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Im Büro
… kleine Denkfabrik … politisch engagierter
Unternehmer… Tochter Hannelore …
Der Flug am späten Vormittag von Palma nach Köln verlief reibungslos. Bis zum Mont Blanc war gute Sicht, dann kamen die Wolken. Hirschberg nickte ein. In Köln war alles grau in grau, Regen. Frau Michalski, seine Sekretärin, holte ihn ab. In seinem Büro kurze Besprechung, was vorlag. Hinweis, was sie für ihn eingekauft hatte, damit er nicht verhungerte. Dann ließ sie ihn allein.
Er ließ sich in den Lesesessel seines Büros fallen und schloss die Augen. Wieder zuhause; dort, wo er seit Jahren die meiste Zeit verbrachte: in seinem Arbeitsraum. Er hatte dazu den Speicher seines Hauses ausbauen lassen. Die Giebelseite wurde nach Süden hin geöffnet und mit einer Glaswand ausgefüllt. Diese hatte man in den Raum ein paar Schritte zurückgesetzt, so dass nach draußen ein überdachter Balkon entstanden war. Nach Osten hatte er eine große Dachgaube einbauen lassen, durch die er den Blick zum Rhein, zum Drachenfels und Siebengebirge frei hatte.
Auf der Westseite hatte er sich mit einem einfachen Kippfenster begnügt. An der Nordseite hatte er das alte Treppenhaus erweitern und hochführen lassen, so dass dem Arbeitsraum noch ein Besprechungszimmer und eine Toilette vorgelagert waren und der ganze Arbeitstrakt einen separaten Zugang hatte. Vor einem Jahr hatte er das Besprechungszimmer zu einem Schlafzimmer gemacht. Im ersten Stock, wo das Elternschlafzimmer und die Kinderzimmer mit dem Bad lagen, benutzte er nur noch das Bad. Im Erdgeschoß waren Küche und der Wohnraum mit Essplatz sowie sein früherer Arbeitsraum, jetzt Abstell- und Archivraum.
Die Dachschrägen in seinem Büro waren mit nordischer Fichte ausgekleidet. Der mächtige Firstbalken schloss die Höhe ab. Die Türseite war eine Schrankwand. Dunkelbrauner Teppichboden. Ein Konferenztisch mit sechs Stühlen. Drei Arbeitsplätze: Eine Eckkombination mit Computer und Telefon, hier arbeitete Frau Michalski, ein großer Schreibtisch mit einer zweiten Computeranlage und ein Stehpult – das waren seine Hauptarbeitsplätze. Er fand sein Büro anregend und wohnlich. An Sonnentagen genoss er es, wie seine kleine Denkfabrik – wie er es nannte – vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang lichtdurchflutet war. Das Arbeiten machte ihm hier Freude.
Er ging zu Frau Michalskis Schreibtisch, wo für ihn vorbereitet die Telefonrückrufliste lag. Freund Werner war dabei. Vor Jahren hatte er ihn bei einer Tagung der Ludwig-Erhard-Stiftung kennengelernt. Er war politisch engagierter Unternehmer. Ein Kontaktgenie. Ein rastloser Mensch. Hirschberg bewunderte an ihm seine blitzschnelle Auffassungsgabe, seine Überzeugungskraft und den Durchsetzungswillen sowie seine Prinzipientreue. Hirschberg wusste, was Menschen im politischen Geschäft abverlangt wird. Denn von seinen sechs Angestelltenjahren hatte er zwei in der Politik verbracht. Lehrjahre, die er nicht missen wollte.
Er rief Freund Werner an. Der war – welch ein Glücksfall – in seinem Unternehmensbüro und auch sofort zu sprechen. Er habe ihn in Mallorca nicht stören wollen, es gehe auch nur um eine Kleinigkeit, die sich mittlerweile schon erledigt habe. Schön, dass er zurückrufe. Hirschberg wollte wissen, worum es denn gegangen sei. Freund Werner: Er habe einen Artikel von ihm gelesen, worin eine Statistik enthalten sei, deren Herkunft nicht angegeben wäre. Da er die Statistik für einen Vortrag habe verwenden wollen, habe ihn die Quelle interessiert. Einer seiner Mitarbeiter habe sie gefunden. Aber davon unabhängig: Er würde ihn gerne mal wieder zum Gedankenaustausch treffen. Nächste Woche wäre er wieder in Bonn, ob es dann passe. Sie verabredeten sich zum Mittagessen.
Hirschberg erledigte zügig die anderen Rückrufe, teilte mit, dass er wieder erreichbar sei. Zwei ließ er aus: umständliche Wichtigtuer. Dann wandte er sich der von Frau Michalski vorbereiteten Post zu: Rechnungen, Kontoauszüge, Steuerbescheide, Vortragsangebote, Artikelnachfragen, Einladungen, ungeöffnete Privatpost, darunter ein Brief seiner Tochter. Ansonsten Zeitungen, Zeitschriften, Informationsdienste – das war das Widerliche an solchen Unterbrechungen des Arbeitsflusses: Alles blieb liegen, stapelte sich und signalisierte, dass die Zeit rücksichtslos weiterging. Er musste möglichst schnell wieder in den Informationsfluss hineinfinden. In den nächsten Tagen würde er im Schnellverfahren alles aufarbeiten.
Mit dem Brief seiner Tochter zog er sich wieder in seinen Sessel zurück. Sie schrieb:
Lieber Vater,
die letzten Wochen waren für mich zwar anstrengend. Aber die Mühe hat sich gelohnt: Ich habe beide Klausuren bestanden. Dennoch kommen mir Zweifel, ob Jura das geeignete Studium für mich ist.
Erstens hat sich die Rechtsprechung viel zu sehr in die Abhängigkeit von Gutachtern begeben, statt konsequent nach ihren eigenen Normen zu urteilen.
Zweitens beeinflusst die Politik das Rechtswesen in einem Ausmaß, dass von Gewaltenteilung nur noch formalistisch gesprochen werden kann.
Drittens glaube ich nicht, in der späteren richterlichen Praxis die Möglichkeiten zu haben, die ich für eine angemessene Urteilsfindung als notwendig erachte.
Aus diesen Gründen neige ich dazu, mein Studium abzubrechen. Es zu Ende zu bringen, nur weil ich es begonnen habe, wirst Du sicherlich von mir nicht verlangen.
Aber Du wirst zu Recht fragen: Und was willst Du statt dessen machen? Ich weiß es noch nicht. Die Universität verlassen und in eine praktische Berufsausbildung gehen, käme mir wie ein Scheitern vor. Schließlich gehöre ich zu den besten meines Semesters. Ich gebe nicht auf, weil ich mich dem Stoff nicht mehr gewachsen fühle.
Aber vielleicht wäre Psychologie ein Fach, das meinen Neigungen mehr entspricht. Denn den Ursachen im Menschen nachzuspüren, seinen Antrieben auf den Grund zu kommen, interessiert mich. Ich würde gerne mit dir darüber reden. Die Überlegungen, das Studium zu wechseln, gibt es schon eine ganze Weile.
Du hast richtig beobachtet, dass ich nicht mehr so zügig bei der Sache bin wie in den ersten Semestern. Aber verplempert habe ich meine Zeit nicht. Ich habe mich mit vielen Dingen beschäftigt, die ich bisher außer Acht gelassen habe, beispielsweise mit Literatur.
Du hast mir vorgeworfen, ich hätte keine Lebensplanung, wüsste nicht, ob ich als Richterin Karriere machen oder einen Rechtsanwalt heiraten wolle. Ich sagte dir, erst Richterin, dann Rechtsanwalt. Wie war das denn bei Dir? Hast Du Dein Leben geplant? Bist Du zu dem, was Du heute machst, durch Planung gekommen?
Ich gebe zu, ich habe mal geglaubt, man müsse sein Leben planen. Heute bin ich der Meinung: Es ist keine Lebensplanung möglich. Du hast uns Kindern eingetrichtert, alles sei im Leben erreichbar, man müsse nur wissen, was man erreichen will und wie man das anstellt.
Bisher wusste ich, was ich erreichen will, jetzt ist mir das Ziel zweifelhaft geworden. Daher will ich mir auf den Grund kommen. Ich baue auf Deine Hilfe. In den nächsten Tagen rufe ich dich an.
Herzliche Grüße!
Deine Tochter Hannelore
Er sah auf das Datum des Briefes: vorgestern geschrieben. „Es ist keine Lebensplanung möglich“, schreibt sie und will wissen, ob ich denn mein Leben geplant habe, murmelte er vor sich hin und legte den Brief auf den Beistelltisch neben dem Sessel.
Seine beiden Kinder – er seufzte: Sein Sohn hatte das Scheitern seiner Ehe nicht verkraftet. Das Leiden und der Tod seiner Mutter fielen in die gleiche Zeit und hatten ihn sehr traurig gemacht. Dass die kleine Tochter seiner Frau zugesprochen wurde und er sie nur gelegentlich nach Absprache zu sich holen durfte, darunter litt er sehr. Fast zerbrach er. Seine Frau zog von Bonn weg, irgendwohin nach Süddeutschland, und heiratete zwei Jahre später einen Berufskollegen, der wohl auch ursächlich für die Scheidung war. Hirschberg hatte keinen Kontakt mehr zu seiner Schwiegertochter; und er hatte eine Enkelin, von der er nur wusste, dass es sie gab.
Sein Sohn, er war Soziologe und hatte ein Jahr in den USA studiert, arbeitete bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), einer staatlichen Organisation, die unter anderem Entwicklungsfachleute in Projekte von Ländern der Dritten Welt schickt. Zunächst war er in Indien. Nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland, bei dem sich Vater und Sohn kurz sahen, ging er in ein Projekt auf den Philippinen. Am Anfang kamen noch Briefe, hin und wieder rief er an: „Mir geht es gut.“ Aber jetzt hatte Hirschberg schon fast ein Jahr lang nichts mehr von ihm gehört. Der Weihnachtsbrief des Vaters blieb unbeantwortet. Per Telefon erreichte er ihn nicht. Bei der GTZ hatten sie ihm Adresse und Telefonnummer indes als richtig bestätigt. Wenn dem Thomas etwas passiere, würde er es schon erfahren, tröstete sich Hirschberg. Er hatte einen verlorenen Sohn.
Und seine Tochter? Während Sohn Thomas eher der Mutter nachgeschlagen war, stämmig, dunkelbraune Haare, grüne Augen, ähnelte Tochter Hannelore ihm, dem Vater: mager, blond, blaue Augen. Wie er hatte sie eine Neigung zu Rigorismus und Perfektionismus, die aber nicht wie bei ihm durch rheinische Lebensart und persönliche Lebenserfahrung auf ein erträgliches Maß zurückgenommen waren. Sie selbst litt wohl am meisten darunter, weil sie sich ständig an Unzulänglichkeiten rieb und ihren eigenen Ansprüchen selten genügte. Freundschaften schloss sie nur zögerlich, und die waren zu Ende, sobald ihre strengen Maßstäbe zum Zuge kamen. Das machte sie einsam.
Saß sie mit anderen zusammen, beispielsweise im Seminar, hörte sie mehr zu, als selbst zu reden, immer mit einem leicht spöttischen Gesichtsausdruck, was auf viele provozierend wirkte, die dann versuchten, sie zur Rede zu stellen. Die Folge war Disput, mal auf hohem intellektuellen Niveau, mal in die Niederungen unpassender und gemeiner Unterstellungen heruntergezogen – unsachlich, verletzend, beleidigend. Das traf sie hart. Sie fühlte sich ausgestoßen.
Ihre Professoren reagierten unterschiedlich auf sie: Manche waren voll des Lobes ob ihrer konsequenten Gedankenführung, andere sahen in ihrer scharfen und unnachgiebigen Argumentationsweise einen Mangel an menschlicher Reife.
Das Verhältnis zu ihrem Vater war zwiespältig: Teils fühlte sie sich ihm zugetan, war er ihr in seiner Gewissenhaftigkeit Vorbild, staunte sie über die Art, wie er sein Leben lebte, andererseits war sie voller Vorwürfe gegen ihn, weil er nicht kämpfte, seine Projekte nicht selbst in die Tat umsetzte, sondern anderen überließ, weil er immer „sowohl als auch“ statt „entweder oder“ argumentierte. Mehr eindeutige Stellungnahme hätte sie sich von ihm gewünscht. All das hatte sie ihm schon mehr als einmal vorgehalten.
Das Telefon klingelte. Sein Neffe, ältester Sohn seiner Schwester, wollte vom Onkel wissen, wann er zu einem neuen Beratungsgespräch kommen könne. Er hatte eine Hightech-Firma gegründet. Nächste Woche? In Ordnung. Hirschberg half dem Jungen, dessen Taufpate er war, gerne. Er wollte ihn vor den Fehlern bewahren, die der Vater des Jungunternehmers gemacht hatte. Der hatte seinen Textilgroßhandel wie zu Großvaters Zeiten führen wollen. Er war der Meinung, er müsse alles selber entscheiden und die Mitarbeiter hätten das, was er entschieden hatte, nur auszuführen, natürlich unter seiner Kontrolle.
Dieser Vorstellung entsprechende Mitarbeiter hatte er denn auch. Die ließen ihren Verstand morgens an der Garderobe, taten nur, was ihnen gesagt wurde, und das in einem Tempo, das Erholungspausen eigentlich überflüssig machte. Umso mehr Aktivität entwickelte ihr Chef. Und der Vater machte Fehler. Seine Mitarbeiter, die täglich mit den Kunden telefonierten und mit den Vertretern sprachen, hätten ihn vielleicht vor dem einen oder anderen Fehler bewahren können, beispielsweise bei der Warendisposition – wenn er sie denn gefragt hätte. Er erlag einem Herzinfarkt.
Hirschberg versuchte, dem Neffen immer wieder deutlich zu machen, warum ein solches System heute nicht mehr funktionieren kann. Der sah das auch ein. Dennoch sträubten sich ihm die Haare, wenn Hirschberg ihm riet, die Mitarbeiter am Gewinn zu beteiligen, damit sie persönliches Interesse an ihrer Arbeit entwickelten. Fast alle Probleme, die der Neffe hatte, waren Probleme mit den Mitarbeitern.
Erinnerungen
… noch für Adenauer gearbeitet … Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
als Grundausbildung … Vorstellungsgespräche …
Hirschberg ging in die Küche hinunter, um sein Abendbrot zu essen. Anschließend hatte er das Bedürfnis nach frischer Luft und Bewegung. Kein Regen. Lockere Bewölkung, die ein starker Westwind nach Osten trieb. Dämmerung. Er ging zum Rhein. Als der Mond herauskam, ließ er die Wolken um sich herum mit scharfen Konturen aufscheinen, zeichnete er eine Glitzerstraße ins Wasser, wieder abgedeckt war dunkle Nacht. Ein aufregender Wechsel zwischen bleichem Erwachen und raschem Verschwinden. Auf der anderen Seite hoch oben die Umrisse der Drachenfelsruine.
Erinnerungen kamen in Hirschberg hoch. Er hatte in seinem ersten Job nach dem Examen als Angestellter des Fraktionsvorstands der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zuständig für Wirtschaftspolitik, für den alten Adenauer noch gearbeitet, als der nicht mehr Bundeskanzler war, sondern einfacher Abgeordneter – aber nach wie vor körbeweise Post bekam, die beantwortet werden musste. Es galt die Regel: Jeder Briefschreiber erhält eine Antwort, auch die Querulanten. Ihm, Hirschberg, wurde wie anderen Assistenten der Fraktion ein Teil dieser Post zugeteilt mit dem Auftrag, ein Antwortschreiben zu verfassen. Da waren schon haarsträubende Briefe bei. Beispielsweise schickte alle zwei Wochen einer, der sich „Wächter von Zion“ nannte, vier, fünf Seiten handgeschrieben. Es war schwierig, ihm nicht mit Ironie und Schärfe, sondern unerschütterlich höflich einige Zeilen zur Sache zu schreiben.
Hirschberg war froh, den Alten auch noch als Kanzler erlebt zu haben, etwa in Fraktionssitzungen. Bei heißen Themen dauerten die manchmal fünf oder sechs Stunden lang. Dann saß Adenauer am Vorstandstisch mit versteinerter Miene, schrieb sich hin und wieder etwas auf. Die Abgeordneten, alle mit der Rhetorik von Volkstribunen, redeten auf ihre Kollegen ein.
Längst hatte die Mehrzahl die sachliche Orientierung verloren. Da Rauchen noch nicht als gesundheitsschädlich unterdrückt war, senkte sich nach und nach eine Wolke aus Zigaretten‑, Zigarren- und Pfeifenqualm auf die Köpfe der versammelten Abgeordneten. Die Journalisten an einem Seitentisch hinten machten sich längst keine Notizen mehr. Der Vorsitzende verkündete den Schluss der Rednerliste. Ein Jungpolitiker protestierte. Gut, aber er sei der letzte.
Und dann erhielt der Bundeskanzler das Wort. Die Journalisten waren wieder hellwach, legten sich ihre Schreibblocks erneut zurecht, zückten die Kulis. Das laute Gemurmel der Abgeordneten, die sich mehr untereinander unterhielten, als dass sie den Rednern der einzelnen Parteiflügel, Landsmannschaften und Gruppierungen zuhörten, erstarb, der Alte erhob sich, seinen Notizzettel in der Hand, eine große hagere Gestalt: „Meine Damen und Herren, ich habe mir das alles, was Sie gesagt haben, sehr genau angehört.“ Und dann resümierte und analysierte er die stundenlange Debatte in wenigen klaren Gedankenzügen, wog die entscheidenden Argumente ab und begann, sie zu bewerten. Der verloren gegangene Sachverhalt kam wieder zum Vorschein und fast schlagartig wurde deutlich, was die einzig richtige Entscheidung sein konnte. Zuerst leise, dann immer lauter kam aus den Reihen der Abgeordneten der Ruf: Abstimmen! Abstimmen!
Adenauer fasste zusammen und bat um Zustimmung für die Vorlage des Fraktionsvorstands. Sie wurde mit großer Mehrheit angenommen. Aufatmen, Erleichterung, Bewunderung für den Kanzler. Die Abgeordneten strömten aus dem Fraktionssaal. Ehemalige Kollegen von Hirschberg, die noch Jahre später an Fraktionssitzungen teilnahmen, erzählten ihm, dass sie nach Adenauer keinen Politiker mehr erlebt hätten, der über eine solche Konzentrations- und Gedächtnisfähigkeit, so bestechenden Scharfsinn in Analyse und Bewertung verfügte, der eine derart zur Einheit zwingende Argumentationsweise besessen hätte. Adenauer war ein Politiker, wie er einem Volk nur selten zuteil wird, und von dessen weitsichtigen und konsequenten Entscheidungen Deutschland auch jetzt am Beginn eines neuen Jahrhunderts noch lebte – davon war Hirschberg überzeugt.
Wieder zuhause ging er schon bald zu Bett. Vor dem Einschlafen kam ihm der Brief seiner Tochter erneut in den Sinn. Sie hatte Recht: Im Sinne einer Laufbahn, einer Karriere war er nie zielstrebig. Als er zur Uni ging, hatte er von Volkswirtschaft keine Ahnung. Und von Soziologie hatte er vorher noch nie etwas gehört. Deshalb leistete er sich als Einstieg ins Studieren so etwas wie ein Schnuppersemester. Neben der Uni besuchte er in München das Deutsche Institut für Film und Fernsehen. Von 600 Bewerbern wurden in einer schriftlichen und einer mündlichen Prüfung 20 Studenten ausgesiebt. Hirschberg war dabei.
Während seiner Schulzeit hatte er eine Methode entwickelt, sich aufgrund aller erreichbaren Informationen zielgerichtet auf wichtige Ereignisse vorzubereiten. Das führte ihn auch jetzt wieder zum Erfolg: Er hatte Studenten des vorausgehenden Jahrgangs angesprochen und sie über die Aufnahmeprüfung ausgefragt. Ihnen war ein Film vorgeführt worden, den sie dann nacherzählen und beurteilen sollten. Er ging ins Kino und schrieb Filmnacherzählungen und Filmkritiken. Seine letzte Arbeit nahm er mit in die schriftliche Klausur. Der Film war von Hitchcock und hieß: „Der Mann, der zu viel wusste“.
Es kam die Aufgabenstellung: „Erzählen Sie einen Film nach, den Sie in letzter Zeit gesehen haben, und schreiben Sie eine kritische Bewertung dazu.“ Hirschberg beobachtete mitleidig die angestrengten Mienen seiner Mitbewerber, mimte dann selbst den konzentrierten Schreiber – und tauschte am Ende der drei Stunden seine Texte aus. 60 Bewerber wurden zur mündlichen Prüfung eingeladen. Hirschberg wusste, es wurden Interessen und Allgemeinbildung abgefragt, diskutiert. Er legte sich ein paar Antworten zurecht – und hatte es geschafft. Karriere beim Film?
Das Institut geriet in eine Krise. Die Mitglieder des Trägervereins hatten sich in ihrer Meinung, wie die Ausbildung zu gestalten sei, in zwei Lager gespalten. Die einen wollten einen mehr akademischen Lehrbetrieb in Anlehnung an die Universität, die anderen einen an der Praxis orientierten Schulbetrieb. Die Studenten forderten Letzteres, um so schnell wie möglich als Assistenten bei einem Kameramann oder Regisseur anheuern zu können. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, streikten sie sogar. Hirschberg war im Zweifel, ob er hier weiter machen sollte.
An der Universität in München hatte Hirschberg während seines Schnuppersemesters den Eindruck gewonnen, dass von Volkswirtschaft etwas verstehen müsse, wer auch nur einigermaßen die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die politischen Entwicklungen verstehen wolle. Er hatte davon gehört, dass die Kölner Universität in Volks- und Betriebswirtschaft bestens besetzt sei. Er beschloss in Köln Volkswirtschaft zu studieren. Und welches Wahlfach? Er machte wieder eine Schnuppertour und blieb bei René König, dem Soziologen, hängen. Person und Fach weckten in ihm Interesse. Hier wurden Einsichten vermittelt, Zusammenhänge hergestellt, Erklärungsmuster angeboten.
Hirschberg hatte den Stoff seiner Grundausbildung gefunden. Was sich daraus einmal als Beruf ergeben könnte, würde sich finden. Mühsam musste er Lernfähigkeiten entwickeln, die auf der Schule abhanden gekommen waren. In acht Semestern war er durch. Die Büffelei beim Repetitor schmeckte ihm zwar nicht, aber ohne ihn hätte er wesentlich mehr Semester gebraucht, um den examensrelevanten Stoff sich anzueignen.
Spaß machte ihm seine Diplomarbeit. Seiner „Filmvergangenheit“ eingedenk hatte er sich innerhalb der Soziologie speziell mit Massenkommunikationsmitteln beschäftigt. Um das nicht zu abstrakt werden zu lassen, ging er nebenbei noch zu den Theaterwissenschaftlern, um sich mit Dramaturgie zu beschäftigen, auch spielte er eine Weile auf der Studentenbühne mit. Dann weitete er die Soziologie um das Fach Sozialpsychologie aus und befasste sich mit Gruppendynamik. All das band er in seiner Diplomarbeit zusammen. Er schrieb eine Genre-Analyse über die sogenannten Halbstarkenfilme. Dazu kontaktierte er alle infrage kommenden Filmverleihe, ließ sich Dreh- und Dialogbücher schicken, beschaffte sich Filmkritiken und ‑analysen, reiste rum, um sich Filme anzusehen. Einen Film wählte er aus, um ihn detailliert zu analysieren: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ mit James Dean. König gab Hirschberg für seine Diplomarbeit ein „sehr gut“. Der größte Notenerfolg, den Hirschberg je hatte.
Eine der mündlichen Prüfungen, verhalf dem angehenden Diplom-Volkswirt zu einem weiteren Erfolgserlebnis. Ausgerechnet bei dem Professor, der als der schärfste und launigste Prüfer galt, fühlte er sich am wohlsten. Der fragte kein Wissen ab, wollte auch nicht seine Lehrmeinung referiert bekommen, sondern stellte zur Diskussion, wollte Stellungnahmen hören, Zusammenhänge erklärt bekommen. Hirschberg war dabei. Es war dann wohl auch kein Zufall, dass er mit drei anderen Absolventen von einer Assistentin des Lehrstuhls zu einem Gespräch eingeladen wurde, wo es darum ging, ob man sich vorstellen könne, nach dem Diplom-Abschluss eine wissenschaftliche Hilfstätigkeit anzunehmen. Hirschberg konnte es sich nicht vorstellen. Zwar hatte er immer noch nicht den Eindruck, einen Beruf erlernt zu haben, aber er fühlte sich jetzt ausgerüstet, einen Arbeitsbereich sich erschließen zu können. Wo und was? Er hatte keine konkreten Vorstellungen.
Erst einmal machte er eine Reise. Nach Griechenland. Er wollte sehen, wo das alles spielte, womit man ihn jahrelang auf dem Gymnasium traktiert hatte. Die italienische Adriaküste hinunter bis Brindisi mit dem Zug. Von dort per Schiff über Korfu nach Patras. Weiter per Sammeltaxi nach Athen. Eine der ersten Studienreisen, die Studiosus veranstaltete. Er konnte es kaum erwarten, auf die Akropolis zu steigen. Anschließend fuhren sie zum Pelepones, zurück an den Golf von Korinth, nach Lutraki, ein Badeort nördlich von Korinth. Außer den Zeugnissen der Antike faszinierte ihn die mediterrane Landschaft, das tiefe Blau des Meeres, die warme seidige Luft. Er machte Wanderungen, lieh sich ein Fahrrad, lernte Leute kennen.
Wieder in Köln, fand er einen Brief aus dem Bundespresseamt vor; gesucht würde ein junger Diplom-Volkswirt, er solle sich doch mal melden. Mit der Filmabteilung des Bundespresseamtes hatte er bei den Recherchen zu seiner Diplomarbeit Kontakt bekommen. Er erfuhr, dass nicht vom Bundespresseamt der Volkswirt gesucht wurde, sondern von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Man wolle ihn nur darauf hinweisen und würde ihm für seine Bewerbung ein Empfehlungsschreiben geben, wenn er wolle. Es folgten mehrere Vorstellungsgespräche bei verschiedenen Leuten des Fraktionsvorstands. Ob er Parteimitglied sei, interessierte dabei überraschenderweise niemanden. Er wurde genommen. Der Berufseinstieg war getan. Endlich mit beiden Beinen im Leben. Und das auch noch im Zentrum der Politik.
Arbeitsalltag
… die Skrupellosen herrschen … in den Papierkorb … Solo des
Narzissten … auf sie einlassen oder sie abwimmeln …
Zurück in die Gegenwart. Frau Michalski: „Wollen wir jetzt die Arbeitsplanung für diesen Monat machen?“
Hirschberg nahm seinen Organizer zur Hand. Planungseinheit war die Woche. Er sah sich die laufende Woche an und meinte, die könne man abhaken. Nächste Woche.
Michalski: „Ich habe hier stehen: Zwei Kolumnen schreiben, Termin mit Bromberg wegen eines Gesprächs über seine Firmengruppe machen, Endfassung der Kommunikationsanalyse Holzapfel, Termin mit Ihrem Neffen wegen Coaching, Gespräch bei der Firma Hartmann, Mittagessen mit ‘Freund Werner’ im Redüttchen, Ausstellungseröffnung in der Galerie Schlenter.“
Er: „Für die ganzen nächsten Wochen und Monate kommt noch etwas hinzu: Arbeit an einem neuen Buch über die Voraussetzungen der Sozialen Marktwirtschaft.“
„Sie sind ein Workaholic!“
„Wenn Sie diese blödsinnige Trennung zwischen Arbeit und Freizeit aufheben und die noch blödere Unterscheidung zwischen Arbeit, die einem gefällt, und Arbeit, die man nicht mag, überwinden und statt dessen nur einfach anerkennen, dass ich lebe und tue, was ich als Aufgabe sehe …“
„Und was sind die Voraussetzungen der Sozialen Marktwirtschaft, die doch angeblich die Wirtschaftsordnung ist, die wir haben?“
„Hatten! Von ‘haben’ kann keine Rede mehr sein. Ganz kurz – mir ist auf Mallorca klar geworden: In den Unternehmen muss der autoritäre und prestige-orientierte Führungsstil von einem kooperativ-subsidiären Führungsstil abgelöst werden – das ist das eine. Der Staat muss – zweitens – jegliche Bevormundung aufgeben und verlässliche Rahmenbedingungen schaffen, durchsetzen und ihre Einhaltung kontrollieren. Die Rahmenbedingungen müssen einfach und für jeden erkennbar sein – ohne 1000 Ausnahme- und Sonderregelungen. Wer Einzelfallgerechtigkeit anstrebt, schafft nicht mehr, sondern weniger Gerechtigkeit, weil in dem so entstehenden Paragraphen-Dschungel die Skrupellosen herrschen.“
„Sie wollten sich kurz fassen!“
„Drittens: In einem Vormundschaftsstaat, in dem die Paradiesmacher jeden Tag eine
neue Gerechtigkeit erfinden, haben sich viele in den Bequemlichkeiten einer Mündel- und Subventionsgesellschaft eingerichtet – auf Kosten der Workaholics. Die meisten
Unternehmer und Manager sind Workaholics. Wenn diese Mündelmentalität nicht
überwunden wird und jeder in Selbstverantwortung und Selbstentwicklung sein eigener
Unternehmer wird, hat die Soziale Marktwirtschaft keine Zukunft.“
Kurzes Nachdenken. Dann fuhr er fort: „Wie wollen Sie denn Telearbeit in den anspruchsvolleren Bereichen erfolgreich praktizieren, wenn der Telearbeiter sich nicht selbständig organisieren kann? Das fängt mit der Zeiteinteilung an und hört mit der ständigen Verfeinerung der persönlichen Arbeitsmethoden nie auf. Außerdem muss man Fähigkeiten und Eigenschaften wie Verlässlichkeit, Leistungsvermögen, Qualitätsbewusstsein, Durchhaltekraft, Kommunikationsfähigkeit, Ehrlichkeit und andere, wenn man sie nicht hat, sich zu eigen machen, wenn man sie hat, pflegen und ständig weiterentwickeln. In den Unternehmen brauchen wir heute, um im Wettbewerb zu bleiben, einen ständigen Verbesserungsprozess. Wie aber soll der zustande kommen, wenn nicht aus dem Zusammenspiel der persönlichen kontinuierlichen Verbesserungsprozesse der einzelnen Mitarbeiter! – So, das war’s kurz und knapp, für den Anfang.“
„Da haben Sie sich aber etwas vorgenommen.“
„Es hat sich lange angesammelt. Jetzt muss es raus. Sie werden sehen, es wird Spaß machen.“
Hirschberg ging an die Arbeit. Er stand an seinem Schreibpult mit der Pinnwand daneben und arbeitete an Texten. Trotz seiner Fingerfertigkeit auf der Computertastatur schrieb er Rohfassungen mit der Hand. Das Abnabeln von Gedanken war ihm so persönlicher. Außerdem glaubte er, dass das Durchstreichen, Drüber- und Drunterschreiben, das Ergänzen auf der Rückseite des Blattes, das Zwischenschieben eines neuen Blattes – all das ginge per Hand schneller.
Aus Zeiten, als er mit dem Schreiben anfing – Filmkritiken während seiner Studentenzeit für das Periodikum ‚film-dienst‘– kannte er die oft verzweifelte Situation vor dem weißen Blatt. Das lief so: Nach einigem Grübeln darüber, wie er denn anfangen solle, wurde ein erster Satz geschrieben. Daran herumgefeilt. Dann alles wieder gestrichen. Unbrauchbar. Neuer Anfang. Nochmal: Womit beginnen? So, dass es Interesse weckt. Ja, so könnte es losgehen. Der erste Absatz steht. Nein, das ist alles viel zu kompliziert – und eigentlich nebensächlich. Alles durchgestrichen. Blatt zerknüddelt und in den Papierkorb geworfen.
Vielleicht erst was anderes tun? Musste er nicht noch einkaufen? Eigentlich nicht. Aber so ging es nicht. Er ärgerte sich. Wohl doch nicht zum Schreiben begabt. Indes: Er hatte den Film übernommen, und morgen musste er abgeben. Sollte er etwa sagen, leider habe ich nichts hinbekommen. Unmöglich. Dann wäre er den Job los gewesen. Also: Neuer Anlauf. Ohne viel nachzudenken, schrieb er einfach drauf los. Kein parallel laufendes Redigieren. Er musste erst einmal etwas zu Papier bringen, nacherzählen, was er gesehen hatte, nicht gleich schon werten. Ergänzungen, wenn ihm etwas Zusätzliches einfiel. Mehr und mehr kam er in Schwung. Am Ende wagte er nicht, das Ganze nachzulesen. Erst morgen. Vielleicht war alles unbrauchbar.
Am nächsten Tag wagte er sich an sein Geschreibe. Gemischte Gefühle. Taugt es was? Kann man was draus machen? Der Anfang gefiel ihm nach wie vor nicht. Doch mit dem dritten Absatz konnte man gut beginnen. Und das las es sich eigentlich ganz passabel. Es war noch einiges umzustellen, hier war ein Gedanke noch nicht zu Ende gedacht, dort nicht präzise formuliert. Auch war der eine oder andere Schnörkel überflüssig, wiederholten sich Aussagen. Streichen. Jetzt war es schon ganz brauchbar. Na also, mit Mühe und Not, aber es ging doch letztlich. Er tippte den Text, und in die Post damit. So war das damals.
Frau Schneider rief aus Mallorca an. „Ob Sie es glauben oder nicht: Ich hab’ mir einen Professor angelacht. Der ist emeritiert, wie er sagt, hat in Deutschland alles verkauft und sich dafür hier in eine der Wohnanlagen eingekauft. Er will Vorträge auf Mallorca anbieten. Ob ich ihm helfen könnte, das zu organisieren, hat er mich gefragt. Warum nicht, hab’ ich gesagt. Vielleicht werde ich dabei auf meinen alten Tag noch gebildet.“
„Das kann nie schaden.“
„Ich wusste, dass Sie mir das gönnen, wo ich ja hier, wie Sie meinen, nichts zu tun habe. Der Mann ist sehr nett, versteht was vom Leben, wenn auch mehr theoretisch, ist noch so Kavalier der alten Schule, wissen Sie. Ich mach’ das also für den: einen geeigneten Raum suchen und mieten, die Sache bekannt machen, Einladungen drucken lassen und was so alles dazu gehört.“
„Ich finde das großartig. Und jetzt wollen Sie mich auch einladen?“
„Nein. Aber wir würden gerne zu Ihnen kommen, Sie in Mehlem besuchen. Denn wir sind Anfang nächsten Monats in Köln. Ich hab’ da ein paar Dinge mit meinem Mann zu regeln, und Godehard – so heißt der Professor – muss auch noch einiges erledigen. Was wir mit Ihnen besprechen wollen: Wie man das am besten anstellt, wenn das nicht nur eine einmalige Angelegenheit sein, sondern so ein kleines Programm werden soll, wo die Leute immer wieder gerne hinkommen. Die sind doch alle froh hier, wenn ihnen was Interessantes geboten wird. Mit den Neuefeinds, die haben Sie ja bei mir kennengelernt, habe ich schon gesprochen. Die halten das für eine ganz tolle Idee. Wegen eines Termins werde ich mich nochmal melden.“
Ein Mallorca-Urlaub sollte wohl noch Folgen haben, dachte Hirschberg. Dann zog er sich zum Abendessen ins Untergeschoß zurück. Anschließend musste er nach Köln. Die Schneider, sagte er vor sich hin, bandelt mit einem Professor an.
Als Hirschberg kurz vor Mitternacht nach Hause kam, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, den Anrufbeantworter noch abzuhören. Eine Überraschung: Katha hatte drauf gesprochen. Sie komme Ende des Monats für ein paar Tage nach Deutschland. Sie habe sich bei einem Tenniszentrum beworben und sei zu einem Vorstellungstermin gebeten worden. An den Tag mit ihm erinnere sie sich gerne und hoffe, dass der Ausflug für ihn auch eine schöne Erinnerung sei. Sie würde ihn gerne wiedersehen. Sobald sie in Deutschland sei, würde sie sich melden.
Das heiterte ihn ein wenig auf. Denn er war übler Laune. Bei der Vernissage in Köln war so viel Verlogenheit in den Reden und so viel Doppelzüngigkeit bei den Gesprächen herauszuhören gewesen und war so viel Honig um Mäuler gestrichen worden, dass ihm bei jedem Häppchen, bei jedem Schluck Sekt und jedem Wort, das er hörte, schlechter wurde.
Er wäre längst gegangen, hätte der Gastgeber ihn nicht gebeten, einen anderen Gast auf dem Rückweg mit nach Bonn zu nehmen. Dem musste er schließlich klipp und klar sagen, dass er jetzt fahre und er sich wohl oder übel verabschieden müsse, wenn er mitfahren wolle. In Bonn wusste sein Fahrgast nicht genau, wo sein Hotel lag; und da Hirschberg es auch nicht wusste, mussten sie halt eine ganze Weile suchen. Sein Fahrgast meinte, er solle sich doch so ein Navigationsgerät anschaffen, das sei recht nützlich, sie hätten nur den Hotelnamen einzugeben brauchen.
Nach dem Abhören des Anrufbeantworters ging er zu Bett und schlief sofort ein. Aber nach zwei Stunden war er wieder wach, hellwach. Die Rede über den Künstler und sein Werk, von einem Professor der Kunstgeschichte gehalten, war eine Frechheit. Dagegen waren Fernsehwerbespots fast schon Tagesschau-Nachrichten. Was der sich zusammenbog an Lobhudelei, wie er Parallelen zog, Aussprüche von Geistesgrößen aller Epochen einflocht, keinen Superlativ ausließ, in Mimik und Gestik sich offenbar wie vor seinem Übungsspiegel selbst gefiel, statt seine Zuhörer wahrzunehmen – es war für Hirschberg zuerst atemberaubend, dann lächerlich und am Schluss nur noch ein Ärgernis.
Einen Moment kam Hirschberg der Gedanke, ob die Rede vielleicht ein gewaltiger Verriss sein sollte. Zielten diese maßlosen Übertreibungen nur darauf ab, durch ihre Unglaubwürdigkeit das Gegenteil zu offenbaren? In Arbeitszeugnissen, die dann allerdings anfechtbar waren, griffen Arbeitgeber schon mal zu dieser Methode, um ihren Frust über einen Arbeitnehmer, den sie nicht in Klartext fassen durften, dennoch loszuwerden. Vielleicht war der Professor ja ein raffinierter Hund. Der Gedanke war ihm während des Vortrags gekommen. Dann beobachtete er ihn wieder mit voller Aufmerksamkeit.
Nein, der war so, der lebte in dem, was er sagte – oder er wäre ein genialer Schauspieler. Und wenn er die Absicht gehabt hätte, durch Übertreibung seine Aussagen – sagte er eigentlich mit diesem Bildungsgigantismus etwas aus? – zum Umkippen zu bringen, hätte er diesen Zweck verfehlt. Denn an den Mienen der Zuhörer war abzulesen: Sie nahmen seine Vorstellung für bare Münze; denn hier sprach ja einer, der es wissen musste, der sich staatlich – also hoheitlich privilegiert – entlohnt in seinem Leben mit nichts anderem beschäftigte.
An den Wänden hätten ganz andere Bilder hängen können. Die Darbietung hätte genauso gut gepasst. Sie war ein Selbstläufer. Vielleicht wurde die Rede auch gar nicht zum ersten Mal gehalten. Der junge, noch unbekannte Künstler hatte es nicht verdient, so abgefeiert zu werden. Hirschberg hätte gerne, gleich im Anschluss an den Vortrag mit dem jungen Mann coram publico ein Interview geführt, ihn selbst zum Reden bringen wollen über seine Bilder, die Art und Weise seines Arbeitens, über sein Kunstverständnis und seine Lebenseinstellung. Vielleicht wäre es ihm gelungen, den Kontrast zwischen dem ungebildeten Künstler und dem gebildeten Dummkopf deutlich zu machen. Der Künstler, mit dem er vor dem Solo des Narzissten ein paar Worte gewechselt hatte, schien ihm weder intellektuell anspruchsvoll noch ein Hochstapler zu sein, der seine ausgelatschten Turnschuhe als Kunstwerk deklarierte.
In seiner Schlaflosigkeit kam Hirschberg noch ein Gedanke: Was der Professor der Kunstgeschichte nicht geschafft und wohl auch nicht gewollt hatte, nämlich das Gegenteil von dem zu erreichen, was er als Absicht vorgab, das gelang den Sozialpolitikern am laufenden Band. In ihrem Gerechtigkeitseifer, bei manchen auch schon Fanatismus, der sie fortwährend zu neuen Großtaten der Gesetzgebung antrieb, erreichten sie das Gegenteil des Gewollten. So wurde mit dem Bestreben nach „sozialer Gerechtigkeit“ der Arbeitsmarkt bis zur Funktionsunfähigkeit reguliert. Und dann die entstandene Arbeitslosigkeit als Schuld der Unternehmer angeprangert.
Jetzt kam Hirschberg wieder Katha in den Kopf. Er war unschlüssig: Sollte er sich auf sie einlassen oder sie abwimmeln? Was ihm in Mallorca nicht aufgefallen war, fiel ihm diese Nacht beim Abhören auf: Sie hatte eine sehr angenehme Stimme; weich und dennoch standfest, mit wohllautender Kontur, keine Krächze, wie es ihm bei anderen schönen Frauen schon mal aufgefallen war, die er mit schönen Vögeln verglichen hatte, denen die Natur eine schöne Stimme als zu viel des Guten verweigert hatte.
Außerdem war bei Katha kein Akzent herauszuhören, einwandfreie Aussprache. Jedes Callcenter hätte sie auf Anhieb genommen. Auch bei Rundfunksendern hätte sie Chancen gehabt. Hirschberg stand auf. Er wollte sich das, was ihm aufgefallen war, bestätigen. Er spulte zurück, hörte nochmal ab – es war so; so wie sie ein gewinnendes Lächeln hatte, hatte sie auch eine gewinnende Stimme.
Auf seinem Weg zurück ins Bett – der Morgen dämmerte schon herauf – traf er zwei Entscheidungen: Er würde für Katha Zeit haben, und er werde nachher, wenn er noch etwas geschlafen habe, raus zu seinem Eifelhaus fahren. Das war die Freiheit seiner Selbständigkeit, er konnte arbeiten, wann und wo er wollte.
Im Wochenendhaus
… strengstens verboten … Fichtenplantagen … Sperrung des Venns …
Die Unvernunft weniger führt zum Verbot für alle …
Sein Holzfertighaus war wie sein Haus in Mehlem nach Süden ausgerichtet. Hinter einer überdachten Veranda lag der Wohnraum mit großem Kachelofen, der das ganze Haus heizte, dahinter war die Küche. Aus dem Wohnraum führte eine Wendeltreppe ins Dachgeschoß mit Schlafraum und Bad. Als erstes machte er den Kachelofen an, dessen wohlige Wärme schon bald die klamme Kälte im Haus wegdrückte. Hirschberg legte sich aufs Sofa und entschlummerte.
Der nächste Tag war genauso sonnenklar wie der vergangene, die Nacht war kalt – die Eisheiligen. Hirschberg machte eine Vennwanderung. Stiefel brauchte man dazu nur noch, wenn man abseits der Forststraßen und ausgebauten Wanderstrecken ging. Denn die alten Pfade durch das Venn waren mit Holzstegen ausgelegt worden, um die Natur zu schützen. Das Verlassen der Wege war im Hohen Venn, dieser einzigartigen Hochmoorlandschaft, strengstens verboten.
Als er sich vor Jahren dieses Wandergebiet erschloss, gab es noch keine Verbote. Zu allen Jahreszeiten war er hier oben gewesen. Im Herbst, wenn das Pfeifengras goldgelb die Flächen bedeckte, die Birken hellgelb leuchteten, die Buchen und der Farn in sattem Dunkelbraun standen, pflegte er, sich ein trockenes stilles Fleckchen Erde zu suchen, sich auszustrecken und die frische würzige Luft tief einzusaugen.
Fast wäre das Venn in diesem und im vorigen Jahrhundert komplett den preußischen und später belgischen Forstleuten zum Opfer gefallen. Die Landschaft erschien denen nutzlos, unwirtlich, menschenfeindlich. Deshalb wurde sie mit Entwässerungsgräben durchzogen und mit Fichten, einem hier nicht bodenständigen Baum, aufgeforstet. Fichtenplantagen. Toter Wald. Eine Schande. Als nur noch etwa zwei Fünftel der ursprünglichen Fläche vorhanden waren, nicht mehr zusammenhängend und teilweise auch schon mit Schneisen und an der Schnur entlang ausgehobenen Gräben totgeweiht, wurde der Kampf zwischen Förstern und Vennfreunden immer heftiger. Für die Ansiedlung von drei Bauernhöfen wurde sogar noch Land urbar gemacht. Doch dann kam die Wende: Die Restbestände wurden unter Naturschutz gestellt.
Doch damit war die Landschaft nicht gerettet. Die Touristen kamen. An den Wochenenden wälzte sich eine immer größere Blechlawine von Holland, Flandern, Wallonien, Deutschland her zur Baraque Michel und Botrange hoch. Gruppen von 10, 20, 50 Personen mit Stiefeln und Rucksack zogen los zur Vennwanderung. Sie zertrampelten buchstäblich die Landschaft. Denn im Venn gibt es auf vielen Strecken keinen festen Boden. Die Wege werden bei vielfachem Begehen schnell morastig. Die Wanderer wichen auf die Ränder aus, die dann auch bald keinen Tritt mehr boten. Nach einiger Zeit mussten mehrere Wege schon aus Sicherheitsgründen gesperrt werden. Es wurden sogar Überlegungen angestellt, das Venn insgesamt für jedermann zu sperren – eine nicht kontrollierbare Maßnahme. Schließlich kam man auf die Idee mit den Stegen.
Obwohl Hirschberg die Stege nicht mochte, sie als künstlich und seine Bewegungsfreiheit einengend empfand, akzeptierte er diese Rettungsmaßnahme. Akzeptieren musste er auch die Sperrung des Venns für Skilangläufer. Vorbei die Zeiten, in denen er das traumhaft schöne Winter-Venn auf Brettern durchstreifen konnte. Selbst in den angrenzenden Waldgebieten war das Skilaufen heute verboten. Eine Loipe, die auf Forstwegen im Gebiet des Brachkopfs ausgeschildert war, wurde aufgehoben, weil einige Skiläufer es nicht lassen konnten, von ihr abzuweichen. Wie in anderen Lebensbereichen: Die Unvernunft weniger führt zum Verbot für alle.