Löwe legte die Bibel zur Seite und zog aus den vorge­le­senen Texten folgende Schluss­fol­ge­rungen: „Gott lässt uns nicht im Stich. Er wird alle unsere Sehnsüchte erfüllen. Denn er ist vollkommen. Er steht außerhalb von Zeit und Raum, während seine Schöpfung durch den Tod begrenzt ist. Wir sind seine Geschöpfe. Wenn wir es schaffen, unsere Klein­gläu­bigkeit zu überwinden und an ihn zu glauben, statt in Überheb­lichkeit die Welt eigen­mächtig und egois­tisch mit Feuer und Schwert zu einem Paradies verwandeln zu wollen, wird er uns in seine Vollkom­menheit aufnehmen. In seiner Ewigkeit gibt es keinen Hunger, vernichtet uns kein Sturm. Das Reich Gottes scheint in dieser Welt auf als Licht. Dieses Licht gilt es zu erkennen, sich ihm zu öffnen, unser Leben in Gedanken, Worten und Taten auf das Licht hin zu gestalten. Dazu befähigt uns die Liebe zu Gott und den Menschen.“

Er betete: „Herr, in deinem Namen haben wir uns hier versammelt, zweitausend Jahre nach Deinem Eintritt in die Geschichte. Auch wir sind Klein­gläubige, voller Furcht und voller Ängste. Wir bitten dich, uns aufgrund der Gnade unseres Glaubens zu stärken, damit wir in dieser Welt der Stürme und Gefahren nicht untergehen.“

Er wandte sich Katha und Hirschberg zu. „Ihr beiden, die ihr schon eine Familie seid, besiegelt nun vor Gott, vor mir, vor Hannelore, Jossi und Sara, vor Shimon und Shula den Bund, den ihr mitein­ander geschlossen habt. Deine Schwester, Johannes, und deine Mutter, Katharina, haben euch bedrängt, diesen Bund nicht einzu­gehen. Sie haben euch gezwungen, gründlich darüber nachzu­denken, ob ihr den Alters­un­ter­schied eurer verschie­denen Genera­ti­ons­zu­ge­hö­rigkeit außer Acht lassen wollt. Ihr habt euch fürein­ander entschieden. Ihr habt den Bund der Ehe, wie ihn Gott in der mensch­lichen Natur grund­gelegt hat, vollzogen. Damit habt ihr Verant­wortung übernommen: für das noch ungeborene Kind, für euren Partner und euch selbst gegenüber. Katharina, es ist beglü­ckend, deine Liebe zu Johannes zu erleben; Johannes, es macht mich demütig, deine so ungezwungene Liebe zu Katharina zu sehen. Ihr wisst, wozu ihr euch aus freien Stücken entschieden habt. Ich frage euch: Seid ihr unerschüt­terlich dazu entschlossen, eure Verant­wortung in Liebe wahrzu­nehmen, bis euch der Tod scheidet?“

Beide: „Ja, das sind wir, so wahr uns Gott helfe!“

Daraufhin nahm Löwe die Hände der beiden, legte sie inein­ander und seine Hand darauf. Er sagte: „Vor Gott und den Menschen habt ihr ‚Ja’ zuein­ander gesagt und seid nunmehr auch für die Kirche ein Ehepaar. Herzlichen Glückwunsch!“

Er umarmte und küsste zuerst Katha, dann Hirschberg. Hannelore, Jossi, Sara, Shimon und Shula folgten seinem Beispiel. Zuletzt küssten und umarmten sich Hirschberg und Katha.

Löwe: „Beten wir!“ Er legte seine Hand auf Kathas Bauch, bat mit einer Geste Hirschberg, das Gleiche zu tun, ebenso Hannelore und Jossi. Zuletzt legte Katha ihre Hände auf die der anderen.

Löwe zu Katha: „Dein Gebet!“ „Mein Herr und mein Gott! Schütze mich und das Kind, das Du Johannes und mir geschenkt hast. Hilf mir, eine gute Mutter zu sein!“

Hirsch­bergs Gebet: „Herr, Du hast in mir neue Liebe entfacht. Gib, dass ich Katha ein guter Mann und dem Kind ein guter Vater und Dir ein treuer Diener bin!“

Hanne­lores Gebet: „Ich danke Dir, Herr, in diesen Tagen glück­licher Liebe dabei sein zu dürfen. Ich bitte Dich, lass auch mich fruchtbar werden, um Dein Licht in der Welt sichtbar zu machen.“

Jossis Gebet: „Gott, in Deinem Land gibst Du uns heute ein Zeichen des Friedens und Deiner Herrlichkeit. Befähige uns, einander zu verzeihen und uns zu versöhnen – mit allen, deren Leben wir teilen, mit denen wir zusammen leben.“

Löwe: „Herr, unser Gott! Ohne Deinen Beistand schaffen wir es nicht in unserer Unvoll­kom­menheit die Stürme dieser Welt zu überstehen. Stehe uns bei mit Deiner Kraft und Herrlichkeit auf unserer Pilger­schaft hin zu Dir!“

Alle: „Amen!“

Nach diesen Gebeten bat Löwe Hirschberg, seinen Glauben mit eigenen Worten zu bekennen. Etwas zögerlich, hin und wieder die richtigen Worte suchend, formu­lierte Hirschberg, woran er glaubte: „Ich lebe in Gott. Er ist der Allmächtige, ich sein Geschöpf. Er hat Himmel und Erde geschaffen. Ich gehöre zu seinen Kreaturen. Er hat sich den Menschen und auch mir offenbart. Ich darf ihn Vater nennen. Als Menschensohn kam er zu uns. Hierher vor 2000 Jahren. Durch Wunder hat er sich ausge­wiesen und seine Macht gezeigt. Mit seinen Lehren hat er uns den Weg in sein Reich aufge­zeigt. Auf Betreiben des Hohen Rates der Juden wurde er unter Pontius Pilatus gefoltert und gekreuzigt. Er ist aufer­standen und hat die Kirche gegründet. Zurück­ge­kehrt zu seinem Vater, hat er uns den Heiligen Geist gesandt. Auch für mich wird der Tod nicht das Ende sein, sondern der Anfang des ewigen Lebens. Denn er vergibt mir meine Sünden. Ich werde leben in der Gemein­schaft der Heiligen – das hoffe ich.“

Löwe warf sich das Messgewand über. Die Opfer­gaben, Brot und Wein, waren vorbe­reitet. Er betete: „Dich Gott, heiliger Vater, bitten wir, nimm unser Opfer an zum Lob und Ruhme Deines Namens, zum Segen für uns und Deine Kirche. Es ist würdig und recht, Dir immer und überall zu danken. Dich preisen wir mit allen Engeln und Heiligen und singen das Lob Deiner Herrlichkeit: Heilig, heilig, heilig ist Gott, der Herr aller Mächte und Gewalten. Erfüllt sind Himmel und Erde von Deiner Herrlichkeit. Hosanna in der Höhe. Ja, Du bist heilig, großer Gott, Du bist der Quell aller Heiligkeit. Sende Deinen Geist auf diese Gaben herab und heilige sie, damit sie uns werden Leib und Blut Deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus. Wir bitten Dich: Schenke uns Anteil an Christi Leib und Blut und lass uns eins werden durch den Heiligen Geist.“

Löwe winkte Hirschberg, Katha und Hannelore zu sich an den Altar. Die Frauen stellten sich rechts neben ihn, Hirschberg links. Er erläu­terte den anderen: „Kraft meines pries­ter­lichen Amtes werde ich jetzt den Auftrag Christi erfüllen und die Worte der Wandlung sprechen, so wie sie uns überliefert sind.“

Er nahm den Teller mit dem Brot: „Am Abend vor seinem Leiden nahm er das Brot in seine heiligen und ehrwür­digen Hände, erhob die Augen zum Himmel, zu Dir, seinem Vater, dem allmäch­tigen Gott, sagte Dir Lob und Dank, brach das Brot, reichte es seinen Jüngern und sprach: Nehmet und esset alle davon: Das ist mein Leib, der für euch hinge­geben wird.“

Er setzte den Teller wieder ab und nahm den Kelch: „Ebenso nahm er nach dem Mahl diesen erhabenen Kelch in seine heiligen und ehrwür­digen Hände, sagte Dir Lob und Dank, reichte den Kelch seinen Jüngern und sprach: Nehmet und trinket alle daraus: Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Tut dies zu meinem Gedächtnis.“

Er brach das Brot in Stücke, verteilte sie an die Frauen und Hirschberg, nahm sich das letzte Stück und alle aßen. Dann nahm er den Kelch, reichte ihn nach rechts, danach nach links, alle tranken, zuletzt er.

Anschließend beteten sie gemeinsam das Vater­unser. Nach einer Weile der Stille breitete Löwe die Arme aus und betete: „Herr, Deinen Tod verkünden wir und Deine Aufer­stehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit. Darum, gütiger Vater, feiern wir das Gedächtnis des Todes und der Aufer­stehung Deines Sohnes und bringen Dir so das Brot des Lebens und den Kelch des Heiles dar. Wir danken Dir, dass Du uns berufen hast, vor Dir zu stehen und Dir zu dienen.“

Er legte sein Gewand ab und zog Papiere, die vorbe­reitet auf dem Altar lagen, zu sich heran. Zu Jossi: „Du bist als Zeuge hier. Du musst jetzt unter­schreiben, was du gesehen und gehört hast, nämlich dass diese beiden hier ‚Ja’ zuein­ander gesagt haben.“ Jossi unter­schrieb. In gleicher Weise forderte Löwe Hannelore auf, als Trauzeugin zu unterschreiben.

Alle beglück­wünschten Katha und Hirschberg. Shimon überreichte Katha einen präch­tigen Rosen­strauch. Jossi fotografierte.

Sara lud zum Hochzeitsmahl. Sie setzte sich zu den Hirsch­bergs ins Auto und lotste sie über einen Fahrweg zu einem Park, der gleich am See lag. Die anderen folgten. Hinter dem Parkplatz ein Wald mit hohen Bäumen und im Schatten der Bäume ein Picknick­platz. Den Tisch verwan­delten Sara und Shula im Nu zu einer festlichen Tafel. Jossi und Shimon trugen Kartons mit Tellern, Schüsseln, Besteck etc. herbei. Dann kamen sie mit den Speisen und Getränken in Warmhalte-Containern und Kühlboxen.

Jossi bat mit lauter Stimme zu Tisch. Hirschberg und Katha wurden in die Mitte der Breit­seite der Hochzeits­tafel plaziert. Champagner wurde einge­schenkt und auf das Ehepaar angestoßen. Jossi sprach ein Dankgebet: „Unser aller Gott und Herr! Du hast uns hier in Deinem Heiligen Land zusam­men­ge­führt. Wir feiern in Frieden und Freund­schaft die Hochzeit von Johannes und Katharina. Unser Tisch ist reich gedeckt. Wir danken dir!“ Alle fassten sich bei den Händen und wünschten sich guten Appetit.

Nach den Vorspeisen erhob sich Jossi noch einmal: „Wir feiern dieses Mahl an einem schat­tigen und fried­lichen Ort. Aber wir wissen alle, dass uns Unfrieden umgibt. Wir leiden darunter, und ich schäme mich dafür, dass es uns nicht gelungen ist, in diesem Land Gottes Frieden zu schaffen. Ich weiß, dass es in der Weihnachts­ge­schichte, die im Neuen Testament erzählt wird, heißt: Auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade. Ich glaube, es ist dringender denn je, dass die Menschen guten Willens – ob sie Juden, Christen oder Moslems sind – sich zusam­mentun zu einer mächtigen Friedens­be­wegung. Euch, Johannes und Katharina, danke ich, dass ihr dieses Land und diesen Ort für eure Vermählung gewählt habt und wir dabei eure Gastgeber sein dürfen. Ich wünsche euch und uns Frieden und Freiheit.“ Alle erhoben die Gläser und Shimon wieder­holte: „Frieden und Freiheit!“

Hirschberg erhob sich. Er sagte: „Frieden und Freiheit! Aber wir neigen dazu, den Frieden hinten an zu stellen, wenn wir unsere Freiheit bedroht fühlen. Wir wollen für uns die Freiheit erhalten, nennen es Selbst­ver­tei­digung, ohne die Freiheit des anderen zu achten. Doch dadurch behält man seine Freiheit nicht, sondern verliert sie. Ohne Frieden keine Freiheit. Wer seinen Nächsten zum Opfer macht, wird schließlich selbst zum Opfer. Wir Europäer, und vor allem wir Deutschen, haben viel Unrecht getan und Unheil angerichtet, ehe wir diese Lektion gelernt haben – ich hoffe, wir haben sie gelernt. Dir, lieber Jossi, stimme ich unein­ge­schränkt zu: Wir müssen uns zusam­mentun zu einer mächtigen weltweiten Friedens­be­wegung der Menschen guten Willens – nicht als Naivlinge, nicht als Schwärmer und leicht­fertige Demons­tranten, sondern als ein Zusam­men­schluss derer, die als erstes bei sich selbst Frieden und Freiheit schaffen: In den Ehen und in den Familien.“

Er wandte sich an die Gastgeber: „Welch ein herrliches Gut Gastfreund­schaft ist, das erleben wir bei euch in großar­tiger Weise. Wie ihr uns aufge­nommen habt, wie uns Shimon das Land gezeigt hat, wie ihr heute uns diesen Hochzeitstag bereitet – das bewegt uns tief und macht uns glücklich. Wir sagen euch, dir Jossi, dir Sara, dir Shimon, dir Shula unseren herzlichen Dank. Ein beson­derer Dank gilt unserem Priester Karl Löwe, dessen Verdienst es ist, uns zusam­men­ge­führt zu haben. Priester und Künstler – das fügt sich in ihm zu einer wunder­vollen Person zusammen. Euch allen unser tief empfun­dener Dank!“

Löwe, der neben ihm saß, dankte ihm für seine Worte. Hirschberg: „Ich habe noch einen Wunsch. Nach all dem, was uns mittler­weile verbindet, möchte ich Ihnen das ‚Du’ anbieten.“

Löwe: „Gerne!“ Sie griffen zu den Gläsern und stießen aufein­ander an: „Johannes!“ – „Karl!“ Hirschberg schlug vor, alle in das Du einzu­be­ziehen. Und so kam es zu einer Szene herzlicher Verbrüderung.

Als das Mahl beendet war, alle aufstanden und sich die Beine vertraten, kamen Katha und Hannelore auf die Idee, im See zu schwimmen. Sie fragten Shimon, ob das erlaubt sei. „Ja, klar! Habt ihr denn Badesachen dabei?“ Die wären zwar schon in den Koffern verstaut, aber sie würden sie wieder rausholen. Hirschberg schloss sich ihnen an. Baden im See Genesaret.

Als sie zurück am Ufer waren, hörten sie Gitar­ren­musik und Gesang. Shula sang und Shimon begleitete sie auf der Gitarre. Sie hatte eine wunder­schöne helle und klare Stimme. Ihre Lieder verzau­berten. Als alle wieder beisammen saßen, sangen sie das eine und andere Lied gemeinsam. Ein stimmungs­voller Ausklang des Hochzeitstags.

Am späten Nachmittag packten die Hirsch­bergs nun endgültig ihre Koffer. Es gab einen herzlichen, alle bewegenden Abschied. Kurz vor Mitter­nacht startete der Flieger zu seinem vierstün­digen Flug nach Deutschland.

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