18.
abend »» Vorabend »» Vorabend »» Voraben
Bedrohtes Leben
… Vergewaltigungsversuch … habe mich befreit und bin weggelaufen …
Pilotseminar in einem ehemaligen Kloster … Lernen durch Erfahrungen …
Hannelore wurde geschieden. Ihre Ehe annulliert. Sie wechselte nach Bonn und übernahm in der Verwaltung einer wohltätigen Organisation mit weltweitem Engagement die Rechtsabteilung. Ihr Vater und Katha gaben ihr Halt. Deren Leben hätte vielleicht manch einer für langweilig gehalten. Kaum Streitereien, keine Krisen, keine Gefühlsausbrüche, keine Unrast. Genau das gefiel ihnen. Das war die Ausgeglichenheit und Harmonie, aus der sie die Kraft und Energie schöpften, um die Herausforderungen der Ereignisse annehmen und die Zumutungen so mancher Zeitgenossen ertragen zu können.
Und solch eine Zumutung traf sie eines Tages recht heftig. Der junge Geschäftsführer der Schneider-Stiftung, mit dem Katha öfter zu tun hatte, machte ihr schöne Augen. Sie verstand das als Freundlichkeit. Er lud sie öfters zum Essen nach der Arbeit ein. Sie lehnte stets ab. Doch die Einladungen wurden immer eindringlicher und die Begründungen ihrer Ablehnung zurückgewiesen. Gelegentlich legte er auch den Arm um sie. Dem entzog sie sich. Mehr als ein kollegiales Arbeitsverhältnis wollte sie nicht.
Katha hatte Hirschberg, der hin und wieder auch mit dem Mann zu tun hatte, von dessen wiederholten Einladungen erzählt. Daran dachte er, als sie nicht wie erwartet an einem Arbeitstag in Köln nach Hause kam. Endlich kam sie: wutschnaubend und zittrig. Sie erzählte: Am Nachmittag war sie mit Herrn Leuchter, so hieß der Geschäftsführer, zu einem Termin bei einem Kunstsammler. Leuchter hatte sie gebeten mitzukommen. Begründung war, sie solle ihm helfen, den Mann für das in Aussicht genommene Projekt – er sollte einige Werke seiner Sammlung zur Verfügung stellen – geneigt zu machen.
Das gelang auch, ohne dass sie viel mit Worten dazu beitrug. Ihr war schnell klar geworden, sie sollte als schöne Frau die Situation beeinflussen. Als der Herr Kollege dem Sammler sagte, Frau Hirschberg werde die weitere Betreuung des Projekts übernehmen, protestierte sie. Leuchter erklärte, er habe noch keine Zeit gehabt, sie darüber zu informieren, aber Herr Schneider wünsche das.
Als sie nachher im Auto Leuchter zur Rede stellte, bekam sie einen Schwall von Vorwürfen zu hören. Mit ihrer ablehnenden Haltung gefährde sie das ganze Projekt. Sie solle sich bitte etwas mehr engagieren. Sie schwieg. Er legte seine Hand auf ihr Bein. Sie legte die Hand zurück. Er meinte vorwurfsvoll, ihre ständige Zurückweisung verletze ihn. Er würde sich für ihre Arbeit einsetzen, obwohl sie von Kunst keine Ahnung habe. Auf der Fahrt zurück ins Büro machte er einen kleinen Umweg. In Rodenkirchen hielten sie an. Hier wohne er. Er wolle ein paar Unterlagen holen. Ob sie mit ihm hochkäme, eine Tasse Kaffee mit ihm trinke. Nein, sie warte lieber im Auto. Der Mann wurde ihr unheimlich.
Zurück in der Stiftung verhielt sich Leuchter zunächst beleidigt distanziert. Dann war er plötzlich katzenfreundlich und lud sie erneut zu einem gemeinsamen Abendessen ein. Diesmal mit einer sachlichen Begründung. Er müsse ihr noch ein neues Projekt vorstellen, auf dessen Gelingen Herr Schneider großen Wert lege. Zu dem Essen würde ein ihm befreundeter Kunstkritiker noch hinzustoßen. Katha lehnte ab, ihr Mann und ihr Sohn würden sie zuhause erwarten. Das ließ er nicht gelten, es gehe um ein sehr wichtiges Projekt. Sie könne anrufen und sagen, sie käme später nach Hause. Sie ließ sich nicht darauf ein.
Da wurde er zornig. Das sei keine Mitarbeit, er bemühe sich, die Stiftung erfolgreich in der Kunstszene zu etablieren, aber sie verweigere sich, boykottiere seine Arbeit, stehe für wichtige Besprechungen nicht zur Verfügung, lehne Kontaktarbeit ab und zeige keinerlei Flexibilität. Ob sie etwas gegen ihn habe? Nein. Er wechselte die Tonart und säuselte. Ja, er wisse, dass er kein einfacher Mensch sei. Sie solle ihm verzeihen, dass er soeben etwas vorwurfsvoll gewesen sei. Dann nahm er sie in den Arm, drückte sie an sich und wollte sie küssen. Sie wehrte sich. Er wurde gewalttätig, warf sie zu Boden und sich auf sie, riss ihr die Bluse auf.
Hirschberg hörte ihr entgeistert zu. So außer sich hatte er sie noch nie erlebt. Sie bebte, ihre sonst so sanfte Stimme war schrill. „Ich habe ihm ins Gesicht geschlagen. Er hat zurückgeschlagen.“ Jetzt sah Hirschberg die Schwellung auf ihrem linken Backenknochen. „Dann habe ich ihm mit aller Kraft mein Knie zwischen die Beine gestoßen. Er schrie auf, ich habe mich befreit und bin weg. – Was machen wir jetzt?“ Hirschberg zog sie an sich, hielt sie ganz fest und flüsterte: „Das werden wir in aller Ruhe mit den Schneiders regeln.“
Piet wurde von der Mutter eines Spielfreundes, bei dem er den Nachmittag verbracht hatte, nach Hause gebracht. Da herzten sie sich zu Dritt. Aber der Kleine merkte, dass die Mutter traurig war und der Vater sie tröstete. Da wollte er auch trösten und sagte: „Mama, wegen mir brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“
Katha und Hirschberg lagen an diesem Abend noch lange wach im Bett und besprachen, wie auf den Vorfall mit Leuchter zu reagieren sei. Klar, Katha würde jeglichen Kontakt mit dem Mann, dem die Sicherungen durchgebrannt waren, meiden. Hirschberg würde am nächsten Tag versuchen, einen von den Schneiders zu erreichen. „Dieser Armleuchter“, schimpfte Katha, während sie mit Hirschberg schmuste. Dann fragte sie leise: „Was meinst du, sollte Piet nicht ein Geschwisterchen bekommen?“ „Er sollte!“ In dieser oder einer der nächsten Nächte muss es geschehen sein. Jedenfalls war Katha einige Wochen später wieder schwanger.
Frau Schneider zu Hirschberg am Telefon: „Das ist natürlich nicht akzeptabel. Ich schlage vor, dass Katha in Zukunft wieder ausschließlich mit mir zusammenarbeitet. Herrn Leuchter werde ich zur Rede stellen. Vermutlich wird er den Vorgang ganz anders darstellen oder gänzlich leugnen. Mir hat er vor einiger Zeit gesagt, als ich wegen Katha auf den Busch geklopft habe, er sei schwul. Ich kümmere mich um die Sache. Richte Katha bitte mein Bedauern aus. Ich möchte nicht, dass unser Verhältnis getrübt wird.“
Dann schränkte sie ein: „Vorerst können wir Herrn Leuchter nicht entbehren. Seine fachliche Kompetenz steht außer Zweifel und seine ausgezeichneten Kontakte sind für uns zumindest derzeit unverzichtbar.“ Sie beendete das Telefonat mit ein paar Sätzen über Löwe, mit dem sie und ihr Mann noch Großes vorhätten. „Für die geplanten Projekte würden wir euch gerne dabei haben.“
Die nächste Zeit konzentrierten sich die Hirschbergs auf ein von ihm entwickeltes Seminarangebot. Die Firmenseminare und ‑workshops zur Verbesserung der internen Kommunikation sollten in einem Kompaktseminar zusammengefasst und als offenes Angebot verselbständigt werden. Das Konzept war fertig, jetzt musste akquiriert werden.
Das Pilotseminar war für den Frühsommer geplant. Dazu wollte Hirschberg einen besonderen Veranstaltungsort. Den fand er im niederländischen Limburg, in Vaals, einem Ort gleich hinter der Grenze, wenn man von Aachen nach Maastricht fährt. Der restaurierte Altbau des Hotels diente früher als Kloster. Einigen der Gesellschaftsräume hatte man die ursprüngliche Bezeichnung gelassen, zum Beispiel Refektorium. Es gab eine ausgezeichnete Restauration. Die Zimmer in einem modernen Anbau waren mit allem Komfort ausgestattet. Die Suiten lagen in den oberen Etagen des aufwendig restaurierten Altbaus. Die teuerste war nach Rosalyn Kennedy benannt. Sie hatte hier bei den Sacre Ceur-Schwestern, um deren ehemaliges Kloster es sich handelte, ein Jahr lang studiert.
Die Seminarräume befanden sich in den Kellergewölben entlang eines Ganges: ein großer Raum für die Plenumssitzungen, angrenzend und durch Türen verbunden, zur einen Seite zwei Gruppenräume, zur anderen einer. Ein idealer Veranstaltungsort.
Das Wochenende vor dem Pilotseminar, das am Sonntagabend mit einem gemeinsamen Essen der Teilnehmer begann, verbrachten die Hirschbergs in ihrem Wochenendhaus. Von hier aus wollte er nach Vaals fahren. Am Montagvormittag würde Katha mit Piet zurück nach Mehlem fahren, damit das Büro besetzt war.
Das Wochenendhaus war zu ihrem kleinen Paradies geworden. Mit dem quirligen Piet ließen sich zwar keine Wanderungen machen, aber es war eine Freude zu sehen, wie er sich hier ringsum sein Revier erschloss. Er hatte eine ganze Reihe von Verstecken und Spielplätzen. Bretter, Zweige und Plastikfolie benutzte er zum Bau eines Unterschlupfs. Aus Rindenstücken, Holzscheiten und Dosen baute er ein „Sägewerk“, in dem auch einige seiner Spielautos zum Einsatz kamen. Er legte sich auch kleine Depots mit Naschzeugs an. Doch er stellte fest, dass sich Schokolade, Bonbons, Eis und anderes für eine Aufbewahrung in der Natur nicht eigneten. Alles wurde weich, klebte oder schmolz dahin. Angebrochene Packungen waren sofort voller Getier. Katha hatte, ohne sich etwas anmerken zu lassen oder etwas zu sagen, sein Tun beobachtet und war amüsiert, wie er seine Erfahrungen sammelte.
In bester Laune verabschiedete sich Hirschberg am Sonntagnachmittag und fuhr nach Vaals. An das Abendessen schloss sich die erste Seminareinheit an. Aufgabe für die in drei Gruppen aufgeteilten Teilnehmer war, einen Namen aus einer Vorschlagsliste auszuwählen und zu beschließen. Das war dann der Gruppenname für die kommenden Seminartage. Es ging recht munter zu. Und Hirschbergs Spannung, ob der als Selbsterfahrung angelegte Lernprozess denn auch so ablaufen würde, wie er es in Arbeitsschritten und Zeitvorgaben ausgedacht hatte – sie löste sich mehr und mehr in einem Erfolgsgefühl auf. Alles passte.
Die Teilnehmer, auch die, welche zu Beginn etwas verschlossen waren, lockerten sich zusehends, sobald sie merkten, dass hier kein Schulunterricht stattfand. Man musste nicht still sitzen und Vorträge anhören, mitschreiben und später referieren. Es ging vielmehr darum, in einem fast spielerischen Arbeitsprozess seine Ideen, sein Wissen und seine Kommunikationsfähigkeit zur Lösung der gestellten Aufgabe einzubringen. Kein Leistungsdruck für den Einzelnen, sondern beflügelnde Gruppenarbeit, in der jeder seine Talente entfalten konnte. Zufrieden mit sich und der Welt ging Hirschberg gegen Mitternacht auf sein Zimmer und schlief schnell ein.
Ausgelöscht
… Verdacht auf Brandstiftung … bedeckt mit Folien: Katha und Piet …
Hirschberg bricht zusammen … Obduktionsbericht … Einäscherung …
Telefonklingeln weckte Hirschberg. Es dauerte eine Weile, ehe er aus seinem Tiefschlaf zu Bewusstsein gekommen war und den Hörer abnahm. Ein Mann sprach: „Hier ist der Nachtportier. Die Kriminalpolizei möchte Sie sprechen. Ich verbinde.“ Bei dem Wort Kriminalpolizei zuckte er zusammen. Eine Verwechslung? Was wollten die? Mitten in der Nacht? Ein Kriminalbeamter meldete sich mit Namen und Dienstgrad. Ob er mit Johannes Hirschberg spreche, wohnhaft in Bonn-Mehlem, Eigentümer eines Wochenendhauses in Mützenich? Es sei ein Unfall passiert, er solle so schnell wie möglich nach Mützenich kommen. Was denn passiert sei? Das könne er am Telefon nicht sagen. Er solle sich bitte sofort auf den Weg machen. Hirschberg war in heller Aufregung. Zehn Minuten später saß er im Auto.
Die Straße zu seinem Wochenendhaus war gesperrt. Ein Streifenwagen parkte am Rand, das rotierende Blaulicht warf geisternde Lichtstrahlen in das Dunkel der Nacht. In der Ferne, da wo sein Wochenendhaus stand, strahlten Scheinwerfer. Feuerwehr. Ein Gemisch von Rauch und Dampf lag in der Luft. Hirschberg meldete sich bei dem Polizisten im Streifenwagen, worauf der ihn per Funk avisierte. Hirschberg wurde abgeholt und zu einem VW-Bulli gebracht, wie man ihn von Verkehrskontrollen kennt.
Er wollte zu seinem Haus. Da könne er noch nicht hin. Die Feuerwehr habe zwar alles gelöscht, aber jederzeit könne sich erneut Feuer entzünden. Außerdem habe die Spurensicherung gerade erst ihre Arbeit aufgenommen. Bitte keine Panik! Man brauche seine Mithilfe. Zuerst Fragen zur Person. Danach zur Situation. Wann er zuletzt hier war, wer am Abend im Haus war. Man müsse dem Verdacht auf Brandstiftung nachgehen. Ob er eine Ahnung oder eine Vermutung habe? Wer ihm Böses wolle? Nein, eigentlich niemand.
Der Kriminalbeamte meinte, vielleicht sei es ja nur eine Unachtsamkeit gewesen, aber es könne auch jemand Feuer gelegt haben. Ein Verdacht sei noch kein Beweis. Ob wirklich niemand in Frage komme? Gelegentlich hätten sie Bikern erlaubt, auf dem Grundstück zu zelten. An diesem Wochenende seien jedoch keine da gewesen. Niemand sonst? Er solle keine Scheu haben. Was er beruflich mache? Irgendwelche Konflikte? Hirschberg fiel der Vergewaltigungsversuch von Leuchter ein und gab ihn an. Sonst keiner? Nein.
Ein weiterer Beamter sagte Bescheid, dass sie soweit seien. Es seien zwei Leichen geborgen worden, sagte Hirschbergs Gegenüber, er müsse ihm jetzt leider zumuten, diese zu identifizieren. Hirschberg war noch reaktionsfähig, aber eher wie ein Automat, nicht mehr als Herr seiner selbst, schon gar nicht Herr der Situation. Was hier passiert war, lähmte ihn. Auf der angesengten, zertrampelten und von Fahrzeugen aufgewühlten Wiese lagen zwei von Folien bedeckte Leichen. Die erste Folie wurde aufgedeckt: Kathas verkohlte Leiche. Die zweite Folie: Petrus, nicht so verkohlt. Hirschberg: „Meine Frau und mein Sohn.“ Ihm wurde schwarz vor Augen, und er brach zusammen. Die Leichen wurden wieder zugedeckt.
Man führte ihn zurück. Das Haus war bis auf die Bodenplatte abgebrannt, nur der Kachelofen stand noch. Die Feuerwehrleute waren dabei, ihr Gerät abzubauen. An einigen Stellen dampfte es noch. Wasserlachen. Von Teleskopmasten herab hüllten Scheinwerfer den Ort in gleißendes Licht.
Hirschberg hörte, wie man ihm sagte, seine Tochter müsse bald eintreffen. Wieder zurück im Polizeiwagen sackte er erneut zusammen. Er kam erst wieder zu sich, als eine Hand sanft seine Schulter fasste und ein wenig schüttelte. Er fühlte Hannelore, die ihn umarmte, er brach in Schluchzen und Tränen aus. Ein Beamter kam und sagte, man sei mit den Arbeiten fertig und würde jetzt gerne fahren. Hannelore verstand und bat den Vater, mit in ihr Auto zu kommen. Sie beobachtete, wie die Polizei Auto für Auto abzog.
Der leitende Kommissar kam zu Hannelore und teilte mit, dass sie ihre Arbeiten für jetzt beendet hätten. Am Vormittag kämen sie nochmal zurück, um bei Tageslicht ihre Untersuchungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu ergänzen. Selbstverständlich könnten sie aufs Grundstück, aber sie sollten bitte nichts anfassen und schon gar nichts mitnehmen. Erst wenn das Gelände freigegeben sei, er denke, das sei gegen Mittag, könnten sie alles anfassen und mitnehmen, wenn noch etwas brauchbar oder als Erinnerung von Wert sei. Er bat um ihre Handynummer, damit er sie auf dem Laufenden halten könne, und gab ihr seine Karte. Wenn die Leichen nach der Obduktion freigegeben seien, könnten sie vom Beerdigungsinstitut abgeholt werden. Wann er mit dem Obduktionsbericht rechne? Im Laufe der Woche.
Auch die Feuerwehr verließ das Grundstück, nur eine Brandwache blieb zurück. Das Gelände blieb abgesperrt. Damit kein Unbefugter dies missachtete, bezog ein Polizist an der Zufahrt mit seinem Wagen Stellung.
Einige Dorfbewohner hatten das Geschehen mit Entsetzen beobachtet. Darunter auch der Wirt des Dorfgasthofes. Er kam zu Hannelore ans Auto und bot eines der Gästezimmer bei sich an. Hannelore nahm dankend an.
Der Morgen graute. Hirschberg fasste sich wieder. Er bat Hannelore, ihn nach Vaals zu fahren, er wolle persönlich das Seminar absagen. Sie gingen auf sein Hotelzimmer. Er legte sich aufs Bett, sie setzte sich in einen der Sessel. Sie bestellte das Frühstück aufs Zimmer. Er rührte nichts an. Sie trank beide Kännchen Kaffee, würgte sich ein Brötchen hinunter. Sie hörte ihn murmeln: „Ich kann nicht.“
Die Seminarteilnehmer saßen munter miteinander redend beim Frühstück. Einige fragten, was der Hirschberg sich denn wohl für heute ausgedacht habe. Andere bemerkten, dass sie Hirschberg noch gar nicht gesehen hätten. Um neun Uhr versammelte man sich im Plenumsraum. Hannelore kam, bat Platz zu nehmen und stellte sich vor. Dann die Nachricht: „Diese Nacht ist das Ferienhaus meines Vaters in der Eifel abgebrannt. Dabei sind seine Frau und sein Sohn ums Leben gekommen. Sie werden verstehen, dass er unter diesen Umständen das Seminar abbrechen muss. Über die Unkosten, die Ihnen entstanden sind, machen Sie bitte eine Aufstellung und senden Sie diese zur Erstattung an unser Büro. Danke.“
Hannelore ging zur Rezeption und teilte den Abbruch des Seminars mit. Wieder bei ihrem Vater schlug sie ihm vor, gegen Mittag nochmals nach Mützenich zu fahren, um sich noch einmal ungestört umsehen zu können. Jetzt könne man, wenn er einverstanden sei, ins Hohe Venn hinauffahren und ein paar Schritte tun. Er nickte. In Eupen bat er sie, zur Kirche zu fahren. Er kniete und betete, setzte sich und versank in sich. Schließlich rührte sie ihn an und fragte, ob sie weiter fahren sollten.
Sie fuhren hinauf zur Baraque Michel, gingen ein Stück über den Knüppelweg zur Hillquelle, suchten einen Sitzplatz und verweilten stumm. Als sie wieder aufbrachen, sagte er leise: „Hier waren wir zuletzt, als die ersten Schneeflocken fielen.“ Heute war es sonnig und ein leichter angenehmer Wind wehte. Er nahm es nicht wahr. Er war eingehüllt in schwarze Wolken aus Trauer und Schmerz.
Als sie nach Mützenich kamen, lag die Brandstätte frei zugänglich. Niemand war da. Er ging einmal drüber, sah hierhin und dorthin, bückte sich nicht, nahm die Hände nicht aus den Taschen. Hannelore schubste mit dem Schuh das eine oder andere beiseite, um genauer hinsehen zu können, nahm einen von der Hitze ausgeglühten Löffel in die Hand und steckte ihn ein.
Zurück auf der Straße kam eine Nachbarin auf sie zu und sprach ihr Beileid aus. Sie habe vier Biker vom Grundstück fahren sehen, kurz bevor die ersten Flammen aus dem Haus schlugen. Das habe sie auch der Polizei gesagt.
Hirschberg und seine Tochter baten die Nachbarin, Hirschbergs Auto für ein paar Tage auf ihrem Gelände parken zu dürfen, und fuhren mit ihrem Auto weiter nach Mehlem.
Hannelore informierte Löwe, Schneiders, die Bergers und die Verwandtschaft. Noch am Abend kam Löwe. Die Männer hielten sich lange umarmt, dann sah Löwe ihn an und sagte: „Denk an die wunderschöne Zeit, die du mit ihr hattest! Das war eine Zugabe in deinem Leben, ein Geschenk. Sei dankbar!“
„So ist es. Hältst du die Totenmesse?“
„Ja, wir feiern gemeinsam die Auferstehungsmesse.“
Hannelore bekam den Obduktionsbericht: Katha wurde, bevor die Flammen sie erfassten, mehrfach vergewaltigt und anschließend erwürgt. Sie war im dritten Monat schwanger. Der Sohn starb an den Folgen innerer Verletzungen, die er durch Schläge und Tritte erlitten hatte.
Hannelore überlegte, ob sie ihrem Vater den Bericht zeigen sollte. Der Obduktionsbericht sei da, sagte sie schließlich. Er sah sie mit leeren Augen an und sagte: „Jetzt nicht.“ Sie atmete auf, musste sie doch erst selbst mit diesem entsetzlichen Befund fertig werden.
Gemeinsam besprachen sie die Todesanzeigen und stellten die Adressenliste zusammen. Das Beerdigungsinstitut brachte die Leichen in Löwes Kirche, in der man sich zuletzt zur Taufe von Petrus getroffen hatte. Nach dem Abschiedsgottesdienst sollten beide Leichen eingeäschert werden, so bestimmte es Hirschberg. Die Urnen, so hatte er zugestimmt, sollten in einer Mauernische im Innenraum der Kirche hinter einem herausnehmbaren Stein aufbewahrt werden. Das hatte Löwe schließlich angeboten, als sich auch nach längerer Suche kein Ort fand, der Hirschberg geeignet erschien.
Er hätte sie am liebsten nach Israel gebracht und die Asche auf dem See Genesaret verstreut. Er wäre in Israel geblieben, hätte als Einsiedler am See gelebt. Er äußerte das sehr ernsthaft, schien allerdings nicht so recht anwesend zu sein. War er verwirrt?
Tag des Zornes
… jüdische Totenklagen … eine Rede voller Zorn … in Schönheit
vollkommen und ewig … Gemeinschaft der Heiligen …
Die Särge standen nebeneinander vor dem Altar. Beide Särge waren mit Blumengebinden und Kränzen bedeckt. Hinter den Särgen ein Bild der schwangeren Katha mit Sohn Petrus an der Hand. Vor jedem Sarg eine Urne. Auf der linken Seite eine Installation: ein abgebrannter Scheiterhaufen, dahinter ein aus verkohlten Balken zusammengelegtes Kreuz.
Löwe hatte eine einerseits würdige, andererseits provozierende Feier vorbereitet. Außer Verwandten und Freunden waren Leute aus dem Ort, aber auch aus Köln und anderen Städten gekommen, die die Hirschbergs kannten, mit ihnen zu tun hatten. Die kleine Kirche war voller Menschen, viele mussten stehen, einige draußen vor der weit geöffneten Tür. Eine Männergruppe in schwarzen Talaren baute sich hinter dem Altar auf und sang hebräische Totenklagen. Hirschberg erkannte Jossi.
Nach dem Gottesdienst zog Löwe sein Priestergewand aus, legte es auf den Altar und trat nunmehr in schwarzen Jeans und schwarzem offenen Hemd vor die Trauergemeinde. Er hielt eine Zornesrede. Der Schluss:
„Die Welt kann Schönheit nicht ertragen. Sie will Schönheit besitzen. Da sie ihrer nicht habhaft werden kann, macht sie Schönheit zum Fetisch. Als Trugbild wird sie vermarktet. Schönheit, die sich nicht vermarkten lässt, wird ausgelöscht. Schönheit als Sinnbild einer schönen Seele hat bei uns keine Chance. Schönheit wird nicht wahrgenommen, sondern angegafft, mit Kameras verfolgt und von Begierden zu Tode gehetzt. Katharina war eine schöne Frau. Jetzt liegt sie als verkohlte und verklumpte Leiche, von der Gerichtsmedizin zerschnitten, vor uns in diesem Sarg. Ihr war nur ein kurzes, aber gerade in den letzten Jahren sehr glückliches Leben beschieden. Sie hat an Christus geglaubt. Sie wird auferstehen – in Schönheit, in der Vollkommenheit und Ewigkeit Gottes leben. Davon hat uns ihr Leben eine Vorahnung gegeben. Dafür sind wir dankbar.“
Nach der Trauerfeier kam Jossi zu Hirschberg. Stumm umarmten sich die beiden Männer. Hirschberg sagte: „Danke dir!“ Auch Frau Schneider kam und lud ihn zu sich nach Mallorca ein. Er lehnte ab. Nein, er wäre nur ein trauriger Gast. Er werde sich in Arbeit stürzen, das sei für ihn das Beste, um die nächsten Wochen zu überstehen.
Aber er stellte in den Wochen voller Arbeit fest, zu der er wieder mehr und mit Übernachtungen zu Außenterminen fuhr, dass er schneller müde wurde, dass er nicht mehr so voller Energie war wie in früheren Jahren, dass er in Besprechungen nicht mehr länger als alle anderen konzentriert bleiben konnte. Früher war er in seiner Spannkraft bei Sitzungen nicht zu übertreffen. Während die anderen Teilnehmer den Überblick verloren und zu weiterer Diskussion oder gemeinsamer intellektueller Arbeit nicht mehr in der Lage waren, war er noch voll bei der Sache. Jetzt brauchte er öfters Pausen, hielt er bei weitem nicht mehr so lange durch.
Daher kam es, dass er doch wieder mehr zuhause arbeitete. Auch gewöhnte er sich etwas an, das er nie im Leben hatte tun wollen: Er hielt einen Mittagsschlaf. Früher hatte er gespottet, das sei etwas für Beamte, aber nicht für ihn.
Hirschberg kam der Gedanke, wie andere seiner Generation aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Seine Altersvorsorge würde dazu reichen, dass er ohne Not leben konnte. Man sollte jüngeren Leuten das Feld überlassen. Er war jetzt schon über vierzig Jahre berufstätig, davon über dreißig Jahre als freiberuflicher Einzelkämpfer. Hatte er da nicht das Recht, müde zu sein? Seine Entscheidung: Keine Aufträge mehr akquirieren, die laufenden mit vollem Engagement zu Ende bringen und nur noch interessante Nachfragen, die ihn nicht überstrapazieren würden, annehmen.
Hannelore gab ihre Wohnung in Bonn auf und zog zu ihm in ihr Elternhaus. Das Zusammenleben bot sich für beide an. Sie hatten ein Verhältnis zueinander gewonnen, das von Respekt, Wertschätzung und feinfühliger Rücksichtnahme für die Selbständigkeit des anderen geprägt war. Ihre Scheidung und anschließend die Annullierung – das hatte sie schmallippig und wortkarg hinter sich gebracht. Bob war in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt.
In den Wochen und Monaten nach Kathas Tod zeigten sich Hirschbergs wahre Freunde. Wie man in Köln sagt und singt: Echte Freunde stehen zusammen. Hirschberg sprach, etwas überhöhend, von einer Gemeinschaft der Heiligen. Löwe rief fast täglich an, fragte nicht nur, wie es ihm gehe, sondern erzählte von sich und seiner Arbeit; wie erfolgreich seine jüngste gemeinsame Ausstellung mit Jossi in Amsterdam gewesen sei. Auch bat er um den einen oder anderen Rat. Wenn es sich einrichten ließ, kam er ihn besuchen. Ähnlich verhielt sich Frau Schneider. Zu Hirschbergs Erstaunen hielten auch die Bergers Kontakt. Berger war mittlerweile in Pension gegangen. Doch das hatte ihn nicht dazu veranlasst, nach Mallorca überzusiedeln. Das Segeln hatte er schon länger aufgegeben.
Thomas rief jeden Sonntag an. Es waren recht lange Gespräche, an deren Ende Beide bedauerten, dass sie so weit auseinander lebten. Und auch seine Schwester hielt Kontakt, besuchte ihn sogar. Sie fanden ein zuträgliches Verhältnis zueinander, wohl wissend, dass sie unterschiedliche Lebenswege gegangen waren – aber aus demselben Stall kamen.
Mehr als ein Jahr nach dem jähen Ende von Hirschbergs Jahren irdischer Glückseligkeit saßen Löwe, die Schneiders, die Bergers, Hannelore und er auf der Terrasse in Mehlem beisammen. Man feierte seinen Geburtstag. Die Schneider fragte Hirschberg, ob es ihn bedrücke, dass die Täter bis heute nicht hätten ermittelt werden können. Das bedrücke ihn nicht. Es wäre zwar sicher gut, wenn die Täter hinter Gitter gebracht würden, so dass sie kein weiteres Unheil anrichten könnten, aber er brauche zu seiner Genugtuung kein Urteil mit Strafe. Er glaube an keine letztlich gerechte Strafe, zu der Menschen Menschen verurteilen. Dabei sah er Hannelore an, die hatte ja Richterin werden wollen. Es müsse jedoch ein letztes, absolut gerecht urteilendes Gericht geben. Sonst würde er verzweifeln. Das sei mit ein Grund, warum er an Gott glaube.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs kam zutage, dass Berger sich in Köln in einer Gruppe engagierte, die Kontakt zu Leuten hielt, die aus der Kirche ausgetreten waren, darunter viele, denen der von Rom aufgezwungene derzeitige Kölner Oberhirte nicht passte. Am Ende der Diskussion über Amtskirche und Gläubige, in der Löwe aus seinem Herzen, sprich seinen persönlichen Leiden mit der Kirchenobrigkeit, keine Mördergrube machte, sprach Schneider den bedeutungsvollen Satz: „Man muss immer an die Zeit danach denken!“ Und das tat die Runde. Man wurde richtig euphorisch bei den vielen Ideen, wie Köln eine Christenstadt der Zukunft werden könne.
Löwe skizzierte ein Konzept, wie durch ein differenziertes Gottesdienstangebot die Menschen wieder erreicht würden. Für suchende, aber der Kirche entfremdete Menschen müsse ein reiner Verkündigungsgottesdienst angeboten werden: Lieder, Gesänge, Interviews, Bilder, Lesungen und Ansprachen; Lebensbeispiele, Glaubenszeugnisse, Wissenschaftserkenntnisse, Leitgedanken, Werteorientierung und Bibelworte. Diese Verkündigungsgottesdienste müssten mit Vorfeldveranstaltungen wie Ausstellungen, Konzerten und Bühnenstücken verknüpft sein.
Als zweites sollte es Opfer- und Verehrungsgottesdienste geben. Das seien Publikumsveranstaltungen zu Ehren Gottes, in denen auf würdige und anspruchsvolle Weise Gottes Lob gesungen, getanzt, musiziert, vorgetragen werde. Farbenfroh, verheißungsvoll, emphatisch. Die Teilnehmer drückten ihre Gottesverehrung durch Opfergaben aus. Das könnten symbolische Gegenstände sein, Selbstverpflichtungen, Dienste, Spenden.
Schließlich drittens: Eucharistiefeiern. Das seien Abendmahlfeiern in Gruppen, die nicht mehr als zwölf Personen umfassen dürften. Die Teilnehmer wären eine Art religiöse Familie, deren gemeinsame Mahlfeier Kraft, Inspiration und Standfestigkeit gebe, den Glaube festige, die Hoffnung ausweite und die Liebe übermächtig mache.
Hirschberg war begeistert. Auch bei den anderen fand Löwe Zustimmung. Den Schneiders fiel gleich ein, welche Kirchen und Pfarreien in Köln wofür in Frage kämen. Sie, die jahrelang erfolgreichen Projektentwickler, wussten auf Anhieb ein Dutzend Kirchenstandorte für die verschiedenen Angebote zu nennen. Dabei berücksichtigten sie auch die Bevölkerungsstrukturen des Umfelds, unterschieden nach lokal orientierten und regional ausstrahlenden Möglichkeiten.
Nach einiger Zeit kam die nicht zu vermeidende Frage: Und wo soll das Geld für das alles herkommen? Da meldete sich Berger zu Wort: „Kein Problem! Wirklich! Ihr glaubt gar nicht, wie viel Geld für ein Angebot der Kirche, das überzeugt, zur Verfügung stünde, vorausgesetzt es wird professionell und nicht dilettantisch gemanagt.“
Löwe: „Es gibt im Norden von Köln ein Kloster mit großer Kirche, das der Eigentümer, ein Männerorden, nicht mehr halten kann, weil sie keinen Nachwuchs mehr haben. Der ganze Komplex samt umliegender Ländereien steht zum Verkauf.“
Schneider und Berger sahen sich an. Schneider: „Sollen wir?“ Berger: „Das kriegen wir hin!“ Löwe sah Hirschberg an: „Und wir beide machen das Konzept.“ Hirschberg: „Machen wir.“ Schneider: „Wann können wir uns das Kloster ansehen?“
In den folgenden Monaten fiel Hannelore bei ihrem Vater nicht nur eine zunehmende Ruhebedürftigkeit auf, sondern auch eine gewisse Vergesslichkeit. Er konnte sich beispielsweise nicht an Namen erinnern, die ihm bislang geläufig waren. Er sagte dann: „Fällt mir gleich wieder ein.“ Aber es fiel ihm nicht ein. Noch maß sie dem keine besondere Bedeutung bei. Doch dann kam es innerhalb einer Woche zu zwei Vorfällen, die ihr Sorgen machten.
Als sie ins Wohnzimmer kam, stand ihr Vater mit der Blumenvase da und trank das Wasser. Er habe Durst gehabt. Drei Tage später traf sie ihn in der Küche, wie er dabei war, die Leuchtkerzen aus der Deckenbeleuchtung auszuschrauben. Dazu hatte er den Tisch in die Mitte gezogen, einen Stuhl darauf gestellt und war hoch gestiegen. Ob die Birnen kaputt seien. Nein, er habe nur das Licht ausmachen wollen.
Sie rief den Arzt an. Der hörte zunächst zu, stellte dann einige Fragen und bat sie, am nächsten Tag mit ihrem Vater in die Praxis zu kommen. Die Diagnose war: Alzheimer.
Hannelore sah sich einige Altenpflegeheime an und entschied, mit der Unterstützung einer Altenpflegerin selbst ihren Vater in seiner Krankheit zu betreuen. Und wenn sie dafür ihren Job hätte aufgeben müssen – das war sie ihrem Vater schuldig, nichts anderes kam in Frage.
Ihr Arbeitgeber war entgegenkommend. Man war einverstanden, dass sie vorwiegend von zuhause aus arbeitete und ihre Stundenzahl reduzierte. Solange Hirschberg nicht bettlägerig war, durfte sie ihn nicht aus den Augen lassen. Von allen Türen nahm sie die Schlüssel ab, damit er sich nicht einschließen konnte. Er war indes nicht viel auf den Beinen. Die meiste Zeit saß er in der Küche auf einem Stuhl neben der Heizung und döste vor sich hin.
Gespräche konnte man kaum noch mit ihm führen. Nur hin und wieder gab es Momente, in denen die Augen verrieten, dass er präsent war – aber als jemand, der nicht wusste, was mit ihm geschah. Hannelore fragte er: „Wie heißt du?“ Das machte sie sehr traurig.
Schließlich konnte er nicht mehr aus seinem Bett aufstehen. Er musste gefüttert und sauber gemacht werden. Eine Pflegerin wurde als Hilfe engagiert. Obwohl das Fenster des Zimmers ständig offen stand, breitete sich nach und nach ein penetranter Geruch aus.
Regelmäßig kamen Löwe und der Arzt. Da Hirschberg nicht genug trank, musste er an den Tropf. Die Schneider und Berger riefen immer wieder an, um sich zu erkundigen. Gelegentlich kamen sie auch vorbei. Auch seine Schwester kam ihn besuchen. Alle hatten den Eindruck, er erinnere sich nicht mehr an sie. Er war noch da, aber nicht mehr anwesend.
Was er noch wahrnahm, ließ sich nicht feststellen. Hannelore überkam Freude, wenn sich sein Gesicht aufhellte, während sie ihn fütterte. Er war schweigsam. Einmal fragte er jedoch ganz plötzlich: „Was ist mit mir?“
Unvergesslich blieb ihr ein Augenblick, als sie seine Brust wusch: Er zog sie an sich und umarmte sie. Als er einige Tage später keine Nahrung mehr annahm und die Flüssigkeit aus dem Tropf nur noch den Oberschenkel, in den sie eingeführt wurde, aufschwemmte, sagte der Arzt, es gehe zu Ende.
Hannelore rief Löwe an. Der kam sofort. Er spendete ihm die Letzte Ölung. Hannelore, Löwe und die Pflegerin standen um sein Bett und beteten. Sein Atem wurde schwächer. Der Herzschlag blieb aus. Johannes Hirschberg war entschlafen.