3.
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Coachinggespräch
… was ich an deiner Stelle täte … nur nicht sich selbst verändern …
als Einzelkämpfer … wie ein Heinzelmännchen …
Am Abend fuhr Hirschberg zurück nach Mehlem. Denn am nächsten Tag war der Termin mit Neffe Joachim. Wie immer fragte Hirschberg zuerst danach, wie er die Ergebnisse des letzten Gesprächs umgesetzt habe. Schon bald war trotz wortreicher Erklärungen deutlich, es hatte sich nichts getan. Der junge Mann hatte zwar beim letzten Mal alles eingesehen und die in der Sitzung gemeinsam erarbeiteten Lösungen aufgeschrieben, aber er verstand es nicht, Taten folgen zu lassen.
Bis jetzt war Hirschberg davon ausgegangen, dass es sich um Anfangsschwierigkeiten handele und erst einmal so etwas wie ein Handlungsstau entstehen müsse, um loszulegen. Doch nun merkte er, hier lagen grundsätzliche Schwierigkeiten vor, Joachim war der Sache nicht gewachsen. Er war ein guter Fachmann, aber ihm fehlte die Fähigkeit, mit Mitarbeitern umzugehen. Während Joachim noch erzählte, hörte Hirschberg nur noch mit einem Ohr zu, da er überlegte, wie er jetzt verfahren sollte.
Der Jungunternehmer beendete seinen Bericht mit dem Vorschlag, der Onkel möge doch mal ins Unternehmen kommen, um mit den Leuten zu reden. Der lehnte jedoch kategorisch ab und erläuterte: „Es handelt sich um dein Unternehmen, du musst mit den Leuten klar kommen, du musst ihnen sagen, wie du dir die Zusammenarbeit vorstellst, von dir müssen die Mitarbeiter erfahren, was du von ihnen erwartest. Ich kann das nicht für dich tun.“
Der Junge machte noch einen Versuch: „Kannst du denn nicht wenigstens zu einer Betriebsversammlung kommen?“
„Nein. Auch das würde dir nicht helfen. Denn das Problem liegt in erster Linie bei dir, nicht bei deinen Mitarbeitern.“
Wieder Pause. Hirschberg überlegte, was er tun würde, wenn er zu der Erkenntnis käme, grundsätzliche Probleme mit seinen Mitarbeitern zu haben. „Was ich dir jetzt sage, ist kein Ratschlag. Ich kann dir nur sagen, was ich an deiner Stelle täte. Entscheiden, was du tust, kannst nur du selbst. Denn du musst auch die Folgen tragen. Ich an deiner Stelle würde das Unternehmen verkaufen.“
Joachim fiel das Kinn runter; er sah den Onkel verständnislos an: „Das Unternehmen aufgeben?“
„Genau das. – Ich sage dir, warum ich das an deiner Stelle machen würde. Meine erste Überlegung wäre, was kann ich gut, was weniger gut. Ich würde feststellen: In allen Bereichen, in denen es um die Sache, um die Produkte des Unternehmens geht, bin ich der beste in der Firma. Deshalb habe ich ja auch das Unternehmen gegründet. Aber ich müsste mir weiter sagen, zur Beschäftigung mit den Produkten komme ich gar nicht mehr, das machen jetzt meine Mitarbeiter. Ich muss nur noch dafür sorgen, dass die ausgelastet sind, genügend Aufträge da sind; und dann muss ich dahinter her sein, dass die Aufträge zur Zufriedenheit der Kunden ausgeführt werden. Um das alles zu bewältigen, brauche ich aber weniger Sachkenntnisse, sondern vor allem Managementfähigkeiten.“
Er fuhr fort: „Ich müsste mir sogar eingestehen, meine Sachkenntnis wäre in gewisser Weise hinderlich bei der Führung des Unternehmens. Denn sie verleitet mich dazu, meine Mitarbeiter ständig zu bevormunden, ihnen zu sagen, wie es besser geht. Das wiederum verleitet meine Mitarbeiter dazu, nichts zu tun, ohne mich vorher zu fragen. Alles bleibt an mir hängen. Wenn ich mich nicht um jede Angelegenheit selber kümmere, passiert nichts. Meine Sachkenntnisse kommen mir zugute bei den Kunden. Ich kann ihre Fragen kompetent beantworten. Aber manchmal erkläre ich viel zu ausführlich. Manche Kunden haben das schon ausgenutzt, indem sie – von mir schlau gemacht – zur Konkurrenz gingen, um ein billigeres Angebot zu bekommen. Und außerdem kann ich nicht gut verhandeln.“
Hirschberg sah Joachim an. Der schwieg, war in sich gekehrt. Hirschberg: „Soweit meine selbstkritische Analyse. Die Frage, die sich daraus ergibt: Wie kann ich das, was ich kann, wieder mehr zu meiner Arbeit machen, damit ich wieder Freude daran finde und nicht das Gefühl habe, sowohl von den Kunden als auch von den Mitarbeitern ausgenutzt zu werden? Unter den Bedingungen der jetzigen Firma ginge das nicht, müsste ich mir sagen. Also gebe ich sie auf.“
Joachim: „Und was dann?“
Hirschberg: „Um diese Frage zu beantworten, würde ich mir das Folgende überlegen: Was ist denn mein eigentliches Kapital? Doch nicht das bisschen Eigenkapital und die Bankkredite. Mein Kapital sind Kunden, die ich aufgrund meines fachlichen Könnens gewonnen habe. Wie kann ich das nutzen?“
Joachim sah vor sich hin. Schließlich sagte er leise und weiterhin in sich gekehrt: „Du meinst also, zum Unternehmer eigne ich mich nicht!“
„Das ist damit nicht gesagt. Nur so, wie du dein Geschäft betreibst, wird das immer ein Hängen und Würgen sein. Du bist doch gar nicht flexibel. Angenommen, es kommt zu einer Durststrecke, weil aus irgendeinem Grund, beispielsweise wegen technischer Neuerungen oder wegen Billigangeboten aus irgendeiner Ecke der Welt, die Aufträge weniger werden oder eine Zeitlang ganz ausfallen – wie willst du das mit deiner heutigen Organisation auffangen? Du bist doch pleite mit allen üblen Folgen für dich und deine Familie, ehe du auch nur richtig realisiert hast, was da abgeht.“
„Du machst mir Angst.“
„Wovor du die Augen zumachst, das sollte dir Angst machen. Ich will und kann nicht für dich entscheiden. Aber ich will dir die Augen öffnen. Es gibt für jeden, vereinfacht gesagt, drei Möglichkeiten, künftig in gesichertem Wohlstand zu leben: Entweder man geht zum Staat und macht eine Beamtenkarriere oder man geht zu einem Konzern oder man setzt sich als Einzelkämpfer auf eigene Faust durch.“
„So wie du!“
„Aber dazu musst du fit sein, und genügsam wie ein Kamel – lange Strecken ohne Wasser. Mal kommen mehr Aufträge, als du allein bewältigen kannst, mal gar keine. Und ohne Glück geht es auch nicht. Das wichtigste aber ist: Du musst ständig an dir arbeiten, dich verbessern, Zeit in deine Fortbildung investieren. Anders geht das nicht.“
„Ich habe Frau und zwei Kinder. Wie soll ich das denn machen? Außerdem würde Margret es nicht verstehen, wenn ich die Firma aufgebe, nachdem ich so viel Zeit und Kraft investiert habe. Meine Mutter würde mich für verrückt erklären.“
„Und mich würde sie zum Schuldigen erklären. Aber ich rate es dir nicht. Du musst tun, was du für richtig hältst. Was ich täte, kann für dich nicht maßgebend sein.“
Hirschberg wusste: Joachim wollte nicht; vielleicht konnte er auch nicht, weil die beiden genannten Frauen zu viel Einfluss auf ihn hatten.
Er sagte: „Überlege es dir, und tu, was du für richtig hältst. Wenn du weiterhin mit mir deine Probleme in der Firma besprechen willst – ich stehe dir zur Verfügung.“
Joachim: „Vielleicht machen wir jetzt erst einmal eine Pause.“
Hirschberg fragte noch nach Joachims Kindern. Und um in ein anderes Fahrwasser zu kommen, erzählte er, wie das früher im Urlaub mit seiner Schwester, also Joachims Mutter und deren Kindern, also Joachim und seinen Geschwistern lief, wo Hirschberg öfter den Vater vertrat, der im Unternehmen nicht wegkam. Dann verabschiedete er den Neffen. Seine Hoffnung war, dass er nicht eines Tages mit den geäußerten Befürchtungen Recht hätte.
Warum sind Menschen nur so veränderungsunwillig? Warum wollen sie nicht von ihrem einmal eingeschlagenen Weg runter? Diese Fragen bedrängten Hirschberg, nachdem er Joachim nachgewinkt hatte und wieder ins Haus gegangen war. Warum wollten die meisten Menschen lieber die ganze Welt nur nicht sich selbst verändern? Er legte sich aufs Sofa im Wohnzimmer und geriet ins Grübeln.
Seine Gedanken schweiften weiter ab. Ihm fiel der griechische Hotelier in Lutraki am Golf von Korinth ein, bei dem er auf seiner Griechenlandreise logiert hatte. Der bot nichts als Zimmer mit Bett an, stilvoll eingerichtet, jeden Tag frische Wäsche. Morgens verabschiedete er seine Gäste, vom späten Nachmittag an empfing er sie wieder. Er war immer tipptopp gekleidet. Der Scheitel auf der linken Seite seiner pechschwarzen Haarpracht war wie mit dem Lineal gezogen. Die Freundlichkeit in Person. Er nahm die Zimmerschlüssel entgegen, verwahrte Gegenstände, händigte sie wieder aus, beantwortete Fragen in gepflegtem Englisch. Er machte den Eindruck, nichts anderes als den perfekten Empfangschef zu spielen.
Nach ein paar Tagen im Hotel fiel Hirschberg auf, dass weder Zimmermädchen noch sonst irgendein Personal zu sehen war. Einmal kam er tagsüber zurück, weil er ein Souvenir auf sein Zimmer bringen wollte. Der Hotelier war nicht da. Hirschberg nahm seinen Schlüssel vom Bord und ging auf sein Zimmer. Das Bett war wieder neu bezogen, alles penibel sauber gemacht und in Ordnung gebracht. Zurück am Empfang hielt er nach dem Hotelier Ausschau, weil er noch eine Auskunft haben wollte. Er sah überall nach, auch im Garten.
Zuletzt stieg er die Treppe hinunter ins Souterrain, machte eine Tür auf – und stand im Dampf der Waschküche, vor ihm sein Hotelier in Arbeitshose, offenem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, verschwitzten und strähnigen Haaren, rot im Gesicht. Wie ertappt sah der Mann Hirschberg an und wies ihn barsch zur Tür raus, noch bevor dieser seine Frage stellen konnte. Der Hotelier machte also die ganze Arbeit allein, wie ein Heinzelmännchen. Am Nachmittag stand er wieder geschniegelt und gestriegelt am Empfang.
Die Menschen haben von Natur aus die Neigung, vollkommen sein zu wollen. Die einen hielten das mehr oder weniger für gegeben, gefielen sich so, wie sie sich sahen, waren selbstverliebt und lehnten es ab, sich zu verbessern. Andere erlebten ihre Unvollkommenheit als Schmach, wollten das aber vor den übrigen Menschen verbergen. Also taten sie wie der Hotelier in aller Heimlichkeit, was sie als unwürdig empfanden. Wieder andere bemühten sich mit ungeheurem intellektuellen Aufwand, der Unzulänglichkeiten ihres Lebens Herr zu werden. Das traf auf Hannelore zu. Nur wenige verstanden es, menschliche Unvollkommenheit offen und ehrlich anzunehmen, sich aber dennoch nicht mit ihr abzufinden.
Politik und Politiker
… wuchtige große Gestalt … polemisieren konnte er selber … keine Harmonie-
Vereine … für seine Ideen kämpfen … die mediale Inszenierung …
Hirschberg freute sich auf das Treffen mit Freund Werner. Der Mann war eine Herausforderung, ein Erlebnis. Ein Unternehmer, wie ihn jede Gesellschaft braucht, wenn zugunsten des Allgemeinwohls etwas bewegt werden soll. Er nannte ihn „Freund Werner“, nicht weil er ein Freund im eigentlichen Sinn war, sondern weil er sich gern als Freund ausgab; beispielsweise: „Wenn ich Ihnen als Freund etwas sagen darf …“.
Politiker! ‘Die’ Politiker. Hirschberg hatte viele aus der Nähe beobachten können, manche auch kennengelernt. Sie alle in einen Topf werfen und dann über sie schimpfen, war Blödsinn. Aber man musste wohl feststellen, dass es viel zu viele von ihnen gab: auf kommunaler Ebene, auf Zwischenebenen, auf Länder- und Bundesebene. Und obendrauf kam noch die Europäische Union. Die Folge dieser Überbesetzung: Eine Überproduktion von Gesetzen, Gesetzesnovellen, Erlassen, Vorschriften. Eine Heerschar von Beamten. Zwischen den Ebenen gab es keine klaren Trennungslinien. Man stritt um Kompetenzen, also Macht, und das dazugehörige Geld. Von der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips konnte keine Rede sein. Man stand sich gegenseitig auf den Füßen. Wie in der Küche: Zu viele Köche verderben den Brei.
Was für ein Politiker war Freund Werner? Hirschberg war ihm anfangs sehr skeptisch begegnet. Leuten, die sich wie er als Freund ausgaben, misstraute er. Andererseits hatte er ein so gewinnendes Wesen, dass es schwer fiel, ihn nicht zu mögen. Materielle Motive konnten ihn nicht bewogen haben, in die Politik zu gehen. Er gehörte zu den wenigen Abgeordneten, für die man die Diäten und andere Zuwendungen und Ansprüche hätte abschaffen können. Vielleicht sollte er ihn einfach mal fragen, warum er Mitglied des Bundestags – über die Landesliste seiner Partei – geworden sei.
Hirschberg war pünktlich im Redüttchen, wo er mit Freund Werner verabredet war. Wie er erwartet hatte, war er der erste. Aber Freund Werner hatte einen Tisch im oberen Stockwerk reservieren lassen. Ob er schon etwas trinken wolle, fragte ihn der Ober, der ihn zum Tisch geleitet hatte. Er warte noch ein wenig, erwiderte Hirschberg. Nach ein paar Minuten kam der Ober erneut an den Tisch. Die Sekretärin von Herrn Dr. Boone habe gerade angerufen, Herr Dr. Boone komme etwas später und bitte um Verständnis. Auch das kannte Hirschberg zur Genüge. So ein ‘etwas’ konnte lange dauern. Diesmal dauerte es nicht lange. Freund Werners laute sonore Stimme war schon unten im Lokal zu hören, als er den Ober nach dem Tisch fragte. Die Holztreppe knarrte unter seinem Übergewicht. Eine wuchtige große Gestalt füllte den Gastraum.
Sobald Boone Hirschberg erblickte, der sich erhoben hatte, rief er, noch im Zugehen die Hand ausstreckend: „Wie geht es Ihnen, mein Freund. Lange nicht mehr gesehen!“ Die anderen Gäste unterbrachen ihre Gespräche oder ihre Zeitungslektüre und blickten zu den beiden rüber. Kein Zweifel, hier hatte eine selbstbewusste Persönlichkeit den Raum betreten. Hirschberg war diese Aufmerksamkeit eher peinlich, Freund Werner schien sie selbstverständlich nach dem Motto ‘Hoppla, jetzt komme ich’. Er zwängte sich hinter den Tisch auf die Sitzbank.
Zu Hirschberg: „Sie sind ja noch dünner geworden. Haben Sie gesundheitliche Probleme? Ich kann Ihnen ein paar Kilo abgeben.“
Neben dem Tisch stand dienstbereit der Ober. Boone zu ihm: „Was haben Sie denn heute Leckeres anzubieten?“ Der Ober referierte. Freund Werner zu Hirschberg: „Ich darf Sie einladen?“ Hirschberg artig: „Danke schön.“ Es wurde gewählt. Ober: „Was möchten Sie dazu trinken?“ „Haben Sie einen schönen trockenen Riesling von der Mosel?“ „Wir haben…“ der Ober bot mit ein paar beschreibenden Worten an. Freund Werner entschied für sich. Zu Hirschberg: „Sie auch?“ Der wollte Individualität zeigen, nachdem er schon das gleiche Menü gewählt hatte: „Haben Sie auch einen Kaiserstühler?“ Der Ober nannte drei Sorten. Eine war dabei, die Hirschberg kannte.
Der Ober war schon im Abgang, als Freund Werner ihn nochmal zurückrief: „Vorab, jetzt bitte gleich, einen Aquavit, welchen haben Sie?“ — „Nein, haben Sie nicht den …?“ Der Ober half ihm. „Genau, bringen Sie mir den!“ Zu Hirschberg: „Für Sie auch einen?“ „Nein, danke.“ „Sie müssen anschließend autofahren! Ja, dann lieber nicht.“
Er lehnte sich zurück, zog die Krawatte gerade, legte seine Hände auf dem Bauch zusammen und sah Hirschberg mit seinen hellen blauen Augen an. Als der schwieg: „Sie glauben ja gar nicht, was bei uns in der Partei derzeit los ist. Jeder hat ein anderes Rezept, wie wir wieder nach oben kommen. Keine Disziplin. Das reinste Chaos. Wir lassen das noch etwas laufen, bis es den Kameraden selbst zu bunt wird, dann werden wir, der Vorstand – Sie wissen, dass ich da gerade rein gewählt worden bin? – dann werden wir die Zügel langsam anziehen.“
Hirschberg wusste, jetzt müsse auch er langsam auf die Bühne, sonst gab das eine Ein-Personen-Schau. Und er wollte Selbstbehauptung zeigen, indem er das Thema vorgab. Also fragte er: „Und wie geht’s im Unternehmen?“
„Ach ja, soll ich klagen? Wir sind nicht ganz ausgelastet. Aber im Vergleich zur Konkurrenz geht es uns noch ganz gut. Wir haben jetzt ein paar neue Produkte entwickelt. Wenn die einschlagen, sind wir fürs erste wieder über den Berg.“
„Können Sie sich denn neben der Politik genügend um Ihr Unternehmen kümmern?“
„Zum Glück habe ich neben mir einen tüchtigen Geschäftsführer. Anders ginge das gar nicht.“ Das Essen wurde serviert.
„Und die übrige Mannschaft zieht auch mit?“
„Ja, alles hochmotivierte Leute. Die sind alle stolz darauf, bei mir zu arbeiten. Auch wenn sie nicht meine Partei wählen.“ Er lachte.
„Und Ihr Betriebsrat schießt nicht quer?“
„Ich habe keinen! Als die letzten Betriebsratswahlen propagiert wurden, habe ich denen gesagt, ich hielte mich da raus. Wenn sie einen Betriebsrat wählen wollten, sollten sie das tun. Nach einer Weile kamen sie und meinten, an einem Betriebsrat bestünde kein Interesse. In einem Konzern sei das sicher angebracht, aber bei unseren 120 Leuten – was bringe das denn schon. Die Gewerkschaften haben dann versucht, ein paar Leute, die von ihren früheren Beschäftigungen her noch Mitglieder sind, zu beeinflussen, aber ohne Erfolg. Ich hätte mit einem Betriebsrat keine Probleme.“
Hirschberg dachte: Der Patriarch hatte wahrscheinlich im Laufe der Jahre eine ganz auf ihn bezogene Personalpolitik betrieben, jede Aufmüpfigkeit umgebogen oder unterbunden. Die Belegschaft war vermutlich eine Art Fanclub des Chefs. Auch solche Betriebe hatte er schon kennengelernt. Sie hatten tüchtige und engagierte Mitarbeiter. Der Chef wusste sie mit seiner Intelligenz, Menschenkenntnis und Charakterfestigkeit für sich einzunehmen. Er konnte seine Leute zu vollem Einsatz motivieren. Freund Werner hatte zudem offenbar noch einen Statthalter, der ihm seinen Einsatz in der Politik ermöglichte.
„Haben sich die neuen Verhältnisse in Berlin schon eingespielt?“, fragte er den Volksvertreter.
„Parlament und so? Da ist noch vieles gewöhnungsbedürftig. Jetzt merkt man erst so richtig, wie sich hier in Bonn über die Jahre doch alles sehr vorteilhaft und zeitsparend eingerichtet hatte. Mit viel Aufwand ist in Berlin ein neuer Anfang gemacht worden. In ein paar Jahren ist das wohl alles recht funktionstüchtig. Diese Aufteilung zwischen Bonn und Berlin finde ich allerdings blödsinnig. Entweder oder. Eine der typischen Kompromissentscheidungen. Regierungsmitglieder, die ihren Apparat in Bonn sitzen haben, müssen dauernd hin und her fliegen. Viele Beamte haben ihren Wohnsitz hier in Bonn behalten. Für viele von ihnen, die kurz vor der Pensionierung stehen, würde ein Umzug ja auch keinen Sinn machen.“
Freund Werner erkundigte sich nach Hirschbergs derzeitigen Aufträgen. Der berichtete und ließ einige kritische Bemerkungen zur Wirtschaftspolitik einfließen. Daraufhin fragte er Hirschberg: „Und wie könnte Ihrer Meinung nach ein überzeugendes Konzept für meine Partei aussehen?“
Hirschberg trug seine Theorie der dreipoligen Gesellschaft ‘Individuum, Unternehmen, Staat’ vor. Freund Werner unterbrach ihn nur, wenn er sicher gehen wollte, richtig verstanden zu haben. Zum Schluss jedoch ließ sich Hirschberg hinreißen, mehr die gängige Politik zu geißeln, als die Ansatzpunkte der von ihm gedachten alternativen Politik aufzuzeigen. Alle bekamen ihr Fett weg. In der Wortwahl war er nicht zimperlich. Der Regierung warf er falsches Handeln vor, der Opposition Ideen- und Konzeptionslosigkeit.
Freund Werner interessierte das weniger. Polemisieren konnte er selber. Aber die Theorie, die Hirschberg ihm in großen Zügen darlegte, befand er für wert, näher bedacht zu werden. Sicherlich musste man sie noch weiter ausarbeiten, unter verschiedenen Gesichtspunkten abklopfen, insbesondere noch ein Handlungskonzept daraus ableiten. Wenn das überzeugend gelänge, könnte man versuchen, es in die Partei einzubringen und eine Mehrheit dafür zu gewinnen. Ein zäher und Energie raubender Prozess. Zu Hirschberg: „Soviel ich weiß, sind Sie in keiner Partei. Zwar haben Sie mir mal erzählt, Sie hätten in der Politik und in Diensten einer Partei gearbeitet, aber offen ist geblieben, warum Sie nicht Mitglied dieser Partei geworden sind.“
Hirschberg ahnte, Freund Werner wollte ihm bedeuten, wer politische Ideen habe, solle diese auch selbst in der Öffentlichkeit vertreten. Auf die gestellte Frage antwortete er wahrheitsgemäß: „Ich konnte mich immer nur mit Ausschnitten aus den Programmen der für mich infrage kommenden Parteien identifizieren, nie mit dem Gesamtprogramm. Und bei den Personen hatte ich noch mehr Probleme; je näher ich sie kennenlernte, umso weniger mochte ich mit der Mehrzahl von ihnen etwas zu tun haben. Ich bin kein Gefolgschaftsmensch.“
„Das ist kein Grund, nicht Partei zu ergreifen, sondern im Gegenteil, in eine Partei einzutreten. Glauben Sie, mir würden alle Passagen unseres Parteiprogramms schmecken? Bei weitem nicht. Aber ich sitze jetzt im Vorstand, und ich werde darauf hinarbeiten, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem ich wieder ausscheide, mir mehr schmeckt als jetzt. Personen! Sie kennen doch das Bonmot, das Adenauer zugeschrieben wird: Feind, Erzfeind, Parteifreund. Parteien sind keine Harmonie-Vereine. Wenn sie es wären, wäre die Posten-Kungelei noch viel schlimmer, als sie es schon ist. Nein, in Parteien muss man sich durchsetzen, man muss für seine Ideen kämpfen und Mehrheiten gewinnen.“
„Dazu muss man aber auch die Zeit und Kraft haben.“
„Wenn Sie die nicht haben, mein Freund, andere haben sie. Aber die machen dann alles das, was Sie soeben so schön und wohlfeil kritisiert haben. In jeder Partei gibt es so viele Möglichkeiten, sich zu engagieren, dass es nichts als eine faule Ausrede ist, zu sagen, man habe keine Zeit. Natürlich kann man mit seiner Zeit auch was anderes anfangen. Ich könnte mir auch eine Yacht ans Mittelmeer legen und wie manche meiner Unternehmer-Kollegen, die mir mit ihren Forderungen in den Ohren liegen, an den Abenden im Hafen auf die Scheiß-Politik in Bonn beziehungsweise jetzt in Berlin schimpfen. Was meinen Sie, wie ich denen den Kopf wasche! Wer in der Freiheit einer Demokratie lebt, hat die Verpflichtung, sich an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen. Sonst darf er sich nicht beklagen.“
Jetzt war das Gespräch auf einem völlig falschen Gleis, dachte Hirschberg. Der Fehler lag bei ihm. Er hatte sich von seinem Unmut wegreißen lassen, statt nüchtern und sachlich eine Zukunftsperspektive aufzuzeigen und Ansatzpunkte zu politischen Maßnahmen zu nennen.
Noch ehe Hirschberg sich einen Ausweg überlegen konnte, kam die nächste Salve: „Wissen Sie, Hirschberg, ich mag keine Leute, die sich die Hände nicht schmutzig machen wollen. Es gibt in diesem Land viel zu viele Leute, die an den Politikern kein gutes Haar lassen, die alles besser wissen – manche haben das sogar zu ihrem Beruf gemacht – , aber dahin kommen, wo Politik gemacht wird, wollen sie nicht; dafür sind sie sich zu fein, da könnte man ja strapaziert werden, da könnten vielleicht die Hobbys drunter leiden. So verkommt eine Demokratie. Und schließlich haben wir in den Parteien nur noch oder überwiegend Leute, die als Opportunisten genau das bestätigen, was an übler Nachrede über Politiker verbreitet wird.“
Mit dem Ton großen Bedauerns und Unmuts fuhr er fort: „Die fähigen Leute unseres Volkes meiden die Politik, lassen sich vielleicht noch als Gutachter engagieren, aber selbst in die Politik gehen – nein danke! Wer schließt sich schon einem Berufsstand an, der in der Bevölkerung kein Ansehen mehr hat. Da darf sich keiner wundern, dass die Politik entsprechend aussieht. Wir haben in Deutschland keinen Mangel an guten und richtigen Ideen, wir haben einen Mangel an Personen, die bereit sind, für ihre guten und richtigen Ideen in der politischen Arena zu kämpfen.“
Jetzt gab es kein Entrinnen mehr. Freund Werner holte zum finalen Schlag aus: „Sie haben mir ein konsequent durchdachtes und stimmiges Konzept angeboten. Ich lade Sie ein: Kommen Sie in unsere Partei, bringen Sie Ihre Vorstellungen ein, stehen Sie als Person für das ein, was nach Ihrer Überzeugung gut und richtig für Deutschland ist. Oder glauben Sie, ich brauchte Sie nur zu einer unserer Vorstandssitzungen einzuladen, Sie tragen vor, was Sie mir eben vorgetragen haben, wir sagen, Herr Hirschberg, wie wunderbar, auf so ein Konzept haben wir schon lange gewartet, wir werden es sofort zu einem Kapitel unseres Parteiprogramms machen, entsprechende Gesetzentwürfe daraus machen, die so bestechend sind, dass der Deutsche Bundestag sie mit großer Mehrheit beschließen wird. So naiv werden Sie doch nicht sein!“
Hirschberg war erledigt. Freund Werner hatte ihn voll auf die Hörner genommen. Der winkte den Ober heran und fragte nach der Dessertkarte. Er reichte sie Hirschberg rüber. Er selber wolle keinen Nachtisch, aber einen Espresso, einen doppelten. Hirschberg wählte ein kleines Eis, keinen Kaffee.
„Und die Rechnung bitte!“, sagte sein Gastgeber zum Ober. Dann zu Hirschberg: „Sie kennen doch unsere parteinahe Stiftung. Da laden wir immer wieder mal interessante Leute in einen kleinen Kreis von Abgeordneten ein, der sich losgelöst von der Tagespolitik mit allgemeinen politischen Fragen befasst. Ich könnte vorschlagen, Sie zu einem der nächsten Treffen zu bitten. Was halten Sie davon?“
„Ich würde kommen.“
„Und noch was, wenn ich Ihnen als Freund einen Rat geben darf: Machen Sie aus Ihrem Thema ein Buch!“
Der Ober kam mit der Rechnung. Kurze Prüfung. Betrag großzügig nach oben gerundet. Kreditkarte. Blick auf die Uhr. Frage an den Ober: „Ist mein Fahrer schon da?“
„Ja, er wartet unten.“ Freund Werner brachte sich wieder auf die Beine. Hirschberg stand schon. Abgang. Wieder knarrte die Treppe. Verabschiedung vor dem Eingang.
Freund Werner: „Sie hören von mir, ob das bei der Stiftung etwas wird.“ Hirschberg bedankte sich für Gespräch und Essenseinladung. Dann trennten sich ihre Wege.
Als Hirschberg nach Hause kam, musste er sich erst einmal entspannen. Das war wohl gründlich daneben gegangen, gestand er sich ein. Freund Werner hatte Recht: Wer die Politik anderen überlässt, muss akzeptieren, dass diese eine andere Politik machen. Eine Demokratie kann in Schieflage geraten, wenn den Medien keine überzeugenden politischen Persönlichkeiten gegenüberstehen. Dann bestimmen nicht die handelnden Akteure, sondern die Medien das politische Klima. Dann kann die mediale Inszenierung von Affären Wahlen entscheiden.
In Deutschland sind sich mittlerweile viele zu schade, um in die Politik zu gehen. Politik verdirbt nicht den Charakter, aber schlechte Charaktere die Politik. Freund Werners Standpauke war berechtigt. Nur er, Hirschberg, war das falsche Publikum. Ob der in seiner Egozentrik tatsächlich nicht bemerkt hatte, warum er nie und nimmer in der Lage war, seine Ideen politisch durchzusetzen? Er konnte als Ghostwriter sich nützlich machen, aber nicht selber in die Bütt steigen.
Vater und Tochter
… Talente geerbt … biss sich auf die Zunge … auf den Grund kommen …
in unserer wissenschaftsgläubigen Zeit … Eltern machen Erziehungsfehler …
Hirschberg sah auf die Uhr. Jeden Augenblick konnte seine Tochter kommen. Sie hatte viel an Verhaltensweisen und Einstellungen von ihm mitbekommen. Was war vererbt? Was war angenommen? Das würde man nie auseinander dividieren können. Zwar hatte die Medizinforschung herausgefunden, dass es Charakterschwächen gibt, die organische Ursachen haben können wie beispielsweise Jähzorn, aber erstens war man sich dabei wohl doch nicht so ganz sicher, und zweitens war der Mensch ein so in sich verwachsenes Ganzes, dass bei aller Kunst des Sezierens und Diagnostizierens er ein Geheimnis blieb.
Menschen! Menschen wollen sich nicht nur nicht ändern, sondern außerdem auch noch an nichts schuld sein. Ihr Selbstbewusstsein ertrug das nicht. Wer keinen erbarmenden und Heil bringenden Gott kennt, der muss sich in Selbstgerechtigkeit und Unschuld wiegen, wenn er innerlich nicht zusammenbrechen will.
Begangene Erziehungsfehler nagen deshalb so unerbittlich an einem, dachte Hirschberg, weil sie nicht reparabel sind. Nicht die Eltern hatten sie auszubaden, sondern die Kinder. Wenn sie dann ihrerseits Kinder hatten, wollten sie denen ersparen, worunter sie selbst gelitten hatten – und machten dann den gegenteiligen Fehler. Wenn sie ihre Eltern als zu weich erlebt hatten, erzogen sie ihrerseits mit Strenge – und die Kinder der Kinder wurden als Eltern wieder Softies, weil sie nicht streng sein wollten.
Und wie hatte Hirschberg seinen Seelenfrieden mit den Auswirkungen seiner Erziehungsfehler gemacht, die bei seinen beiden Kindern unverkennbar waren? Er hatte lange darunter gelitten. Sich immer wieder gefragt, was habe ich, was haben wir falsch gemacht? Hätten wir andere Schulen wählen sollen, den Kindern mehr Freiraum geben sollen? Hatte er ein falsches Vorbild gegeben? Zu ernst? Zu kontrollierend und korrigierend? Zu wenig Lebensmut? Zu wenig Freude ausgestrahlt? Zu wenig Liebe?
Als er das Thema in den großen Zusammenhang stellte, kam er zu der Einsicht, dass jeder Mensch als Erwachsener einen Schlussstrich unter die Periode seiner Erziehung ziehen muss. Keiner wird ohne Erziehungsfehler groß – auch er war belastet worden. Aber wie jeder andere hatte er die Aufgabe, aus sich das Beste zu machen. Jeder Mensch hat Talente geerbt, hat von seinen Eltern Gutes und Wertvolles übernommen. Darauf sollte man sich konzentrieren.
Außerdem sah er so etwas wie ein Ambivalenzprinzip: Söhne wollen entweder werden wie der Vater oder genau das Gegenteil. Wie sollte er als Vater das beeinflussen? Zeigte er sich als überragender Vater, würden seine Kinder Minderwertigkeitskomplexe bekommen. „Das erreichen wir nie in unserem Leben“, würden sie sagen. Also folgert der eine Sohn, „dann will ich wenigstens versuchen, ihm ein würdiger Sohn zu sein.“ Und der andere? Der sagt sich, „ich haue auf den Putz, mal sehen, was dabei rauskommt.“
Aber auch Väter von weniger überzeugendem Vorbild wirken ambivalent auf ihre Kinder. „Wenn der Alte dauernd vor der Glotze sitzt, dann suche ich mir andere Beschäftigungen, ich will ja nicht auch so verblöden, wie die Mutter ihm immer vorwirft“, sagt sich das eine Kind. Das andere Kind, Papas Liebling, hockt sich mit vor den Apparat. Denn wenn der Vater daran gefallen hat, „kann es für mich ja nicht schlecht sein“.
Hirschberg ging ins Untergeschoß, sah im Kühlschrank nach, was an Vorräten da war. Als er schon wieder nach oben in sein Büro gehen wollte, klingelte es: Seine Tochter. Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Jeder musterte den anderen; sie hatten sich längere Zeit nicht gesehen.
Dann sie: „Ich soll dir schöne Grüße bestellen!“
„Von wem?“
„Von deiner Schwester.“
„Ach, warst du bei ihr?“
„Nein, sie rief mich an, weil sie in einer Vertragssache unsicher war.“
„Und du hast ihr helfen können?“
„Na klar doch. Sie meinte übrigens, du hättest dich aus Mallorca doch mal melden können.“
Diese älteren Schwestern! Immer haben sie etwas, was man hätte tun oder lassen sollen, dachte Hirschberg.
„Ich war doch nur ein paar Tage weg.“
„Hast du dich denn gut erholt?“
Es war ganz gut, aber eben etwas kurz. Irgendwann muss ich längeren Urlaub machen. Kommst du mit?“
„Lieber nicht; das wird doch kein Urlaub, weil wir dauernd diskutieren und uns in den Haaren liegen.“
„Wir werden doch beide klüger. Oder du etwa nicht!“
„Siehst du, schon geht’s los mit den kleinen Stichen.“
„Was trinkst du? Apfelsaft?“
„Ich vermute, du hast nichts anderes.“
„Doch! Wasser!“
„Dann hätte ich gerne Apfelsaft.“
Hirschberg ging zum Kühlschrank, griff einen Pack Apfelsaft heraus, bog die oberen Enden hoch, schnitt das eine auf und das andere ein, damit es beim Eingießen nicht blubberte und spritzte. Für sich nahm er eine Mineralwasserflasche, die neben dem Kühlschrank stand – er trank nicht kühlschrankkalt –, noch zwei Gläser aus dem Schrank, alles fallsicher gegriffen, zurück zum Couchtisch und abgestellt. Er liebte es, auch banale Vorgänge bis ins letzte Detail zu perfektionieren.
Hannelore stand am Fenster und sah in den Garten. Der war pflegeleicht angelegt: Hecke, Sträucher und Rasen, keine Blumenbeete mehr, kein auch noch so kleiner Nutzgarten mit Petersilie und Schnittlauch. Garten eines alleinstehenden älteren Herrn. Einst war der Garten Mutter Hirschbergs Domäne: Blumen, frisches Gemüse, Obst. Der Vater trat zur Tochter. Sie wandte sich ihm zu: „Wie lange bin ich jetzt von hier weg?“
„Fünf Jahre.“
Sie rechnete nach: „Ja, stimmt.“
Sie gingen wieder zur Sitzgruppe und setzten sich. Ihr Reden war ein gegenseitiges Umschleichen, so wie miteinander vertraute, aber nicht mehr aufeinander fixierte Streithähne zueinander Distanz halten, in der Sorge, die alte Kampfautomatik könnte wieder einrasten.
Hannelore: „Du hast gelesen, was mich beschäftigt. Was rät der lebenserfahrene Vater seiner jungen ehrgeizigen Tochter?“
Sie kaschierte mit den Adjektiven ihr Unbehagen, ihrem Vater gegenüber Ratlosigkeit zu offenbaren. Diesen wunden Punkt hatte der sofort registriert und versuchte ihn nicht zu berühren: „Ich könnte sowohl dem Fortsetzen und Zu-Ende-bringen des Jurastudiums als auch einem Psychologiestudium etwas abgewinnen.“
Da war es wieder, dieses von ihr so gehasste Sowohl-als-auch. Und schon rastete sie ein: „Die Frage ist: Entweder Jura zu Ende machen oder abbrechen und Psychologie studieren!“
„Warum nicht Jura zu Ende machen und dann Psychologie studieren?“
„Dann bin ich ja eine alte Jungfer, wenn ich mit dem Studieren fertig bin.“
Fast hätte Hirschberg gesagt, so siehst du jetzt schon aus; mit deinem Kurzhaarschnitt und den alle Weiblichkeit – so viel war da ohnehin nicht – verbergenden Klamotten à la grün-feministischer Karrierefrauen. Er biss sich auf die Zunge.
„Ich würde auf jeden Fall die Jura zu Ende bringen. Halbgare Sachen taugen nichts. Und die Gründe, weshalb du das Jurastudium abbrechen willst, überzeugen mich nicht.“
„Warum nicht?“
„Zunächst sehe ich einen Widerspruch. Du wendest dich gegen den Einfluss der Gutachter auf Gerichtsurteile. Das dürften ja wohl überwiegend psychologische Gutachten sein. Aber genau dieses Fach willst du jetzt studieren, um dir selbst auf den Grund zu kommen. Aber das wollen die Richter doch auch: der Person auf den Grund kommen, die als Angeklagter vor ihnen sitzt. Dir soll die Psychologie bei der Lösung deiner persönlichen Probleme helfen, der Richter aber soll gefälligst nach seinen Paragraphen verfahren.“
„Das sehe ich anders. Die Richter kneifen. Sie wollen nicht ihre Paragraphen anwenden und ein Urteil mit eigener Urteilskraft sprechen. Sie verstecken sich hinter den psychologischen Gutachten, um ein Alibi zu haben.“
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Gott und Herr,
wir wollen respektiert, geachtet, geliebt werden.
Trotz all unserer Schwächen, Fehler und Irrtümer.
Trotz unserer Unachtsamkeit, Bequemlichkeit
und Bosheit. Wir möchten geliebt werden, so wie
wir sind. Gott, liebst Du mich wirklich?
Gott, Du bist in Deine von Raum und Zeit begrenzte
Schöpfung eingetreten. Als Gott und Mensch
zugleich. Durch Dein Leben, Leiden und Sterben
hast Du uns offenbart, dass die Welt auf Dein
Reich hin orientiert ist. Du liebst uns!
Wir sind unvollkommen, uneinsichtig und verführbar.
Ständig sind wir Plagen und dem Tod ausgesetzt:
Naturkatastrophen, Kriege, Seuchen, Terroristen,
Demagogen, Krankheiten, Unrecht. Uns tröstet nur
die Hoffnung auf Dein Reich.
„Das wage ich nicht zu beurteilen. Aus welchen Motiven Richter sich wie verhalten und urteilen, ist deren Geheimnis. Sicherlich hat sich unsere Rechtsprechung verlagert; und zwar von der Beurteilung der Tat hin zur Beurteilung des Täters. Hier dürfte das Problem liegen. Ein Richter, der nicht von Selbstherrlichkeit besessen ist, erlebt seine Unvollkommenheit, sein Nichtwissen, seine begrenzte Erkenntnisfähigkeit – aber er muss ein Urteil fällen. In unserer wissenschaftsgläubigen Zeit sucht er Hilfe bei den Psychologen.“
„Und die tischen ihm alles Mögliche an gängigen Klischees auf: schwere Kindheit, allein erzogenes Kind, Schulprobleme, schlechte Freunde, nachteilige Milieus, keine Lehrstelle und so weiter. Unter diesen Gesichtspunkten kann es doch bald nur noch Freisprüche und Bewährungsstrafen geben.“
„Kinder reicher Eltern begehen auch Straftaten.“
„Da steht dann im Gutachten: Verwahrlosung aufgrund mangelnder Wahrnehmung der Erziehungspflichten.“
„Aber den Psychologen willst du doch gar nicht auf die Schliche kommen, wenn ich dich richtig verstehe. Du willst mehr über dich selbst erfahren.“
„Weil ich die meisten Probleme mit mir selbst habe.“
„Welche?“
Sie dachte: Soll ich mich offenbaren? Kann er mich überhaupt verstehen, da er doch als Vater nicht ganz unschuldig an meinen Problemen ist. Sie musste jedoch mit einem darüber sprechen – und sie hatte sonst niemanden.
„Warum gelingt es mir nicht, Freunde zu gewinnen? Warum halten mich alle für kalt und unzugänglich?“
„Das bin ich schuld!“
„Was?!“
„Alle Eltern machen Erziehungsfehler. Deine haben auch welche gemacht. Und du musst nun damit leben. Denn wir können dich nicht nochmal erziehen. Es gibt keinen zweiten Versuch, der zudem auch nicht besser ausfallen müsste. Sicher wäre nur, dass er anders ausfällt. Du kannst allerdings versuchen, dich durch eigene Anstrengung von deinen Problemen zu befreien. Dazu müsstest du bereit sein, an dir zu arbeiten, auf die Gefahr hin, dass es weh tut.“
„Du hast mir die Suppe eingebrockt, und ich soll sie auslöffeln.“
„Das nennt man Generationenverbund.“
„Ich dachte Generationenvertrag.“
„Das verwechselst du – oder auch nicht: Die Sozialpolitiker jedenfalls meinen, die nachwachsenden Generationen hätten für die vorausgehenden mit ihren Steuern und Abgaben aufzukommen.“
„Und für deren Schulden. Damit die sich einen angenehmen Ruhestand in Paguera oder anderswo leisten können. Nichts da; erstens müssen künftig alle bis zu ihrem 70. Lebensjahr arbeiten, zweitens gibt es nur noch Ernährungs‑, Wohn- und Kleidermarken für Pensionäre und Rentner. Keine monatlichen Überweisungen mehr, keine Barauszahlungen. Nur noch Gutscheine, die beim Sozialamt abzuholen sind. Ihr sollt euch möglichst schnell zu Tode langweilen.“
„Du bist grausam.“
„Nein. Das ist die gerechte Strafe für eine Elterngeneration, die ihren Kindern eine kaputte Umwelt, Schuldenberge und eine nicht mehr konkurrenzfähige Wirtschaft hinterlässt.“
„Solange wir eine Demokratie haben, wird es zu dieser Vernichtungsaktion nicht kommen. Denn die Alten, für dich bitte Senioren, sind bereits die entscheidende Wählergruppe.“
Jetzt waren sie in einem Fahrwasser, das beide im Umgang miteinander mochten: In Ironie verkleiden, was im Klartext nicht auszusprechen oder beleidigend gewesen wäre. So konnte man seine Aggressionen los werden.
Sie: „Eure Demokratie werden wir abschaffen. Wir lassen euch auf euren Wahlzetteln einfach sitzen. Schließlich sind wir die aktive Generation, die das Sozialprodukt erwirtschaftet, also in der Hand hat. Entweder ihr gebt euch zufrieden mit dem, was wir euch zugestehen, oder wir schaffen euch ab. Ihr glaubt doch nicht, dass wir uns voll in die Riemen legen, damit ihr weiterhin in Saus und Braus leben könnt. Für wie blöd haltet ihr uns eigentlich!“
„Wie viele von euch Nachwachsenden sind denn überhaupt in der Lage, an einem genügend großen Sozialprodukt mitzuwirken?“
„Umso schlimmer für euch. Dann gibt es nicht mal mehr Bezugsscheine.“
„Die Taugenichtse, die wir euch ins Nest gesetzt haben, werden euch fertig machen.“
„Dann müssen wir leider auswandern und euch mit den Taugenichtsen im Nest Deutschland allein lassen.“
„Anderswo wartet man ja auch schon auf euch.“
Biographie
Sie war jung; sie war schön. Nicht dumm, aber unwissend. Begabt, aber vernachlässigt. Begehrt, verführt, vernascht: Ophelia.
Ihre Eltern: berufstätig, Hobbyisten, Ego-Sozialisten – ständig mit ihrem Wohlergehen beschäftigt. Erfüllte Pflichten: Behausung, Bekleidung, Nahrung.
Service des Staates: Krippe, Kita, Schule. Ophis Eltern verließen sich darauf. Zuhause kein Buch. Nur Fernsehen. Urlaub All-Inklusive.
Noch bevor Ophi sich selbst entdeckt hatte, entdeckten sie die Jungs. Sie kam immer später nach Hause. Sie wurde zur perfekten Lügnerin.
Wer war Ophi? Keine gute Schülerin. Spielball von Lehrern und Mitschülern. Sie fühlte sich ständig in Gefahr. Sie bekam Angst vor dem Leben.
Freude überkam das aufkeimende schöne Mädchen im Zusammensein mit Jungs. Denn sie glaubte deren Versprechungen, zweifelte nur an sich.
Ophi wurde schwanger, ließ sich heiraten. Dem Alltag war sie nicht gewachsen. Sie wurde vom Vater ihres Kindes verlassen, geschieden.
Niemand vermochte sie aufzufangen. Ihre Eltern stieß sie zurück. Sie griff zur Flasche. Alkoholikerin. Das Kind wurde ihr genommen.
Ein nicht mehr ganz junger Mann sah in ihrer Hilflosigkeit seine Chance und nahm sie zu sich. Sie ergab sich und war ihm zu Diensten.
Nach einiger Zeit versuchte sie einen Ausbruch: zu ihren Eltern. Doch nach der ersten Freude kamen nur Vorhaltungen und Zwang. Verständnislosigkeit.
Da floh sie zurück zu dem Mann, der sie aufgenommen hatte, sie nicht wie die Eltern in eine Entziehungskur stecken wollte, sondern sie nahm, wie sie war.
Der Alkohol zerfraß ihre Leber. Sie stahl sich aus der Welt. Die Ärzte konnten nicht mehr helfen. Sie starb auf der blinden Suche nach Liebe und Glückseligkeit.
„Dank der hervorragenden Ausbildung, die ihr uns habt zukommen lassen – gratis an überfüllten und komplett verschulten Hochschulen –, sind wir überall willkommen. Wir werden die Chancen der Globalisierung nicht ungenutzt lassen. Auf Wiedersehen!“
Beide brachen in lautes Lachen aus. Ein befreiendes Lachen. Jetzt waren sie beieinander. Hirschberg setzte sich neben sie und legte den Arm um sie; sie legte die Hand auf sein Knie.
Beide sahen stumm vor sich hin. Er begann wieder, jetzt ohne Ironie: „ Deine Mutter und ich hatten den Ehrgeiz, aus dir und deinem Bruder möglichst gescheite Menschen zu machen. Wer möchte keine klugen Kinder haben! Wir glaubten, euch möglichst viel von unserem Wissen und unseren Überzeugungen vermitteln zu müssen. Wir haben euch auf jeden Fehler, den ihr machtet, aufmerksam gemacht, euch korrigiert, euch vorgemacht, wie es richtig geht, euch nichts durchgehen lassen. Bewirkt haben wir, dass ihr hohe Maßstäbe verinnerlicht habt, vor allem du. Dein Bruder ist unter diesem – wie ich heute weiß – Überdruck in die Knie gegangen.“
„Ihr habt eine Erziehungsruine aus ihm gemacht.“
„Er wollte ein lieber artiger Junge sein und ist als erwachsener Mann prompt unter den Pantoffel geraten. Du hast dem Druck standgehalten – und hast dich verhärtet, um deinen Maßstäben gerecht zu werden, rigoros, ohne Abstriche. Während dein Bruder unseren Ehrgeiz, aus euch kluge, lebenstüchtige Menschen zu machen, mit seinem Rangordnungsverhalten, nämlich in der Unterordnung bewältigte, hast du sachbezogen reagiert, dich sozusagen intellektuell hochgezogen, um uns irgendwann Paroli bieten zu können. – Bin ich verständlich?“
„Durchaus. Für Thomas schade, weil ihn das seine Ehe gekostet hat, aber für mich doch nicht schlecht?“
Er sah sie von der Seite an. Wären da nicht die Ohrringe gewesen – man könnte einen jungen Mann in ihr sehen. Sie spürte seinen Blick und wandte sich ihm zu: „Du meinst, meine intellektuellen Ansprüche wirken abstoßend? Aber ich kann sie doch nicht niedriger hängen.“
„Brauchst du auch nicht. Aber du darfst sie nicht absolut setzen. Außerdem gibt es noch andere Maßstäbe. Intellektualität ist nicht alles. Es gibt liebenswerte Dummköpfe.“
Sie sah ihn mit großen Augen an. „Und wieso sagst du mir das erst jetzt?“
„Konnte ich ahnen, dass du alles so ausschließlich und absolut aufnehmen würdest? Ich hatte immer gedacht, wenn sie nur ein wenig davon sich zu eigen macht, was ich ihr zu vermitteln versuche, müsste sie sich im Leben behaupten können.“
„Du hast nicht gemerkt, wie ernst ich das alles genommen habe?“
„Nein. Im Gegenteil. Ich dachte, hinter deinen Protesten stünde Ablehnung – und habe meine Anstrengungen erhöht.“
„Ich bin also Opfer eines Missverständnisses.“
„So gesehen, ja.“
„Das ist aber eine schöne Bescherung. Und was tust du, um das wieder gut zu machen?“
„Mehr als dich in den Arm nehmen, kann ich nicht. Denn was haben wir eben festgestellt: Die Eltern brocken ein, und die Kinder löffeln aus. Die Kinder brocken ihren Kindern wieder ein und so weiter.“
Jetzt brauchte sie eine Pause und sagte: „Hast du etwas zu essen im Haus. Seit dem Frühstück habe ich nichts mehr gegessen.“
„Ich lade dich zum Italiener ein.“
„Kann ich über Nacht hier bleiben?“
„Dein Zimmer ist, wie du es verlassen hast.“
„Das ist schön, wenn man ein Zuhause hat, wohin man jederzeit zurückkehren kann. Aber fremd ist es mir hier doch mittlerweile. Und die Mutter fehlt!“
Beim Italiener sprachen sie über die schlimme Zeit, als die Mutter vor ihrem Tod so leiden musste. Die Tochter sprach ihrem Vater Bewunderung aus für die Pflege, die er auf sich genommen hatte. Sie bedauere, sich so wenig Zeit genommen zu haben, ihm dabei zu helfen. Aber sie wäre mit der Situation kaum fertig geworden. Hirschberg erzählte, wie schwer diese Monate für ihn waren, und dass er erst nach und nach das Erleben habe bewältigen können.
Ob ihm das Alleinsein Probleme mache, wollte sie wissen. „Am Anfang ja, jetzt nur noch hin und wieder.“ Mit dem Gedanken müsse sich jedes Ehepaar vertraut machen, nach aller Wahrscheinlichkeit nicht gemeinsam zu sterben; also einer zurückbleibe. Er komme zumindest mit den praktischen Dingen mittlerweile ganz gut zurecht. Alles sei sachgerecht und zeitsparend geregelt.
Grundsätzlich jedoch: Ein Mensch sollte nicht allein leben. Er würde dann überzogene Eigenarten entwickeln und unerfüllte Sehnsüchte pflegen. Sie wollte wissen, was er denn von wechselnden Partnerschaften halte? Der Vater meinte, in jungen Jahren sollte man unbeschwert Bekanntschaften machen und auch Freundschaften schließen. Anders könne man mit sich und anderen aufgrund gemeinsamen Erlebens keine Erfahrungen sammeln. Man solle nicht bei Hallo-Kontakten stehen bleiben. Ob er Ehen noch für zeitgemäß halte? Von Unauflösbarkeit wolle sie gar nicht reden.
„Was meinst du, was für Kinder gut wäre?“, fragte er zurück. „Hättest du groß werden wollen bei einem Vater und einer Mutter, die nur mal so vorübergehend miteinander leben? Und würdest Du mit der Vorstellung klar kommen, dass deine Eltern dich gar nicht zeugen, sondern lediglich Sex miteinander haben wollten, dabei aber nicht aufgepasst haben?“
„Du hast recht; der Gedanke, in Liebe von meinen Eltern in die Welt gebracht worden zu sein, ist mir lieber.“
„Ist dir als Kind jemals der Gedanke gekommen, deine Eltern könnten sich trennen?“
„Nein.“
„Kannst du dir vorstellen, du hättest auf das Zusammenleben mit mir mehr oder weniger verzichten müssen, weil man dich nach der Scheidung deiner Eltern deiner Mutter zugesprochen hätte?“
„Es war mir so lieber, wie es war.“
„Mit welchen Augen hättest du die Frau betrachtet, die du eines Tages als meine neue Partnerin kennengelernt hättest, die ich also deiner Mutter gegenüber vorgezogen hätte?“
„Mit kritischen Augen.“
„Und wenn aus dieser Partnerschaft weitere Kinder hervorgegangen wären, also Halbgeschwister von dir, mit denen du aufgrund des Altersunterschieds kaum zusammengelebt hättest?“
„Ich weiß es nicht. Das ist mir jetzt zu viel ‘hätte’ und ‘wäre’.“
„Es ist die Wirklichkeit. Du hast die Ehe infrage gestellt, und ihre Unauflöslichkeit hältst du für unzeitgemäß. Ist doch so?“
Sie schwieg. Denn sie spürte den Widerspruch, auf den sie ihr Vater mit seinen Fragen hingewiesen hatte. Und sie wusste keinen Rat. Auf der einen Seite konnte sie sich nicht vorstellen, durch ein Versprechen sich unauflöslich an einen Mann zu binden, andererseits gehörten die beiden, denen man sein Leben verdankte, in der Tat zusammen. Denn Kinder brauchten schon ein paar Jahre, um lebenstüchtig zu werden. Und das sollte nicht nur Aufgabe der Mutter sein. Sie jedenfalls würde nicht allein erziehende Mutter sein wollen. Dass der Staat die Elternaufgabe übernehmen könne – so ein Schwachsinn konnte nur verbohrten Sozialisten oder selbstsüchtigen Kapitalisten einfallen.