17.
Familie »» Glückliche Familie »» Glückliche
Namensgebung
… Petrus soll er heißen … Mutter Dohmen in der Eifel … Katha souverän und
liebevoll … bei Hirschbergs Schwester … Taufpaten …
Die Eindrücke ihrer Israelreise waren Katha und Hirschberg noch wochenlang präsent. Nur langsam wurden sie von den Tagesereignissen in den Hintergrund gedrängt. Kathas Bauch wölbte sich nun immer mehr. Noch zehn Wochen und das Geschöpf würde geboren werden.
Eines Abends griffen sie die Namensdiskussion, die sie einige Zeit vorher schon einmal geführt hatten, wieder auf. Katha sagte unter Missachtung des vereinbarten Verfahrens: „Ich würde ihn gerne Petrus nennen.“ „Warum?“ „Weil sich für mich mit dem Namen viel verbindet von dem, was wir gesehen haben.“ „Der See!“ „Ich habe in der Bibel alle Stellen über Petrus nachgelesen. Er ist für mich ein Mensch, keine Legende – und auch kein Heiliger.“
Hirschberg überlegte: „Er war kleingläubig, nahm den Mund schon mal etwas voll, hat Jesus verleugnet, war nicht sein Lieblingsjünger, auch nicht der scharfsinnige Kopf – aber der Fels, auf den Christus die Kirche gebaut hat.“
„Mir würde kein Name gefallen, der eine Modeerscheinung ist. Wie soll sich das Kind damit ein Leben lang identifizieren? Petrus ist ein zeitloser Name.“ Hirschberg fragte nach: „Peter oder Petrus?“ „Petrus. So wie der Name in der Bibel steht.“ „Das finde ich gut. Wir bleiben bei den Ursprüngen.“ „Wer ist dein Taufpatron? Der Täufer oder der Evangelist?“ „Der Täufer.“
„An Petrus gefällt mir, dass er mit seinen Schwächen beschrieben wird. Helden sind mir verdächtig, genauso wie Idole. Bist du mit Petrus einverstanden?“ „Ich hatte zwar einen anderen Favoriten, aber Petrus gefällt mir jetzt besser.“
„Und welchen Favoriten hattest du?“
„Habe ich vergessen.“
„Du lügst.“
„Ich hatte an Andreas oder Martin gedacht.“
„Aber jetzt sind wir beide für Petrus.“
„Weißt du, welche Katharina deine Namensgeberin ist?“
„Nein. Ich muss meine Mutter fragen.“
„Es gibt mehrere Frauen mit dem Namen Katharina, die heilig gesprochen worden sind.“
„Und was für Frauen sind das?“
„Nur über eine weiß ich etwas. Das ist die Katharina von Siena in Italien. Die hat dem Papst die Leviten gelesen, weil er nicht in Rom, sondern in Avignon residierte. Sie war eine Ordensfrau und politisch engagiert.“ „Soll ich auch Politikerin werden?“ „Du wirst jetzt erst einmal Mutter. An heiligen Müttern hat die Kirche Nachholbedarf.“ „Und Löwe wird unseren Sohn taufen?“ „Der ist jetzt unser Pfarrer.“ „Ich mag ihn.“ „Was würdest du sagen, wenn unser Sohn eines Tages erklärt, er wolle Priester werden?“ „Wenn er so einer wie Löwe wird, warum nicht?“
In den folgenden Wochen lösten die Hirschbergs ihre Zusagen an Einladungen und Besuchen ein. Zuerst kam Kathas Mutter. Sie fuhren mit ihr in die Eifel. Auf sonniges herbstliches Wetter hatten sie gehofft, aber es stürmte und regnete ununterbrochen. Also machte man es sich im Haus gemütlich. Der Kachelofen gab dazu die Wärme.
In den folgenden Wochen lösten die Hirschbergs ihre Zusagen an Einladungen und Besuchen ein. Zuerst kam Kathas Mutter. Sie fuhren mit ihr in die Eifel. Auf sonniges herbstliches Wetter hatten sie gehofft, aber es stürmte und regnete ununterbrochen. Also machte man es sich im Haus gemütlich. Der Kachelofen gab dazu die Wärme.
Mutter Dohmen wollte mit ihrer Tochter möglichst viel allein sein, beispielsweise in der Küche. Hirschberg solle, so meinte sie, es sich im Wohnzimmer bequem machen. Doch Katha drehte den Spieß um: Jo und sie seien in der Küche ein eingespieltes Team, sie solle es sich im Wohnzimmer bequem machen. Aber sie seien doch ständig beisammen, da müssten sie nicht auch noch beim Kochen zusammen sein, sie mache das gerne. Nein, das sei nicht nötig, sie solle sich ruhig mal verwöhnen lassen, wehrte Katha ab. Aber Küche sei doch keine Männersache, Jo – so dürfe sie ihn doch jetzt nennen – habe sicher anderes zu tun. Auch das verfing nicht. Noch ein Versuch: „Aber ich möchte nicht als Besuch behandelt werden. Kann ich denn gar nichts tun?“
Jetzt griff Katha zu einem nicht gerade feinen Abwehrmittel: „Im ganzen Haus müsste gestaubsaugt und Staub gewischt werden.“ Da wollte die Mutter dann doch lieber als Besuch behandelt werden und setzte sich leicht pikiert ins Wohnzimmer. Hirschberg holte einen Bildband über das Hohe Venn aus dem Schrank und gab ihn ihr mit einem Bedauern über das miserable Wetter.
In der Küche sahen sich die beiden an und Katha fragte leise: „Bin ich zu hart?“ „Hart ja, aber es geht wohl nicht anders, wenn wir verhindern wollen, dass sie sich zwischen uns schiebt.“ „Gerade das will ich nicht.“
Mutter Dohmen merkte, dass sie sich ihrer Tochter gegenüber fügen musste. Das schmeckte ihr zwar nicht, aber Katha verhielt sich konsequent. Die beiden erzählten von ihrer Israelreise und von ihrem priesterlichen Freund Löwe, den sie bei der Taufe kennenlernen würde. Als die Mutter wissen wollte, ob es denn schon einen Namen für den Kleinen gebe, sagte die Tochter, es gebe einen, aber der werde nicht verraten. Ihr Vorhaben, die Mutter zu fragen, wie es zu ihrem Namen Katharina gekommen sei, verschob sie auf eine spätere Gelegenheit.
Wegen des schlechten Wetters machten sie am nächsten Tag einen Ausflug nach Aachen. Sie besichtigten Dom und Rathaus, aßen im Domkeller zu Mittag und gingen danach ins Thermalbad. Hirschberg bot mit einem Augenzwinkern zu Katha einen Besuch im Spielkasino an, der mit der Miene „Für wen hältst du mich?“ abgelehnt wurde.
Als sie am Tag darauf Kathas Mutter am Bonner Bahnhof wieder verabschiedeten, war die Familien-Gemeinsamkeit zwar hergestellt, aber von Familienbande konnte keine Rede sein. Über die Begegnung in Köln vor einigen Monaten wurde kein Wort verloren. Aber sie war nicht vergessen. Mittlerweile waren Fakten geschaffen worden. Sich mit ihnen zu arrangieren, insbesondere mit dem Schwiegersohn aus ihrer eigenen Generation, das fiel Mutter Dohmen schwer.
Hirschberg bewunderte, wie Katha die Situation in der Eifel gesteuert hatte: geradlinig, keine Zugeständnisse, die sie später bereut hätte, wohlwollend, beherrscht, kein Versteckspielen, klare Verhältnisse. Das war souverän.
Am nächsten Wochenende stand der Besuch bei Hirschbergs Schwester an. Schön wäre, dachte er, wenn seine Schwester Katha wenigstens respektieren könnte. Er wagte nicht zu hoffen, sie könne Katha sympathisch finden, wenn sie in Person vor ihr stünde – und in ihr nicht die Frau sehen, die sie sich in ihren Phantasien vorgestellt hatte. Würde sie ihre wüsten Fehleinschätzungen wegwischen können und sich für eine vorurteilslose Begegnung öffnen?
Nein, sie konnte es nicht. Es kam zwar zu keinem bösen Wort, man war auch nicht nur höflich zueinander, sondern fand durchaus zu dem einen oder anderen persönlichen Wort, aber da war bei allem stets eine lauernde Zurückhaltung spürbar. Jeder achtete sowohl bei sich wie bei dem anderen darauf, wie er etwas sagte, auch Mimik und Gestik wurden kontrolliert beziehungsweise beobachtet. Katha bemühte sich, nicht zu verkrampfen, indem sie viel redete, von sich erzählte. Damit gab sie der Schwägerin Gelegenheit, sie zu mustern, sie mit ihren Augen abzutasten, sie zu checken.
Katha ließ sich nicht anmerken, dass ihr das unangenehm war. Doch dann schwieg sie plötzlich und lächelte die Schwester ihres Mannes nur noch an. Die Stille irritierte sie: „Erzählen Sie doch weiter!“ „Ich möchte nicht redselig erscheinen.“ „Haben Sie noch Geschwister?“ Die Schwester wollte nicht das Wort haben, sondern weiter beobachten.
Beim Abendessen wies Hirschberg seine Schwester darauf hin, dass sie Katha ständig mit ‚Sie’ anrede, obwohl sie doch jetzt Verwandtschaft sei. „Wenn ich bei der Hochzeit dabei gewesen wäre“, erwiderte die Schwester, „wäre mir das sicherlich bewusst, jetzt muss ich mich erst daran gewöhnen, eine neue Schwägerin zu haben. Aber du hast recht, wir sollten zum ‚Du’ übergehen.“ Sie nahm ihr Weinglas und stieß mit Katha an.
Katha wandte sich mit einer Frage an sie: „Was glaubst du, sollte ich von deinem Bruder wissen, das er mir von sich aus noch nicht erzählt hat?“
„Weiß ich, was er dir schon alles erzählt hat?“ Die Schwester sah ihren Bruder mit einem prüfenden Blick an. Der widerstand dem Blick und sagte: „Pass auf, was du sagst!“ Sie sah zu Katha rüber: „Er ist ein schwer erziehbares Kind.“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Er lässt sich nichts sagen. Schon als kleiner Junge hat er immer alles gewusst. Anderen gibt er Ratschläge, aber selber nimmt er keine Ratschläge an.“ „Mir gefällt, dass er so viel weiß.“
Jetzt verlor die Schwester für einen Moment ihre Kontrolle: „Bei dem Altersvorsprung, den er Ihnen gegenüber, Verzeihung dir gegenüber hat, wäre es ja wohl bedenklich, wenn er nicht etwas mehr wüsste.“
Schweigen. Die Schwester begann von ihren Enkeln zu erzählen. Einer von den Jungs sei ein kleiner Witzeerzähler. Aber sie habe kein Gedächtnis für Witze, und viele seiner Witze seien auch recht albern, bei manchen habe sie den Verdacht, der Junge verstehe gar nicht, was er zum Besten gebe. Katha fragte, ob er denn auch Blondinenwitze erzähle. „Ja, auch.“ Aber wie schon gesagt, sie könne sich so etwas nicht merken.
Katha fragte mit einem Seitenblick zu Hirschberg, ob sie denn einen Blondinenwitz erzählen dürfe. Die Schwester etwas verwundert: „Bitte! Du bist blond, ich war blond.“ „Zwischen zwei brünetten Frauen geht eine Blondine. Wie könnte man die Blondine bezeichnen?“ Pause. „Als eine Bildungslücke.“ Hirschbergs Schwester lachte, leicht irritiert.
Man verabschiedete sich voneinander mit gemischten Gefühlen. Man war nett zueinander gewesen, hatte Unverfängliches gesagt, hin und wieder auf den Busch geklopft, hatte auf Fragen ausweichend geantwortet oder ablenkend oder mit einer Gegenfrage.
Zwei Tage später flog Hirschberg nach Berlin, um auf der Tagung, zu der Freund Werner eingeladen hatte, ein Impulsreferat zum Thema ‚Ehe und Familie in der postindustriellen Gesellschaft’ zu halten. Katha kam nicht mit, sondern flog zu Frau Schneider nach Mallorca, um mit ihr die angebotene Zusammenarbeit zu besprechen. Sie wollte herausfinden, ob denn tatsächlich ein Umzug auf die Insel notwendig sei.
Die Veranstaltung in Berlin brachte interessante Einsichten, zeigte den analytischen Intellekt der Teilnehmer, beschwor die Gefahren erodierender Familien, pries aber gleichzeitig die Befreiung von traditionellen Bindungen. Letztlich entstand ein geistreiches Tohuwabohu auf höchstem Niveau. Düstere Prophezeiungen standen neben euphorischem Zukunftsgesäusel.
Der Besuch Kathas bei Frau Schneider brachte die gewünschte Klarheit. Am Telefon berichtete die Schneider Hirschberg, sie habe leider nicht so viel Arbeit, wie sie anfangs angenommen hätte. Darüber habe sie mit Katha gesprochen. Jetzt solle die erst einmal den Nachwuchs zur Welt bringen. Dann werde man weitersehen. Kein Wort mehr davon, sie sollten nach Mallorca umziehen. Hirschberg am Ende des Gesprächs: „Sie sind doch unsere Trauzeugin beim Standesamt gewesen – können Sie sich vorstellen, bei unserem Sohn Taufpate zu sein?“ „Macht der Löwe die Taufe?“ „Wir haben ihn noch nicht gefragt, doch ich gehe davon aus, dass er das macht.“
„Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich glaube, Taufpaten aus Kathas Generation wären besser, wenn das mehr sein soll als nur eine Formsache.“ Hirschberg gab ihr recht. Mit Katha überlegte er an einem der nächsten Tage, wer als Pate infrage käme. Sie einigten sich darauf, dass sie ihre Schwägerin ansprechen werde und Hirschberg seinen Neffen Joachim. Sie waren zwar beide von dieser Lösung nicht begeistert, aber nachdem sie bei den Trauzeugen auf dem Standesamt niemanden von der Familie und bei der kirchlichen Trauung in Israel nur Hannelore berücksichtigt hatten, wollten sie nunmehr die Familien beteiligen und dem Rat der Schneiderin folgen, die jüngere Generation zu berücksichtigen.
Mit Löwe wollten sie möglichst bald sprechen und sich auch den Dorfgasthof an seinem Pfarrort daraufhin ansehen, ob er für das Essen nach der Taufe tauge. Ohnehin hatte Katha mit Löwe noch einiges wegen seiner Ausstellung in Palma zu besprechen. Löwe ließ sich nicht lange bitten. Er sagte zu, den Petrus Hirschberg zu taufen.
Das Besuchswochenende bei Kathas Bruder und Frau gab die Gelegenheit, die Schwägerin zu bitten, Taufpatin von Petrus zu werden. Sie fragte, wie es zu dem Namen gekommen sei. Das nahmen die Hirschbergs zum Anlass, von ihrer Israelreise ausführlich zu erzählen. Die Schwägerin sagte, sie fühle sich geehrt und werde diese Aufgabe selbstverständlich übernehmen. Die Gespräche gingen über Schwangerschaft, über Beruf und Familie. Die Dohmens erzählten von ihren Bemühungen, einerseits ihre Karrieren nicht zu gefährden, andererseits ihre Ehe und ihr Kind nicht zu vernachlässigen. Hirschberg versuchte, auch andere Themen anzuschneiden, stellte jedoch fest, dass die beiden vom Zeitgeschehen um sich herum nicht allzu viel wahrnahmen. Was sie so mitbekamen, war mehr oder weniger zufällig.
Petrus
… in der Stille winterlicher Natur … Hingabe statt Selbstbestimmung … die
Freude der Geburt … Feier mit Familie und Freunden … Kathas Männer …
Nach anstrengenden Wochen zogen sich die Hirschbergs zwei Tage vor Weihnachten in ihr Eifeler Ferienhaus zurück. Sie wollten zur Ruhe kommen, ihr erstes gemeinsames Weihnachten und den Jahreswechsel feiern. Katha hatte einen Koffer mit Weihnachtsschmuck mitgebracht. Hirschberg besorgte den Weihnachtsbaum. Zusammen kauften sie in Monschau eine Maria, einen Josef und ein Christkind. Am Morgen des Heiligabends dekorierten sie ihr Heim.
Mittags fuhren sie rüber nach Baraque Michele zu einer kleinen Vennwanderung. Sie gingen zur Hillquelle und noch ein Stück den Wasserlauf entlang, bis sie einen weichen und trockenen Rastplatz fanden. Er setzte sich, angelehnt an einen Baumstamm, sie setzte sich vor ihn zwischen seine Beine und lehnte sich gegen ihn zurück, von seinen Armen umschlungen.
Sie machten Jahresrückblick, gaben sich Stichworte, verrieten sich ihre bisher nicht ausgesprochenen Ängste. Was wäre anders gelaufen, wäre sie nicht nach Rio gekommen? Was, wenn er sich nicht von ihr hätte umstimmen lassen? Was hätte in Israel alles passieren können? Sie hatten Grund, ihrem Schicksal sehr dankbar zu sein. In der kommenden Nacht würden sie zu Löwe in die Christmette fahren. Für den zweiten Weihnachtstag hatten sie ihn zu sich zum Mittagessen eingeladen.
Sie saßen stumm aneinander geschmiegt. Den ganzen Tag über war es nicht richtig hell geworden. Eintöniges Grau bedeckte den Himmel. Kein Lüftchen regte sich. Kein Laut. Jetzt fielen aus diesem Grau der unendlichen Stille Schneeflocken, die ersten dieses Winters. Die Beiden rührten sich nicht, ließen sich vom stärker werdenden Schneefall in die Natur einbeziehen, die nun in ihren Winterschlaf gebettet wurde. Erst als die Nacht sich ankündigte, erhoben sie sich, klopften sie den Schnee von ihren Anoraks und gingen zurück zum Auto.
Weihnachten und die Jahreswende vergingen in Atem schöpfender Harmonie. Der Besuch von Löwe war anregend und vertiefte die in Israel gewonnene Freundschaft. Die letzten Wochen der Schwangerschaft standen bevor. Sie suchten eine Hebamme und ließen sich von ihr alle wichtigen Informationen geben. Gemeinsam sahen sie sich einige Geburtsstationen an. Ein paar Tage lang spielten sie mit dem Gedanken einer Hausgeburt, zu der die Hebamme auch bereit gewesen wäre. Schließlich hatte Katha mit ihrer Schwangerschaft so gut wie keine Probleme.
Doch dann entschieden sie sich für eine kleine Privatklinik, deren Wöchnerinnenstation so gestaltet war, dass es nicht nach Krankenhaus aussah und roch, sondern nach freudiger Mutterschaft. Großfotos von Schwangeren und stillenden Müttern hingen an den Wänden, auch einige Fotos von einer Geburt. Im Eingangsbereich hing eine Tafel, auf der die einzelnen Phasen des Geburtsvorgangs dargestellt waren. Der leitende Arzt und die Mitarbeiter, mit denen sie sprachen, machten einen recht sympathischen und kompetenten Eindruck. Hier sollte es daher passieren.
Auch wenn weiterhin keinerlei Beschwerden auftraten, von gelegentlicher Appetitlosigkeit abgesehen, kam Katha nun doch öfter ins Grübeln – und das beeinflusste ihre Stimmung. In ihr wurde ein neuer Mensch mit zwingender Naturhaftigkeit groß, ohne dass sie irgendeinen Einfluss darauf hatte. Konsequent und ohne Stillstand entwickelte sich dieses Wesen in ihr. Sie war Mutterboden jungen Lebens. Sie schwankte zwischen dem aufbäumenden Standpunkt „Mein Bauch gehört mir“ und dem annehmenden „Mir geschehe nach deinem Willen“.
Sie musste sich entscheiden, und sie entschied sich für die Unterordnung. Aber unheimlich war es ihr dann doch wieder, wenn sie die Macht spürte, mit der sie zur Mutter gemacht wurde. Im nächsten Moment überkam sie unbändige Freude, dass sie neues menschliches Leben hervorbringen durfte. Sie sah sich dann als gottergebene Frau und dankte für die Weisheit, mit der die Natur in ihr waltete.
Sie dankte auch für die Geborgenheit, die ihr durch ihren Mann zuteil wurde. Sie verfiel in Traurigkeit, wenn sie daran dachte, wie viele Frauen, oft junge Mädchen, in dieser Situation allein gelassen wurden. Das Heranwachsen und das Gebären waren von Natur aus verlässlich geregelt. Doch danach, wenn der Mensch aus diesem Geschenk verantwortungsvoll Zukunft machen sollte, versagte er vielfach. Kinder, die eine Freude sein sollten, wurden von vielen Frauen als unerwünscht, hinderlich, einschränkend, lästig empfunden – „Mein Bauch gehört mir!“, schrien die gottlosen Frauen.
Ihre Arbeiten lenkten Katha ab. Aber immer wieder kehrten ihre Gedanken zurück zu ihrem Bauch, überlegte sie, ob sie denn alle notwendigen Vorbereitungen getroffen hatte. Hannelore kam zu Besuch. Nein, bei ihr tue sich noch nichts. Bob sei schon etwas ungeduldig. Zu Katha: Es sei wunderschön zu sehen, wie gut ihr die Schwangerschaft bekomme. Die restlichen Wochen und die Geburt würden sicherlich auch komplikationsfrei verlaufen.
Katha erzählte, wie es ihr bisweilen unheimlich vorkomme, mit welcher Gewalt sich der Kleine in ihr breit mache, heranwachse. Hin und wieder empfinde sie das fast wie eine Bedrohung. Wenn Jo ihr nicht diesen starken Halt geben würde, ihr nicht diese uneingeschränkte Sicherheit böte und unbeirrbar die Selbstverständlichkeit des Alltags lebe – sie wisse nicht, ob sie so froh und gelassen sein könne. Einerseits sei es wunderbar, sich in die Situation hinein loszulassen und sich ihr zu ergeben, wissend, da ist einer, der mich schützt und behütet, andererseits befalle sie schon mal so etwas wie Wut, sich nicht als Herr der Situation zu fühlen, sondern als von außen verfügt.
Hannelore erschrak und überlegte, was Katha denn meine. So radikal hatte sie das Verständnis von Schwangerschaft noch nicht bedacht. Sie fragte: „Empfindest du Schwangerschaft als Erniedrigung?“
„Nein. Aber du kannst dich nur freuen, wenn du sie uneingeschränkt akzeptierst.“
„Was meinst du mit akzeptieren?“
„Du musst akzeptieren, dass du Mutter wirst.“
„Du musst dich selbst akzeptieren.“
„Das auch. Aber es verändert sich ja etwas mit dir, ohne dass du großen Einfluss darauf hast. Und das musst du mit dir geschehen lassen. Du musst akzeptieren, dass dein Bauch dir nicht gehört – oder du musst abtreiben.“
Jetzt erkannte Hannelore, dass Katha den Kernpunkt feministischer Emanzipation meinte. Eine Frau, die nur sich selbst als maßgebend in der Welt sieht, kann nicht akzeptieren, dass Sex noch etwas anderes als Sex ist, und muss die eingebettete Fortpflanzungsfunktion ausschließen, notfalls durch Tötung. Denn sonst würde sie anerkennen, dass in ihr sich eine Entwicklung vollzieht, die sie zwar schädigen oder befördern, aber nicht manipulieren oder selbstherrlich gestalten kann. Mutter werden ist Hingabe – also nicht zeitgemäß.
Petrus kam kurz vor Mitternacht zur Welt. Am Nachmittag gab es die ersten Anzeichen, dass seine Geburt bevorstand. Zwei Tage früher als ausgerechnet. Katha packte ihre schon zurechtgelegten Sachen und Hirschberg fuhr sie in die Klinik. Er würde dabeibleiben, zum ersten Mal bei der Geburt eines seiner Kinder. Als Hannelore und Thomas geboren wurden, war es noch üblich, den Vater vor die Tür zu setzen.
Nach weiteren Wehen war die Hebamme der Meinung, ja der Kleine könne in den nächsten Stunden kommen. Aber erst nach zehn Uhr wurde es ernst. Die ersten Presswehen kamen. Hirschberg hielt Kathas Hand. Langsam öffnete sich der Muttermund. Die Endphase begann. Unter Schmerzen und mit ganzer Kraft half sie dem Jungen aus ihrem Leib. Im Geburtskanal stockte der Vorgang für ein paar Momente. Die Geburtshelferin warf sich auf Kathas Bauch und mit einem Schwall von Flüssigkeit schoss Petrus hervor. Er wurde von der Hebamme in Empfang genommen und Katha auf den Bauch gelegt.
Die Hebamme zog sich in den Hintergrund zurück. Katha war schweißüberströmt und strahlte vor Glück. Langsam kam sie zur Ruhe, sie hatte alle Schmerzen vergessen und war voller Freude mit ihrem Jungen und dem Vater, der sich jetzt vorbeugte, um den kleinen Petrus aus nächster Nähe anzusehen. Schließlich trat die Hebamme wieder vor und fragte Hirschberg, ob er die Nabelschnur durchschneiden wolle. Er nahm die Schere und trennte. Die Hebamme nahm den Kleinen hoch und machte eine erste Untersuchung: messen, wiegen, testen. Dann wurde Petrus zum ersten Mal angelegt. Er saugte kräftig. Dann schlief er ein.
Die Schwester der Säuglingsstation kam, beglückwünschte die Eltern und nahm den kleinen Menschen für den Rest der Nacht mit zu sich auf die Station. Hirschberg verabschiedete sich leise und sanft. Morgen Mittag könne er Mutter und Kind abholen, wenn die weiteren Untersuchungen nichts Gegenteiliges nahe legen würden, er rufe am besten gegen Mittag an, um nachzuhören, sagte die Hebamme. Was sie so auf den ersten Blick feststellen könne: Der Knabe sei ein prächtiger neuer Erdenbürger.
Hirschberg konnte lange nicht einschlafen. Ihm war noch einmal ein Sohn geboren worden. Ihm war, als könne er erst heute ermessen, was das bedeutet. Zwei erwachsene Kinder hatte er und wusste, wie Freude und Leid das Leben von Eltern durchziehen. Aber jetzt war ihm, als wäre er zum ersten Mal Vater geworden. Wie viele Jahre ihm gegeben waren, um diesen Sohn in seiner Kindheit und Jugend zu begleiten, ihm Liebe zu geben – er wusste es nicht. Aber jedes Jahr, jeden Tag würde er als Geschenk annehmen, um gemeinsam mit dieser wundervollen Mutter ein freudiges Leben zu schaffen. Er betete.
Als er mittags mit Katha telefonierte, hatte sie schon alle Ergebnisse. Er könne sie abholen: „Mutter und Kind sind wohl auf.“ Ein wenig schlapp sei sie, aber überglücklich. Jetzt lebe sie für zwei Männer. Daran müsse er sich gewöhnen.
Petrus veränderte abrupt den Tagesablauf im Hause Hirschberg. Erst nach einigen Tagen war er nicht mehr so ganz der Mittelpunkt allen Geschehens. Hirschberg begann, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Katha stellte erste Überlegungen an, wie die Tauffeier gestaltet werden könnte. Einzuladen waren Hirschbergs Schwester samt Kindern und Kindeskindern, ihre Mutter, ihr Bruder mit Familie, die Kligers sowie die Schneiders und Bergers. Einladen würden sie auch ihren Vater und Thomas. Sie besprach ihre Vorstellungen mit Hirschberg und nahm die Sache in die Hand.
Bei der Taufe hielt Kathas Schwägerin Petrus auf dem Arm, Joachim stand daneben. Für beide war die Situation nicht fremd, auch sie hatten ihre Kinder taufen lassen. Löwe beschränkte sich nicht darauf, die liturgischen Texte zu sprechen und die Gnade spendende Handlung vorzunehmen. Er erläuterte nach dem Taufakt den Sinn und die Weltanschauung, die sich in diesem Akt zu Beginn des Lebens ausdrückt.
Warum Kindertaufe? Auch darauf ging er ein, indem er über Elternschaft und Erziehung, über Familie und Gesellschaft sprach, ohne deren Einfluss kein Mensch groß werde. „Ein Kind wächst in die Welt seiner Eltern hinein, und darin steckt immer ein Menschen- und Weltbild.“ Niemand käme auf die Idee, einem Kind die Nationalität seines Heimatlandes vorzuenthalten mit dem Argument, als Erwachsener solle es die Freiheit haben, seine Nationalität selbst wählen zu können.
Petrus war still und friedlich. Jetzt hatte ihn Katha auf dem Arm. Löwe zeigte auf ihn: „Noch ist er nicht für sich selbst verantwortlich, aber wir für ihn. Wir alle sind für die Kinder dieser Welt verantwortlich, vor allem für unsere eigenen Kinder. Diese Aufgabe kann der Staat nicht erfüllen, auch wenn es viele Leute heute so wollen.“
Später beim Zusammensein der Taufgesellschaft im Sälchen der Dorfgaststätte bei Kaffee und Kuchen hörte Hirschberg, wie Herr Schneider zu Löwe sagte: „So sehr wie ich Sie persönlich schätze, so enttäuscht und angewidert bin ich von der Kirche.“ Löwe sah ihn traurig an. Er sagte: „Da sind Sie nicht allein. Ich höre das oft. Aber das ist wie mit dem Internet: Sie kommen nicht ins Netz ohne Provider, auch wenn der Ihnen nicht gefällt. Sie sind auf ihn angewiesen. Sie müssen sich mit ihm abfinden. Er hat ja vielleicht auch ein paar gute Seiten. Wenn es Ihnen hilft: Auch ich leide an der Kirche und bin doch ihr getreuer Diener.“
Hirschberg ließ seinen Blick schweifen. War das eine Familienversammlung? So wie er Familie verstand: nein. Er kannte nicht mal alle. Einige der Enkelkinder seiner Schwester sah er zum ersten Mal. Wenn Familie nicht unter einem Dach oder in der Nachbarschaft miteinander lebt, ist sie aufgelöst. Daran kann das gemeinsame Feiern von Hochzeiten, Taufen, Erstkommunionen und Beerdigungen nichts ändern.
Nur wenn persönliches Kontaktinteresse besteht, findet man zusammen. Das ist dann so, wie man Freundschaften pflegt, dachte er. Hannelore saß neben ihm. Er erzählte ihr von seinen Gedanken. Aber sie hörte nicht zu. Als er merkte, dass sie in Gedanken woanders war, versuchte er herauszufinden, was sie beschäftigte. Doch sie war wortkarg. Er provozierte: „Und wann ladet ihr zur Taufe ein?“ Unwirsch erwiderte sie: „Dazu müsste ich erst einmal schwanger werden.“ Hirschberg verstand und schwieg.
Als er sich wieder im Raum umsah, entdeckte er, dass Katha und das Kind fehlten. Wahrscheinlich stillte sie gerade. Die Wirtsleute hatten ihr dazu ihr Wohnzimmer angeboten. Er ging zu Löwe, der unbeteiligt am Gespräch zwischen den Schneiders und den Bergers saß. Ob er mit zu Katha komme, fragte er ihn. Wie vermutet fanden sie die junge Mutter beim Stillen. Hirschberg: „Alles ok?“ „Ich fühle mich wunderbar. Ein friedlicher Sohn, ein fürsorglicher Vater und ein priesterlicher Freund. Ich bin gesegnet mit beglückenden Männern.“
Der Wirt kam hinzu und erkundigte sich, ob es Wünsche gebe. Zu Löwe: „Sie sind für uns ein Glücksfall. Wir hätten hier im Ort schon seit Jahren keinen Pfarrer mehr, wenn Sie sich nicht hier niedergelassen hätten. Ich hoffe, Sie bleiben uns noch lange erhalten.“ Er sah zu Petrus an der Mutterbrust: „Der zieht aber kräftig!“ Dann ging er wieder. Auch Löwe und Hirschberg gingen wieder. Katha sagte, sie käme gleich nach, wenn der Kleine eingeschlafen sei.
Die Taufgäste hatten sich in Grüppchen aufgeteilt. Die jungen Männer standen an der Theke im Gastraum. Hirschbergs Schwester saß mit den Müttern im Sälchen und beobachtete die Enkel beim Spielen. Die Schneiders und Bergers saßen noch an ihrem Tisch. Die Kligers hatten sich getrennt, Bob stand bei den Männern an der Theke, Hannelore saß bei den Müttern. Von irgendwoher kamen die Dohmens. Mutter Dohmen: „Wir wollten jetzt fahren.“ Hirschberg: „Katha kommt jeden Augenblick. Sie wartet nur noch, bis der Kleine eingeschlafen ist.“ Augenblicke später kam sie und ihre Familie verabschiedete sich. Ihre Mutter wollte den Kleinen noch einmal sehen. Katha ging mit ihr zu seinem Körbchen. Nach und nach verabschiedeten sich auch die anderen Gäste.
Familienalltag
… leben wie in einem Sandkasten … könnte der „reiche Jüngling“ sein … man
kann es oder man kann es nicht … wie man Ehe zum Scheitern bringt …
Löwe lud die Hirschbergs und die Schneiders noch zu einem Besuch in seinem Atelier ein. Er habe eine neue Arbeit fertig. Es war eine Installation, die fast den ganzen Raum einnahm: Ein großer Sandkasten, in den von der linken Seite her eine Kinderrutsche führte. Auf dem hügeligen Grund aus hellbraunem und von allerlei Plastikabfall bedecktem Sand standen Urnen unterschiedlicher Größe und Farbe. Eine weiße Urne stand inmitten einer Bergsteiger-Ausrüstung: Seil, Pickel, Steigeisen, Schutzhelm. Inmitten einer Ansammlung leerer Flaschen stand eine gelbe Urne. Eine große braune Urne stand auf einem üppig eingedeckten Essplatz mit Messern, Löffeln, Gabeln und Gläsern. Aus einer matt grauen Urne kam ein Fädchen, an dem ein paar bunte Luftballons hingen. Hinter einer anderen, grünen Urne das verblichene Foto eines Mannes im Goldrahmen. Ein geöffneter Koffer mit lauter Banknoten, dazwischen eine blaue Urne. Eine rote Urne mit Springerstiefeln davor. Aus der sandfarbenen Urne daneben quoll Klunker. Halsketten, Geschmeide, Armringe, Ohranhänger. Aus dem Sand ragte der Torso einer jungen Frau. Davor eine lila Urne. Auf der rechten Seite gegenüber der Rutsche standen Urnen in Reih und Glied hintereinander vor einer Waage, die auf der Umrandung des Sandkastens stand. Alles war dicht ineinander kollagiert.
Hirschberg zu Löwe: „Welchen Titel hat das Werk?“ „Urnenfeld“ Schneider: „Eine Auftragsarbeit?“ Löwe: „Ich hatte doch von der aufgegebenen Kirche erzählt, deren Modell da drüben steht – sie wird zu einem zeitgenössischen Museum umgebaut. Dieses Urnenfeld wird mein Beitrag sein.“ Frau Schneider: „Nun sagt doch erst einmal, wie euch das Werk gefällt. Auf mich wirkt das provozierend. Das wollen Sie ja wohl auch.“
Löwe lächelte und schwieg. Katha: „Bedaure. Ich denke an den Sandkasten, in dem der Petrus in einem Jahr oder so spielen wird.“ Hirschberg: „Löwe meint, wir alle leben in einem Sandkasten.“ Frau Schneider: „Ich weiß, was der Künstler uns sagen will: Wenn ihr zu Asche geworden seid, werdet ihr gewogen, das heißt, nach dem beurteilt, was ihr angestellt habt. Der Bergsteiger kommt gut weg.“ Zu Löwe: „Habe ich recht?“ Hirschberg flüsterte Schneider ins Ohr: „Der in der Urne mit dem Geldkoffer war der reiche Jüngling.“
Löwe sieht zu den beiden rüber. Hirschberg laut: „Entschuldigung, mir kam der Gedanke, der mit dem Geldkoffer könnte der reiche Jüngling aus der Bibel gewesen sein.“
Frau Schneider: „Oder ein Bankräuber.“
Hirschberg: „Ganz im Ernst: Ich finde die Arbeit großartig. Sie macht nachdenklich, sie weist auf etwas hin, sie versinnbildlicht, sie konstatiert, sie fasst zusammen. Ohne Zeigefinger, ohne Drohgebärde – jeder ist seines Glückes Schmied – aber am Ende muss jeder auf die Waage. Das ist Gerechtigkeit. Und eine ehemalige Kirche ist genau der richtige Ort für so ein Kunstwerk. Glückwunsch!“ Löwe: „Danke. Wenn man so eine Arbeit gemacht hat, ist man voller Zweifel. Ist es banal? Ist es stimmig? Genügt es ästhetischen Ansprüchen?“
Schneider: „Als Betrachter nehme ich mir die Freiheit zu sagen: Gefällt mir oder gefällt mir nicht. Von manchem Künstler fühle ich mich verarscht. Manches mag ja im Sinne der Kunsttradition und der Kunsthochschulen sowie heutiger Künstlermilieus samt Feuilletonanhang durchaus gekonnt sein. Aber für mich gilt: Wer mir nichts zu sagen hat, der erreicht mich nicht. Außerdem lege ich Wert auf das Wie, mit dem man mich anspricht. Sie Löwe erreichen mich. Und deshalb haben wir ja auch schon etwas für Sie gemacht.“
Gönnerhaft: „Ich werde Sie auch weiterhin fördern.“ Löwe: „Das weiß ich zu schätzen.“ Er lud ein in die Gute Stube. Das Gespräch ging um leer stehende Kirchen in der Eifel. Der Priestermangel sei so groß, erzählte Löwe, dass reihenweise die Pfarrgemeinden verwaist seien und sich auflösten. Hirschberg meinte, das sei – entgegen römischen Kardinalsäußerungen – kein Gesundschrumpfen, sondern ein Aussterben. Er sprach von Führungsfehlern, die dafür verantwortlich seien. Seine Wut konnte er nur mühsam beherrschen. Schneider fragte: „Kann man die Kirchen nicht kaufen?“ Hirschberg: „Alle sind bestens erhalten. Man pflegt sie als Denkmäler.“
Löwe: „Die meisten Kirchen sind wegen ihrer Kunstschätze nicht geöffnet, sondern geschlossen. Nur zu Andachten und Wortgottesdiensten, zu denen sich ein paar alte Menschen versammeln und die von Laien abgehalten werden dürfen, werden sie aufgesperrt.“ Hirschberg sarkastisch: „Und das ewige Licht leuchtet.“ Schneider dachte konstruktiv: „Wenn man Ausstellungen organisiert und das damit begründet, dass der Glaube wenigstens durch christliche Kunst präsent bleiben sollte – gäbe es dazu eine Erlaubnis?“ Löwe: „Man müsste es versuchen. Aber es darf die Kirche nichts kosten.“ Schneider: „Klar, der Kirche fehlen Geld und Ideen. Ich lass mir das mal durch den Kopf gehen. Hirschberg: Machen Sie mit?“
Hirschberg: „Die Idee finde ich gut. Ich habe schon einmal ein ähnliches Konzept entwickelt. Kunst in der Kirche. Wäre doch was. Die dörflichen Gemeinden erhalten wenigstens eine kulturelle Identität.“ Frau Schneider: „Wie herrlich der Hirschberg so etwas formulieren kann! Ich mach da auch mit. Und jetzt will ich nach Hause.“
In den nächsten Wochen und Monaten genoss Hirschberg seine neuerliche Vaterrolle. Er wollte nicht wie bei seinen ersten Kindern, durch den Beruf erzwungen, mehr oder weniger verpassen, wie so ein Würmchen sich entwickelt. Er hatte seine Freude daran, wie Katha alles mit Ruhe und Bedacht im Griff hatte. Die Schneider hatte recht: Sie verstand es, Abläufe zu koordinieren. Sie behielt den Überblick und setzte die richtigen Prioritäten. Für ihn, der solche Fähigkeiten in Unternehmen besonders bei den Führungspersonen oft vermisste und dann versuchte, Führungskompetenz wach zu rufen oder zu vermitteln, waren diese Beobachtungen eine Wonne und er war versucht zu sagen: Entweder man kann es oder man kann es nicht.
Seine Aufträge stellte er so um, dass er möglichst viel zuhause war. Seine Auftraggeber bat er immer häufiger zu sich nach Hause, statt zu ihnen in ihr Unternehmen zu fahren. Das waren die zwar nicht gewöhnt, aber sie gingen darauf ein und stellten sogar fest, dass es bei Hirschberg leichter war, mit dem nötigen Abstand über sein Unternehmen zu reden.
Die Hebamme betreute Katha noch einige Zeit. Sie wusste sofort Rat, als sich beispielsweise eine Brustentzündung zeigte. So hatte Katha die Sicherheit, dass nichts Anlass zur Sorge gab. Schnell lernte sie, die Lebensäußerungen von Petrus zu interpretieren. Ihn trocken legen, das übernahm Hirschberg. Auch baden und fürs Bettchen vorbereiten machte der Papa. Bei all dem hatten sie viel Spaß. Babylachen schallte durchs Haus. Katha schmuste nicht nur, sondern sprach auch viel mit dem kleinen Mann, sang ihm Liedchen vor, die sie spontan zu einer Melodie erfand. Im Büro war eine große Matte ausgebreitet, auf die sie ihn legten, damit er in ihrer Nähe war. Sobald er krabbeln konnte, gab es für ihn auf der Matte jedoch kein Halten mehr. Entsprechend musste das Haus mehr und mehr umgeräumt werden, um die Gefahrenquellen zu reduzieren.
An warmen Frühlingstagen war Katha mit ihm im Garten. So an einem warmen Apriltag. Sie legte sich mit ihm auf eine Decke. Er wollte natürlich sofort ab ins Gelände. Sie versuchte, ihn mit Spielzeug auf der Decke zu halten. Das glückte eine Weile, doch schon bald wollte er wieder auf und davon. Sie ließ ihn. Nach ein paar Metern verharrte er, berührte ganz vorsichtig einen Grashalm, untersuchte ihn, zog weitere an sich heran, packte schließlich ein Bündel und riss es aus. Dann drehte er sich auf den Rücken und öffnete die kleine Faust mit den Gräsern, so dass sie ihm ins Gesicht fielen. Er lachte, drehte sich wieder auf den Bauch, riss weitere Halme aus, drehte sich erneut auf den Rücken und ließ sie sich aufs Gesicht fallen. Er amüsierte sich, strampelte mit den Beinen, jauchzte. Nach einiger Zeit gab er zu verstehen, dass er hungrig sei. Katha legte ihn an. Hirschberg kam zu den beiden hinaus, legte sich dazu und alle drei fühlten sich glücklich. Sie waren eine glückliche Familie.
Drei wunderschöne Jahre des Familienglücks vergingen. Heute wurde Petrus drei Jahre alt. Es wurde gefeiert. Piets Geburtstag – wie ihn mittlerweile alle nannten. Die Party fand im Wohnzimmer statt. Katha hatte sich viel Mühe gegeben, den Nachmittag vorzubereiten. Hirschberg hatte mit ihr die notwendigen Einkäufe gemacht. Die Mütter und Kinder kannten sich vom Spielplatz her. Sie halfen sich beim Babysitten, hatten auch eine Krabbelgruppe gebildet, in der zwei Mütter zweimal in der Woche mehrere Kinder betreuten.
Am Vormittag hatte Katha Kuchen gebacken und Piet daran beteiligt. Solche Beteiligung kostete zwar Zeit, aber sie hatte es sich zum Grundsatz gemacht, den Sohn mitmachen zu lassen, wenn er wollte. Das erforderte Geduld und hohe vorausschauende Aufmerksamkeit, auch Mut zum Risiko. Aber die gemeinsame Freude an einem gelungenen Kuchen beispielsweise oder einer gelungenen Pizza lohnte das. Zudem stellte sie fest, dass der kleine Mann schnell lernte. Ausdauer und Systematik konnte man von ihm natürlich noch nicht erwarten. Jetzt saßen alle am großen Tisch im Wohnzimmer und stopften den Kuchen in sich hinein. Dazu tranken sie Kakao.
Anschließend wurde gespielt. Spiel eins: Eine der Mütter legte ein Dutzend Gegenstände auf den Tisch, einem Kind wurden danach die Augen verbunden, Katha nahm einen Gegenstand wieder vom Tisch. Das Kind, dem man die Augen verbunden hatte, konnte die Augenbinde wieder abnehmen und sollte erraten, welcher Gegenstand weggenommen wurde. Hatte das Kind richtig geraten, durfte es sich aus einem großen Korb ein Spielzeug aussuchen und in seinen Geburtstagsbeutel stecken.
Nächstes Spiel: Mehreren Kindern wurden die Augen verbunden. Dann legte ihnen ein anderes Kind jeweils einen Gegenstand in die Hand, und es musste erraten, was es für ein Gegenstand war. Ein Ball, ein Würfel, ein Stofftier, eine Bürste, ein Spielauto, ein Kamm, eine Puppe, eine Holzfigur? Was war in der Hand?
Ein drittes Spiel: Auf einen großen Würfel hatte Katha Fotos geklebt. Sechsmal das Gesicht eines Jungen. Ein Bild zeigte ihn traurig, ein anderes voller Freude, ein weiteres zornig und so weiter – immer ein anderer Gesichtsausdruck. Die Kinder wurden aufgefordert, sich ein Bild, ohne zu verraten welches, auszusuchen und dann das Gefühl, das sich im Gesicht des Jungen widerspiegelte, vorzuspielen. Die anderen sollten erraten, welche vorgespielte Gefühlsregung welchem Bild auf dem Würfel entsprach. Einige Kinder zeigten sich als wahre Schauspieltalente.
Hirschberg spielte für sich ein anderes Spiel: Welches Kind gehört zu welcher Mutter? Nur von einigen wusste er es. Zu wem gehört das Kind, das bei dem „Gefühlsspiel“ nicht mitmachen wollte? Ein Kind trennte sich nicht von seinem Beutel mit den Geburtstagssachen. Wer war die Mutter? Ein anderes drängte sich immer vor, wollte immer besonders beachtet werden? Die Mutter?
Immer wieder sprachen Katha und Hirschberg über die Kindererziehung und stimmten sich in den Grundsätzen ab. Wo werden die Grenzen gesteckt? Was wird zugelassen? Was ertragen? Was gefördert? In diesen ersten Jahren waren sie für das Kind maßgebend und konnten sie noch fast uneingeschränkt die Einflüsse bestimmen, die Piet umgaben. In späteren Jahren würde das stark abnehmen. Während Hirschberg geneigt war, enge Grenzen zu setzen, neigte Katha dazu, nachsichtig und geduldig zu sein, auch wenn sie das viel Nerven kostete. Einig waren sie sich darin, dass man nicht alle Risiken von dem Kind würde fernhalten können. Ohne die beschützende Hand seines Schutzengels würde Piet nicht groß werden. Zu seinem Schutzengel betete Katha mit Piet jeden Abend vor dem Einschlafen.
Nicht nur ihren Einfluss auf den Kleinen, sondern auch den Einfluss des Kleinen auf sie besprachen die Eltern. Dazu hatten sie sich auf einen Grundsatz festgelegt: „Das Kind darf sich nicht zwischen uns schieben.“ Außerdem: Eine glückliche Ehe erhält sich nicht von allein. Damit sie im Alltag nicht Schaden nimmt, nicht von den Unzulänglichkeiten des Umfelds und persönlichen Schwächen angekränkelt wird, muss sie nicht nur gepflegt und gehütet, sondern muss sie mit dem Ehrgeiz gelebt werden, sie Tag für Tag ein wenig zu verbessern. Sie waren sich einig: Was sie dem Kind vorlebten, war ihr größter Erziehungseinfluss. Ihm fiel das Bonmot eines Pädagogen ein: „Versuchen Sie nicht, Ihr Kind zu erziehen, es macht Ihnen doch alles nach!“
Aus seiner Beratungsarbeit in Personalfragen wusste Hirschberg, dass viele Konflikte durch die Vermischung von Sach- und Emotionsebene zustande kommen. Da wird in einer Besprechung eine Bemerkung gemacht, die einem anderen Teilnehmer wegen des empfundenen Vorwurfs aufstößt. Er hakt nach. Es beginnt eine Auseinandersetzung. Unfrieden breitet sich aus. Vermutungen werden zu Behauptungen, Fakten werden angezweifelt, Ungereimtheiten festgestellt, unsaubere Formulierungen moniert, eigene Erfahrungen dagegen gestellt. Irrtum und Fehlerhaftigkeit werden angeprangert, Verfälschung und Verkürzung des Sachverhalts zum gegenseitigen Vorwurf erhoben.
Jeder behauptet, es gehe ihm um die Sache, aber längst ist erkennbar: Widerspruch wird nicht ertragen, Haarspalterei dient als Intelligenznachweis, mit Rechthaberei wird verteidigt, Machtpositionen werden ausgespielt – Hauen und Stechen. Gefolgschaften zeigen sich. Zunehmend werden persönliche Vorhaltungen gemacht: Woher willst du das wissen? Du solltest nicht alles auf die Goldwaage legen! Da hast du dir aber einen Bären aufbinden lassen! Das musst du mir aber erst noch beweisen! Das ist eine böswillige Unterstellung! Nichts anderes als psychologische Kriegsführung.
Hirschberg war sicher: Viele Ehekrisen beruhten auf ähnlichen Abläufen. In seiner ersten Ehe hatte er es mehr oder weniger geschafft, den Fallstricken des Unfriedens einigermaßen zu entgehen. Jetzt in der Ehe seiner späten Jahre wollte er jeglichem Abrutschen in gegenseitiges Beharken vorbeugen. Also stellte er mit seiner jungen Frau Regeln auf.
- Tauchen Fragen und Zweifel dem Partner gegenüber auf, dann immer das Gespräch suchen und jeden voreiligen Rückschluss – sei er auch noch so naheliegend – innerlich abweisen.
- Geld darf nie zum Streitpunkt werden. Daher: In Sachen Geld gibt es kein Geheimnis. Es gibt eine Einnahmen- und Ausgabenrechnung. Jedes Quartal wird bilanziert, besprochen und eine Planung für das nächste Quartal gemacht.
- Zu Verwandten und Freunden werden gute Beziehungen gepflegt, aber die Distanz so gehalten, dass sie nie bestimmenden Einfluss auf die Ehe oder die Kindererziehung nehmen können. Sie nie als Meinungsbestätigung dem Partner gegenüber benutzen.
- Sexualität ist lustvoller Ausdruck von Liebe, die so intensiv und variantenreich gepflegt wird, dass für Seitensprünge nicht der Hauch eines Bedürfnisses entsteht – und so der Teufel nicht ins Haus kommt.
- Gott lieben und den Partner wie sich selbst. In der religiösen Entwicklung sich gegenseitig unterstützen und anregen. Die gewonnenen Einsichten umsetzen in ‚Worte und Taten‘.
Am Anfang mussten diese Leitgedanken immer wieder penetriert werden. Es widerstrebte Katha, ihre Spontaneität unterzuordnen. Beispielsweise: Immer bei der Sache bleiben! Hirschberg kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass es ihm noch immer schwer fiel, ohne lange Erklärungen und Ausreden Fehler und Irrtümer einzugestehen. Doch nach einiger Zeit wurde deutlich: Die Ausführung der Regeln im täglichen Miteinander beeinträchtigten in keiner Weise die Spontaneität und das Selbstwertgefühl. Sie halfen vielmehr, auf Kurs zu bleiben. Denn – so schon bald ihre Erfahrung – es lässt sich bei allem guten Willen und aller Selbstgewissheit nicht vermeiden, bisweilen von der Ideallinie abzuweichen. Dann waren Leitplanken hilfreich.
Für den Fall, dass doch unbedachte Äußerungen, aggressive Anmerkungen, Spitzfindigkeiten oder kleine Hiebe hin und wieder einflossen, bauten sie noch die Regel ein: Immer gleich sagen, wenn einen etwas verletzt hat; sich entschuldigen, wenn man nicht aufgepasst hat.
Da sie sich so intensiv mit Ehefragen beschäftigten, war den beiden auch klar, was man alles in einer Ehe falsch machen, wie man sie zum Scheitern bringen kann. Hirschberg hielt das in einer Satire fest: