4.
nutzen »» Talente nutzen »» Talente nutzen »»
Beispielhafte Unternehmer
… welch unermessliches Potential … die vorhandenen Kompetenzen voll
nutzen … greifbare Anerkennung … am Gewinn beteiligen… das persönliche
Vorbild … ein falsches Verständnis des Bankgeschäftes …
Warum werden Menschen Unternehmer? Dieser Frage wollte Hirschberg in den nächsten Wochen nachgehen. Außer den Motiven interessierten ihn der Führungsstil, die Führungsorganisation, das Kommunikationsverhalten, die Beteiligung der Mitarbeiter am Produktionsprozess, an den Entscheidungen. Hierzu sammelte er aus Zeitungen und Fachzeitschriften Beispiele. Der Ressortleiter ‚Wirtschaft’ einer Zeitung hatte ihm das Thema ‚Unternehmer heute‘ als Serie in lockerer Folge angeboten. Für die nächste Woche hatte er einen Termin bei einem Unternehmer in Oberfranken verabredet.
Für diese Artikel trieb er einen ziemlichen Aufwand. Nur aufgrund des Archivmaterials und der von den Firmen zugesandten Materialien sowie einiger Telefonate glaubte er nicht der Sache gerecht werden zu können. Er fuhr hin: Er wollte den Betrieb sehen und mit dem Unternehmer ein ausführliches Gespräch führen. Das nahm er auf Band, um es zuhause zu exzerpieren. Das Honorar für die Artikel stand in keinem Verhältnis zu seinen Mühen. Aber der Erfahrungsschatz und die Lebenseinsichten, die er so gewann, waren ihm den Aufwand wert.
Wie bezog der Chef die Mitarbeiter in seine Arbeit ein? Wie sahen die Arbeitsplätze aus, waren sie durch Fotos oder Maskottchen individualisiert? Was war uniform? Was ließ auf persönlichen Arbeitsstil schließen? Welche Kleidung trugen die Mitarbeiter? Wie sauber war ein Betrieb? Wie ordentlich? Was war mit den Abfällen? Wie alt waren die Gebäude? Waren Bauperioden zu erkennen? Wie war das Mobiliar? Zweckmäßig? Aufwendig? Corporate Identity? Wurde Wert auf Repräsentation gelegt? Waren Designer am Werk? Und vieles mehr.
Hirschberg achtete auch darauf, ob man etwas verbergen wollte. Er scheute sich nicht, zu fragen und sein Interesse zu äußern, beispielsweise wie man denn mit Reklamationen umgehe. Die Mehrzahl der Unternehmer war aufgeschlossen, war bemüht, ihm einen umfassenden Einblick zu gewähren, wobei sie ihm verständlicherweise mehr ihre Erfolge als ihre Probleme darstellten, aber zu letzteren auch Auskunft gaben, wenn er danach fragte.
Auf welch unermessliches Potential ein Unternehmer bauen kann, wenn er seine Mitarbeiter als Mitunternehmer behandelt, das hatte Hirschberg vor einigen Jahren beispielhaft erfahren. Ein Bekannter hatte ihm von einem mittelständischen Unternehmer in der Vulkaneifel erzählt. Was der denn mache? „Der produziert für den Heimwerkermarkt, aber mit ganz unkonventionellen Methoden.“ – „Wie denn?“ – „Das lässt sich schwer beschreiben. Kommen Sie doch einfach mal mit.“ Hirschberg fuhr mit, und aus dem einen Mal wurden viele Male.
Robert Wolff, so hieß der Unternehmer, hatte gleich nach seinem erfolgreichen Start folgendes Problem: Die Produkte, mit denen er sich im beginnenden Boom der Heimwerkermärkte selbständig gemacht und in der Eifel angesiedelt hatte, verkauften sich zwar auf Anhieb, aber ihm fehlte das Eigenkapital für eine sofortige Aufstockung seiner Produktionskapazität. Und weitere Kredite aufnehmen, das wollte er nicht. Er wollte Herr im Haus bleiben und sich nicht von Banken abhängig machen.
Als ehemals angestellter und später selbständiger Werkzeugmacher hatte er Jahre hinter sich, in denen er täglich 10 oder 12 Stunden mit vollem Engagement an seiner Zukunft arbeitete. Um seinem Ziel der Unternehmensgründung näher zu kommen, sparte er nicht nur Eigenkapital an, sondern besuchte er auch Managementlehrgänge und Seminare.
Aufgrund seiner Erfahrung war er der Überzeugung, die nach dem erfolgreichen Unternehmensstart notwendige Expansion ließe sich ohne neue Investitionen in Gebäude und Maschinen und ohne zusätzliche Mitarbeiter bewerkstelligen, wenn seine Mitarbeiter die vorhandenen Kapazitäten voll nutzen und sich uneingeschränkt mit ihren Fähigkeiten einbringen würden.
Nicht intellektueller Überlegung folgend, sondern eher erspürend, worauf es ankommt, wenn man Mitarbeiter motivieren will, machte er folgendes: Er informierte über den Auftragseingang, indem er ihn einfach im Betrieb als Aushang bekannt machte. So wussten die Mitarbeiter, welche Kunden das Unternehmen hatte, welche Artikel in welchen Mengen diese bestellten und wann geliefert werden musste.
Wolff forderte die Mitarbeiter auf, ihre Arbeit selbst zu organisieren. Damit sie dies konnten, wurden Gruppen gebildet, denen die einzelnen Arbeitsprozesse zugeordnet wurden. Fachlich ausreichend qualifizierte und von den Kollegen anerkannte Mitarbeiter ernannte er zu Gruppenleitern.
Nächster revolutionärer Schritt: Wolff teilte seinen Mitarbeitern mit, er werde sie künftig am Gewinn beteiligen. Dazu werde er sie über die Finanzdaten informieren, so dass die Auszahlungen kontrolliert werden könnten. Sein Gespür sagte ihm: Man kann Leute nicht zum Jagen einladen und nachher beim Verteilen der Beute leer ausgehen lassen. Er wählte einen sehr einfachen Verteilungsschlüssel, und er zahlte monatlich aus. Jetzt war ‚Butter bei die Fische‘, jetzt glaubte man ihm, jetzt zeigten alle, was sie wirklich drauf hatten. Ihr Motto: „Wenn wir erst einmal richtig loslegen!“. Und sie legten los.
Doch Wolff war klar, dass blinder Eifer Schaden anrichten kann. Seine Führung war gefordert, damit das Engagement sich zum Nutzen aller entfalten konnte. Daher koppelte er die monatliche Auszahlung der Gewinnbeteiligung an eine Zusammenkunft aller Gruppenleiter. Auf diesen Sitzungen gab er ausführliche Informationen über die Situation und die Ziele des Unternehmens, erläuterte das Zahlenwerk, befasste er sich intensiv mit den Kosten und ihrem Zustandekommen, vermittelte die zum Verständnis notwendigen betriebswirtschaftlichen Grundkenntnisse.
Gemeinsam wurde dann überlegt, was verbessert werden konnte, wie Kosten einzusparen waren. Die Gruppenleiter gaben die Informationen und Diskussionsergebnisse an ihre Gruppenmitglieder weiter. Danach verteilten sie die Gewinnbeteiligung – bar im Umschlag.
Hirschberg sagte zu Wolff, das sei doch wie in grauer Vorzeit der Entlohnung. Wolff erklärte ihm, die Mitarbeiter wollten das so: Er habe sich – wie bei allem – da auch erst rantasten müssen. So habe er zunächst ein Bausparmodell angeboten. Nein, wollten die Mitarbeiter nicht. Banküberweisung? Nein, auch nicht – am liebsten bar auf die Hand. Es sei das ‚monetäre Erlebnis‘, das die Mitarbeiter haben wollten, der unmittelbare Bezug zu dem, was sie als Gruppe, als Mitunternehmer geleistet hätten und dem, was dabei am Markt herausgekommen sei. Das bare Geld sei greifbare Anerkennung und vermittle die Sicherheit, die nur aus dem Erfolg kommen könne. Hirschberg kapierte. Die abstrakten Systeme gehen eben vielfach über die ursprünglichen Bedürfnisse hinweg.
Am Empfang der Bromberg-Firma wusste man schon Bescheid, er wurde zur Chefsekretärin geleitet, von dieser in einen Konferenzraum gebracht und nach seinen Getränkewünschen gefragt. Er möge noch einen Augenblick Geduld haben, Herr Bromberg habe gerade angerufen, er sei unterwegs. Kurz darauf kam er in den Raum. Entschuldigung, dass er zu spät komme, aber er sei noch unerwartet aufgehalten worden. Jetzt sei er uneingeschränkt für ihn da, und es sei auch dafür gesorgt, dass sie sich bis Mittag ungestört unterhalten könnten. Dann allerdings hätte er andere Termine. Für eine Betriebsbesichtigung stünde einer seiner Mitarbeiter zur Verfügung.
Hirschberg ließ sich das Einverständnis geben, das Gespräch auf Band aufzunehmen, und baute seine Technik auf. Noch bevor er mit seiner Einstiegsfrage loslegte, erklärte ihm Bromberg die Situation: Wie er sicher wisse, habe er mehrere Unternehmen gekauft, die in Liquidationsverfahren steckten und sie unter mehr oder weniger großen Schwierigkeiten saniert. In keinem dieser Unternehmen habe er ein Büro. Die Kosten spare er sich, da er ja doch nur tageweise in den einzelnen Betrieben sei. Deshalb fände dieses Gespräch im Konferenzraum statt, wo er auch alle übrigen Gespräche führe, ob Einzel- oder Gruppengespräche. Alle notwendigen Hilfsmittel stünden zur Verfügung und er könne sich beliebig ausbreiten. Seine Unterlagen habe er allesamt in diesem Pilotenkoffer – er deutete auf den Boden neben sich. Zuarbeiten würde ihm seine Sekretärin, die ihr Büro hier im Hause habe. In den anderen Unternehmen werde er von der Sekretärin des jeweiligen Geschäftsführers mitbetreut. Das habe sich bestens eingespielt.
Den Block mit seinen Stichpunkten auf dem ersten Blatt vor sich, den Kuli in der Hand, um sich weitere Stichpunkte notieren zu können, die sich während des Gesprächs ergaben, leitete Hirschberg das Gespräch ein, stellte er sich kurz vor, breitete etwas von seinem Vorwissen aus und schloss seine erste Frage daran an. Die Bandaufnahme ermöglichte es, spontane Einwürfe zu machen, Zwischenfragen zu stellen, Einzelaspekten nachzugehen, zur Hauptfrage wieder zurückzukehren, bei späterer Gelegenheit einen Punkt unter anderem Aspekt nochmal aufzugreifen, so dass kein Gedanke verloren ging – kurz ein Höchstmaß an Gesprächsflexibilität.
Die lockere und ungezwungene Atmosphäre, die bei diesen Gesprächen schon bald herrschte, führte gelegentlich dazu, dass die Gesprächspartner die Zwischenbemerkung machten, das könne er natürlich so nicht schreiben, oder er solle es weglassen, es sei nur für ihn persönlich als Information gedacht. Ein Gesprächspartner bat ihn mal, er möge das Gerät für einen Augenblick ausschalten, da er ihm etwas sagen wolle, das nicht aufgenommen werden solle.
Prominente Gesprächspartner, die Kamera und Mikrofon gewöhnt waren, realisierten mitunter die Situation nicht sofort, versuchten sendereif zu antworten. Dann unterbrach Hirschberg schnell mit Zwischenfragen oder, wenn es gar zu penetrant war, erläuterte er nochmal, es sei nur ein Hintergrundgespräch, aus dem er seinen Artikel formuliere und dann zur Freigabe vorlege. Spätestens jetzt entspannte sich die Situation.
Bromberg war souverän, drückte sich um keiner Frage herum, hielt gut nach, was er schon gesagt hatte, ließ Hirschberg merken, wenn er unsauber, falsch informiert oder unterstellend fragte. Ausführlich gesprochen wurde über den ersten Sanierungsfall, wie es dazu kam und was ausschlaggebend war, um schließlich wieder in die Gewinnzone zu gelangen.
Zwei Felder stellten sich heraus, in denen die Konkursursachen lagen: Erstens hatten die Voreigentümer den Marktkontakt verloren und zweitens hatten sie Fehler im Umgang mit ihren Mitarbeitern gemacht. Das Produkt-Know-how war durchweg konkurrenzfähig. Hirschberg dachte: Typische Fehler traditionsreicher, autoritär geführter Familienunternehmen. Aufgrund der althergebrachten Organisationsstruktur merkten die Chefs die Veränderungen auf den schnellebigen Märkten von heute zu spät, reagierten falsch – nämlich durch Sparmaßnahmen zu Lasten der Mitarbeiter bei gleichzeitiger Erhöhung des Leistungsdrucks – und gerieten so unausweichlich in die Klemme. Das Ende war die Alternative zwischen Radikalkur mit neuem Management im Zusammenspiel mit einer Unternehmensberatung oder Verkauf. Wurde aufgrund fortdauernder Durchwurschtelversuche der Zeitpunkt dieser Alternative verpasst, hatte der Konkursrichter kaum noch Chancen, die Arbeitsplätze zu retten – es sei denn, einer wie Bromberg übernahm den Fall.
Was für eine Person war Bromberg? Bereitwillig erzählte er seinen Werdegang: Wie er seine Talente als Manager nicht schulmäßig herausfand und entwickelte, sondern durch die Umstände des Lebens, bis er sich dann gezielt in die vordere Reihe der Managergilde vorarbeitete – mit der ‚Meisterprüfung‘ seines ersten Sanierungsfalls. Hirschberg dachte: Von solchen Kapazitäten ihres Fachs kann ein Volk nicht genug haben. Und eine Regierung sollte alles tun, damit sich Unternehmer und Manager auf ihre ureigene Aufgabe konzentrieren können, nämlich ihre Betriebe marktfit zu halten.
Brombergs Ansatzpunkt bei seinen Sanierungen war die Frage: Auf welchem Markt kann das vorhandene Produkt-Know-how umgesetzt werden? Da für die Vergabe eines Marktforschungsauftrags kein Geld da war, machte er es selbst. Er reiste durch die ganze Welt, führte unzählige Gespräche, rechnete Möglichkeiten der Massenfertigung genauso durch wie Spezialfertigungen, entschied sich – bei seiner ersten Sanierung – am Ende für Spezialfertigungen.
Parallel dazu wandte er sich an die Mitarbeiter: Er stellte sein Konzept vor, betonte, dass er kein Firmenaufkäufer sei, der mit einer Kündigungswelle und drakonischen Organisationsmaßnahmen auf kürzestem Wege schwarze Zahlen anstrebe, um dann alles mit entsprechendem Gewinn zu verkaufen. Nein, er engagiere sich langfristig und baue auf das fachliche Können, die Erfahrung und den Leistungswillen aller Mitarbeiter. Es sei sein Bestreben, so viele Arbeitsplätze wie möglich zu erhalten. Das setze allerdings Veränderungsbereitschaft voraus. Mit dem Betriebsrat wolle er vertrauensvoll zusammenarbeiten. Seine Botschaft, so erklärte er Hirschberg, sei bis jetzt in allen Fällen angekommen, sein persönliches Vorbild – man könne nicht Wasser predigen und selber Wein trinken – habe überzeugt. Die Mitarbeiter hätten voll mitgezogen. Neue Produktideen seien ebenso gekommen wie Problemlösungsvorschläge. Die Arbeit mache Spaß. So etwas motiviere. Es sei allerdings Herkulesarbeit.
Was denn mit den Altschulden gewesen sei, wollte Hirschberg wissen. Kurzes Auflachen. Er habe nichts unterschrieben, bevor die Banken nicht auf alles verzichtet hätten. Schließlich hätten die in voller Kenntnis der Verhältnisse im Altunternehmen weitere Kredite gegeben und wären damit ins Risiko gegangen. Das wäre wohl ein falsches Verständnis des Bankgeschäftes, wenn die sich weder um die Marktentwicklungen in den Absatzbereichen ihrer Kunden noch um deren Managementqualitäten zu interessieren brauchten, um ihre Kreditrisiken wirklichkeitsnah bewerten zu können. Er habe sie auf das Vermögen der früheren Eigentümerfamilien hingewiesen. Und neues Geld? Die Bayerische Landesregierung habe eine Bürgschaft übernommen. Allerdings erst, nachdem er das Wirtschaftsministerium von seinem Konzept überzeugt habe. Als Manager einer in Bayern recht bekannten Firma sei er für die kein Nobody gewesen. Die weiteren Sanierungsfälle wurden besprochen. Der letzte, so Bromberg, erweise sich als äußerst schwierig. Man sei noch nicht über den Berg.
Ob er bei den verschiedenen Standorten der Unternehmen – sein Wohnort liege ja auch nicht gerade am Wege – ob er da denn nicht viel zu viel Zeit im Auto verbringe? Er habe sich nach eigenen Vorstellungen ein Büromobil bauen lassen. Dort sei er mit modernster Technik perfekt eingerichtet. Für längere Strecken engagiere er einen Fahrer. Dann könne er auch während der Fahrt beziehungsweise im Stau arbeiten. Meistens fahre er spätnachmittags bei seinen Firmen vor, hole sich Unterlagen, wenn er sie noch brauche und bereite sich auf den nächsten Tag vor, der sehr früh mit den ersten Gesprächen beginne. Bromberg hatte für alles seine ganz persönliche Lösung.
Das Gespräch ging zu Ende. Der Geschäftsführer wurde Hirschberg vorgestellt. Der lud ihn zum Mittagessen in die Kantine ein. Das gab Gelegenheit zu weiteren oder schon Bromberg gestellten Fragen. Hirschberg stellte auch Fragen zur Person. Wie er zu Bromberg gekommen sei? Was er vorher gemacht habe? Neue Aspekte oder gar Widersprüche kamen nicht zutage. Anschließend Betriebsführung durch den Betriebsleiter. Auch hier keine Auffälligkeiten: Es herrschte Ordnung und Sauberkeit, die Mitarbeiter waren auf ihre Arbeit konzentriert, nur ein kurzes Aufblicken, wenn der Betriebsleiter mit dem Besucher vorbei ging. An interessanten Arbeitsplätzen blieben die beiden stehen. Dann erläuterte der Betriebsleiter, was sich dort abspielte. Einmal bat er den Mitarbeiter zu beschreiben, was er gerade tue. Zum Abschluss kurz durchs Lager, noch zum Warenausgang und außen herum zu den Büros zurück. Hirschberg packte seine Sachen, bedankte und verabschiedete sich.
Vom Hotel aus rief Hirschberg Frau Michalski an. Nein, keine besonderen Vorkommnisse. Nur eine Katharina Dohmen habe angerufen und bitte um seinen Rückruf. Das erledigte er sofort.
„Hallo! Schön, dass du anrufst. Wie geht es dir?“
Er erzählte ein wenig von seiner Reise. „Und wie geht es dir?“
„Aufregend! Mit der Stelle in Mettmann klappt es wahrscheinlich. Aber nur, wenn ich in spätestens drei Wochen anfange. Also muss ich in Mallorca alles Knall auf Fall abbrechen. Die wollen aber, dass ich den Sommer über noch bleibe. Mal sehen, wie ich da raus komme.“
„Wann fliegst du zurück nach Mallorca?“
„Übermorgen Abend ab Köln. Sehe ich dich vorher?“
„Das müsste möglich sein.“
Sie vereinbarten sich für übermorgen, 12 Uhr, Hauptbahnhof Köln vor dem Blumenladen zur Domseite.
„Ich werde aber keine Blumen in der Hand haben.“
„Ich freue mich trotzdem.“
Nach einem kurzen Schlaf ging Hirschberg nach unten und fragte an der Rezeption nach Wandermöglichkeiten. Mit Hilfe einer Karte erklärte man ihm, wo er einen geeigneten Parkplatz fände und welche Wege besonders schön seien. Er fuhr los, Wanderschuhe wie immer im Kofferraum.
Er rekapitulierte nochmal das Gespräch mit Bromberg und checkte die zeitliche Abfolge am nächsten Tag. Mit seiner Schwester hatte er vereinbart, sie um die Mittagszeit zu besuchen. Am nächsten Morgen rief er sie an. Es bliebe wie abgesprochen. Sie lud ihn zum Mittagessen ein. Er käme pünktlich. Sonst würde er sich von unterwegs melden.
Bruder und Schwester
… Alben mit den Familienfotos … er habe von der Wirklichkeit keine Ahnung
… Großvater Heinrich … gegen den Willen des Patriarchen …
Bei seiner Schwester angekommen, folgte er ihr in die Küche, wo sie beim Kochen war. „Du isst doch Lammkeule?“ „Gerne. Habe ich lange nicht mehr gegessen.“ Er stellte sich in die Tür zum Esszimmer. Seine Tochter würde sicher mal eine gute Juristin, meinte die Schwester. Neulich sei sie von ihr sehr gut beraten worden. Ja, er sei recht stolz auf sie. Ein zielstrebiges und intelligentes Mädchen. Aber nach wie vor habe sie keinen Freund oder verheimliche das vor ihm. Nein, habe sie nicht, sagte die Schwester, sie hätte danach gefragt, und sie hätte „nein“ gesagt.
Und ihre Kinder? Er erfuhr von allen den aktuellen Stand der Dinge. Zu Tage kamen die Sorgen einer Mutter, die sich schwer tat, die nötige Zurückhaltung zu üben. „Aber ich muss es ihnen doch wenigstens sagen, auch wenn sie es nicht hören wollen.“ Die Enkel? „Ach, goldig! Die machen viel Freude. Auf was für Ideen die kommen, unglaublich. – So, ich muss mich jetzt auf das Kochen konzentrieren. Du kannst ins Wohnzimmer gehen und Zeitung lesen.“
Er war folgsam. Aber er las keine Zeitung, sondern ging zum Schrank, in dem – wie er wusste – die Alben mit den Familienfotos aus der Zeit seiner Kindheit standen. Er nahm alle drei Bände und setzte sich damit in einen der Sessel vor dem Couchtisch. Sein Vater war Hobby-Fotograf. Er hatte noch mit Platten gearbeitet. Zwei dieser Glasnegative hatte Hirschberg in seiner Hinterlassenschaft gefunden und aufbewahrt. Es gab Bilder von seinem ersten Lebenstag an. Eines davon hatte seine Schwester zu seinem Fünfzigsten dabei gehabt, um allen zu zeigen, wie es denn mal angefangen habe.
An seine Kindheit konnte sich Hirschberg gut erinnern. An die Wohnung im Stadtzentrum, die einzelnen Zimmer, die Schaukel im Flur, sein Bett, auch an einen Traum, aus dem er immer weinend erwachte.[/vc_column_text]
Urangst
Schneller und
schneller
falle ich ins
Bodenlose.
Der Schacht hat
kein Ende.
Kein Abbremsen.
Kein Halt.
Kein Licht.
Nur freier Fall.
Ich schreie,
brülle,
strample
vergehe
vor Angst.
Nichts zu erkennen.
Nur verzerrte
Streifen
hell-dunkel.
Plötzlich ringsum Nebel.
Ich lausche.
Beißende Stille.
Stehe ich?
Oder falle ich?
Bewege ich mich
auf der Stelle?
Orientierungslos
im endlosen Raum.
Kein Schatten.
Keine Umrisse.
Pures milchiges Weiß.
Nichts ist zu spüren.
Ich fühle mich nicht,
bin nur Angst
und Schrecken.
Mit atemberaubender
Geschwindigkeit
schieße ich heraus
aus dem Weiß
wieder ins Dunkel
der Nacht.
Schwerelos rase ich
tonnenschwer nach unten.
Nein, ich fliege nicht,
kann mich nicht bewegen,
bin nur Stein.
Jetzt spüre ich Luft,
aber sie trägt nicht.
Widerstandslos
lässt sie mich durch.
Wer hat mich
in dieses Nichts
hinaus gestoßen?
Mich hilflos
in die Nacht
entnabelt?
Mich in die Kälte
des Alls ausgesetzt?
Lieblos,
gefühllos,
verantwortungslos.
Voller Wut schlage
ich bewegungslos
um mich,
schmettere stumm
meinen Hass
in die Welt.
Schließlich verlässt mich
alle Kraft.
Ich verstumme,
werde bewusstlos,
leblos.
Und erwache in der Liebkosung
meiner Mutter, die mich umfängt.
Auf der Dachterrasse, so erinnerte sich Hirschberg, hatte er seinen Sandkasten. Zugang von der Küche aus. Im Esszimmer hing über dem Tisch eine sogenannte Käselampe. Das Herrenzimmer war Herrschaftsbereich seines Vaters. Am Schreibtisch sah er ihn hauptsächlich vor dem Mittagessen, zu dem er nach Hause kam. Dann öffnete er die Post. Außerdem stand da noch ein Plattenspieler, in dessen Tonarm immer neue Nadeln der Marke Eisbär eingeschraubt werden mussten, bevor es mit der Musik losging.
Das Herrenzimmer wurde einige Tage vor Weihnachten gesperrt. Denn dort wurden Krippe und Tannenbaum aufgestellt, die Geschenke ausgelegt. Nach dem feierlichen Abendessen am Heiligabend wurde das Zimmer wieder geöffnet, alle Kerzen angezündet und an der Krippe eine kleine Andacht gehalten: Die Mutter las ein Gedicht vor, die Schwester spielte ein Weihnachtslied auf der Blockflöte, er sagte einen mühsam auswendig gelernten Vier- oder Sechszeiler auf, der Vater – und das war der Höhepunkt – las das Weihnachtsevangelium, danach gemeinsames Vaterunser und ein Weihnachtslied. Dann die Bescherung, dazu Weihnachtslieder von Schellackplatten. Es roch nach Gebäck. Am zweiten Weihnachtstag wurde die elektrische Eisenbahn aufgebaut.
Einen Ausguck runter auf die Straße hatte der kleine Hirschberg von der Fensterbank des Esszimmers aus. Die Wohnung lag im 5.Stock. Zu diesem Platz flitzte er und turnte hoch, wenn Marschmusik von unten heraufschallte: Die Nazis hatten wieder einen ihrer Aufzüge. In diesem Zusammenhang fiel ihm ein: Zum Wohnungseingang führte vom Treppenhaus mit Fahrstuhlkäfig ein Flur, an dem noch eine kleine Wohnung lag, die von einem Fräulein Blech bewohnt wurde. Er sah sie nur selten, sie lebte ganz zurückgezogen. Dann sah man sie gar nicht mehr. Die Eltern sagten ihm, sie sei vermutlich ausgezogen. Was tatsächlich geschah, dürften sie, die den Nazis nichts Gutes zutrauten, geahnt haben.
An die Lampe überm Esstisch, in ihrer Form eine Art großer Käsekuchen, hatte er eine besondere Erinnerung. Er sollte nicht daran drehen, hatten die Eltern gesagt. Aber er tat es doch, sie drehte sich so schön zurück. Doch das Spiel hatte er eines Tages wohl übertrieben; sie drehte sich nicht zurück, sondern es gab einen gewaltigen Kurzschluss mit Donner und Blitz, und die Lampe fiel herunter. Die Mutter kam herbeigeeilt und schimpfte ihn aus. Als der Vater nach Hause kam, gab’s einen Appell und eine gewaltige Ohrfeige. Ungerecht behandelt fühlte er sich nicht.
Auch an sein Stadtrevier, das sich bis zum Rathaus ausdehnte, konnte er sich erinnern. Die Einschulung war ein kleiner Schock. Ruhig über Stunden in einer Bank sitzen und aufpassen müssen, das war hart für ihn. Hätte er die Lehrerin nicht gemocht, man hätte ihn zur Schule prügeln müssen. Einmal machte sie ihn sogar zum Glückspilz. Sie schrieb Zahlen auf die Rückwand der Tafel, und die Kinder sollten raten, welche sie aufgeschrieben hatte. Hauptpreis: ein Kugelkaktus. Der kleine Hirschberg sagte ‘sieben’ – und es war die 7.
Diese Kindheitsjahre waren zu Ende, als die Familie in ihr Wochenendhaus zog, um der Gefahr der Bombenangriffe zu entgehen, nachdem sie mehrere Nächte mit den anderen Hausbewohnern im Luftschutzkeller verbracht hatte. Das große Haus im Stadtzentrum überstand den Krieg, wurde nur leicht beschädigt. Damals war im Straßengeschoss ‘Café Vaterland’, heute ist dort McDonald’s.
Beim Essen gerieten die Geschwister Hirschberg ein wenig aneinander. Sie machte ihm Vorwürfe wegen seines Ratschlags, den er ihrem Sohn gegeben hatte, nämlich seine Firma zu liquidieren. Offenbar hatte der Junge einiges verlauten lassen. Sie hatte ihm sicherlich Geld zum Aufbau des Unternehmens gegeben, vermutete Hirschberg. Er war über die Finanzverhältnisse nicht informiert. Vergeblich versuchte er zu erklären, warum er Joachim geraten hatte, sein Unternehmen aufzugeben.
Seine Schwester konnte nicht einsehen, dass kooperative Formen der Zusammenarbeit die adäquate Anpassung an die Schnellebigkeit der Märkte heute sei. Gerade diese Schnellebigkeit erfordere – so ihre Argumentation – eine Führungsspitze, die ohne lange zu fragen und zu diskutieren schnell entscheiden könne. Und das könne doch wohl nur der sein, der sein Geld und seine Arbeitskraft in so ein Unternehmen stecke und das Risiko trage. Niemand sonst habe so viel Interesse am Erfolg. Die Mitarbeiter trügen lediglich ihr Arbeitsplatzrisiko, nicht das Existenzrisiko. Deshalb würden sie nie mit gleichem Engagement bei der Sache sein. Nein, einer müsse schon das Sagen haben. Wer etwas anderes erzähle, habe von der Wirklichkeit keine Ahnung. Der Bruder müsse es eigentlich besser wissen. Da habe er keinen guten Rat gegeben. In Zukunft solle er sich bitte zurückhalten.
Hirschberg versuchte, sich zunächst mit Theorie zu verteidigen. Sie habe Recht, aber es gäbe da ein grundlegendes Problem. Weil nämlich auch Unternehmer Fehler machten und sich irren könnten, seien Organisationsformen notwendig, die Fehler und Irrtümer möglichst schnell aufdecken und zu Korrekturen führen. Das aber wäre nur über kooperative Zusammenarbeit machbar. Nein, sagte die Schwester, sie würde verschiedene Firmen kennen, die bestens florierten und in denen dem Chef keiner reinrede. Der wüsste allein, was zu tun und zu lassen sei, kenne seit Jahrzehnten seine Kunden und seinen Markt. Hirschberg wandte ein, es gebe andere Firmen, die gescheitert seien. Gerade gestern habe er ein Unternehmen besucht, das um ein Haar endgültig unter den Hammer gekommen sei, weil die Eigentümer-Unternehmer versagt hätten, obwohl sie sich in ihrem Markt seit Generationen bewegten. Die Schwester sah ihn ungläubig an. Er ließ das Thema fallen und ihr das letzte Wort.
Nach einer Weile, die Geschwister hatten schon zu Ende gegessen, und sie räumte den Tisch ab, fragte sie, ob er wisse, was für eine Fabrik der Großvater Heinrich gehabt habe. Der andere Großvater, der Vater unserer Mutter, habe in Köln eine Bäckerei und Konditorei gehabt, das wisse sie. Aber neulich habe sie vom Vater des Vaters erzählen wollen, die Geschichte aber nicht zusammengebracht. Der habe doch eine Textilfabrik gehabt – und neun Kinder. Hirschberg wusste es genauer.
„Großvater Heinrich hatte im Bergischen eine Strumpffabrik. Sohn Bruno, unser Vater, sollte die Fabrik übernehmen. Deshalb wurde er für zwei Jahre auf die Textilschule nach Reutlingen geschickt. Die Musterhefte, die er sich dort anlegte, hat er mir mal voller Stolz gezeigt. Seinen Vater hat er mir als patriotischen Patriarchen geschildert, der seine neun Kinder an Kaisers Geburtstag stramm stehen ließ. Und dann tat Vater Bruno etwas gegen den Willen des Patriarchen. Er wollte ein Mädchen heiraten, das dem Herrn nicht passte. Er soll gesagt haben, das sei keine standesgemäße Partie. Aber sein Sohn blieb bei seinem Entschluss und heiratete seine Maria. Daraufhin setzte der Patriarch ihn vor die Tür. Arbeitslos ging unser Vater nach Köln. Dort fand er bei einer Privatbank eine Stelle.“
„Jetzt weiß ich weiter: Dann ist er zur Reichsbank gegangen und wurde Beamter. Zeitlebens hat er davon geträumt, doch noch Unternehmer zu werden.“
„Deshalb hat er ja all die Erfindungen gemacht und sich patentieren lassen. Zum Beispiel die sturmsicheren Dachziegel, womit er sich selbständig machen wollte.“
„Und dann kam nach dem Krieg die große Enttäuschung, als sie ihn nicht befördert haben, weil er nicht die notwendigen bankinternen Prüfungen hatte.“
„Diese Prüfungen hatte er nicht ablegen können, weil die Nazis ihn, der nicht in der Partei war, zu diesen Prüfungen nicht zuließen.“
„Statt dessen hat er zusehen müssen, wie die NSDAP-Genossen, seine Kollegen, nach ihrer Entnazifizierung Stufe für Stufe befördert wurden.“
„Das hat ihn verbittert.“
„Armer Vater!“
Das war Hirschberg genug Familiengeschichte: „Jetzt bitte Schluss mit der Vergangenheit. Dieses Jahrhundert ist in ein paar Monaten vorbei. Ein neues Jahrhundert liegt vor uns – und alles deutet darauf hin, dass es nicht schöner, aber genauso spannend wird wie das zu Ende gehende. Da wollen wir doch noch ein bisschen dabei sein und uns in unserer Zeit behaupten.“
Treffen mit Katha
fuhren zum Stadtwald … kein Lehrer verloren gegangen … selbständiges
Lernen und Arbeiten … zöge sie zu ihrem Freund …
Wieder zurück in seinem Mehlemer Büro. Die Sekretärin von Freund Werner rief an. Der Termin der Gesprächsgruppe, zu der man ihn einladen wolle, könne leider erst nach der Sommerpause stattfinden, Herr Dr. Boone bitte ihn, sich den 16. September in Berlin vorzumerken. Man käme üblicherweise am frühen Abend zum Essen zusammen, um danach ins Thema einzusteigen. Der Ort der Veranstaltung stehe noch nicht fest. Wahrscheinlich eines der bekannten Hotels. Sobald Termin und Ort feststünden, werde sie sich wieder melden. Herr Dr. Boone lasse grüßen und danke ihm für seine Bereitschaft zu referieren – das war ein formvollendetes Telefonat. Freund Werner hatte vermutlich seiner Mitarbeiterin nur gesagt: „Rufen Sie den Hirschberg an und sagen Sie ihm, er soll sich den 16.9. für das Treffen unseres Gesprächskreises vormerken.“
Das Telefon klingelte erneut: Frau Schneider aus Puerto Andratx. Ihr Projekt mit dem Professor fände großen Anklang. Nächste Woche käme sie mit ihm nach Deutschland, wann er Zeit habe. Sie vereinbarten einen Termin bei ihm im Büro. Mittlerweile war es Zeit, zum Hauptbahnhof nach Köln zu fahren: Katha. Pünktlich stand Hirschberg vorm Blumenladen. Sie hatte ihn zuerst gesehen. Als auch er sie sah, hob sie leicht den Kopf: Hier bin ich. Er ging auf sie zu; sie begrüßte ihn mit einem zärtlichen Kuss auf die Wange. Dann sahen sie sich, etwas zurückgeneigt, an – wie zwei, die oft aneinander gedacht, sich den anderen vorgestellt haben, und jetzt prüfen, ob ihre Erinnerung nicht getrogen hat. Sie fragte: „Was machen wir?“
Nachdem sie beim Früh eingekehrt waren und ihre Bestellung aufgegeben hatten:
„Weißt du, dass es in Deutschland über 750 Leute mit Telefon gibt, die Hirschberg heißen?“
„Nein.“
„Rate, wie viele davon den Vornamen Johannes haben?“
„Keine Ahnung. Fünf?“
„Drei. Und wie viele davon wohnen in Bonn?“
„Einer: Ich.“
„Falsch. Zwei. Aber nur einer davon in Mehlem.“
„Dann bin ich in Mehlem wenigstens einzig – du hast aber ganz schön nachgeforscht.“
„Musste ich doch, um deine Nummer rauszufinden. Das heißt, ich habe sie ausfindig machen lassen. Mein Freund hat das für mich gemacht.“
Der Köbes brachte die beiden Kölsch. Hirschberg hob sein Glas: „Auf unser Wiedersehen!“ Sie stießen an.
„Den Job in Mettmann hast du bekommen?“
„Habe ich. Gestern habe ich den Vertrag unterschrieben. Im Juni muss ich anfangen.“
„Probezeit?“
„Drei Monate.“
„Und was musst du tun?“
„Das Kinder- und Jugendtraining organisieren und betreuen sowie sämtliche Veranstaltungen mit zwei Kollegen vorbereiten und durchführen.“
„Nach Langeweile hört sich das nicht an.“
„Es könnte zeitweise ganz schön stressig werden. Aber mir ist das lieber, als irgendeine eintönige Arbeit, beispielsweise den ganzen Tag am Computer sitzen.“
Die Sauerbraten wurden serviert. Sie aßen, lächelten sich gelegentlich zu. Worüber sollte man sprechen, fragte sich Hirschberg. Sich gegenseitig sympathisch finden, war eine Sache. Aber um sich kennenzulernen, zueinander zu kommen, brauchte es gemeinsames Erleben. Daraus ergab sich Gesprächsstoff, der zu Gedanken- und Erfahrungsaustausch führte. Jetzt saßen sie hier beisammen – wenn man so wollte eine Urlaubsbekanntschaft – und hatten sich eigentlich nicht viel zu sagen. Er hätte es sein lassen sollen.
Sie blickte zu ihm rüber und fragte: „Worüber denkst du nach? Wieso wir hier zusammensitzen? Erzähl mir von deiner Arbeit!“
„Die ist vielschichtig. Vorgestern habe ich ein Unternehmen in Oberfranken besucht. Du weißt, ich hab’ dich ja aus dem Hotel angerufen. Der Mann, dem das Unternehmen gehört und der noch weitere Unternehmen hat, wäre auf einen Schlag steinreich, würde er seine Unternehmen verkaufen. Der könnte sein Geld zur Bank bringen, Aktien, Anleihen, was auch immer kaufen, und bis an sein Ende sorglos leben, selbst wenn ihm der Staat mehr als die Hälfte davon abnimmt. Der könnte sich in Mallorca eine Villa bauen oder kaufen, genauso in Florida oder sonst wo und seine Hobbys pflegen, beispielsweise Golf spielen. Aber das macht er nicht. Das scheint den gar nicht zu interessieren. Der erzählt mir von seinen Firmen, die Pleite waren, als er sie übernahm, und die er gemeinsam mit den Mitarbeitern wieder wettbewerbsfähig gemacht hat. Er hat mir auch von seiner Familie erzählt, die ihn auf Reisen in seinem Büro- und Wohnmobil schon mal begleitet, vom Skilanglauf und anderen Aktivitäten, die sie zwischendurch machen. Der Mann lebt mit einer Intensität – nicht für sich, sondern für andere – die ich nur bewundern kann.“
„Könntest du nicht auch so leben?“
„Jeder Mensch, glaube ich, muss sich nützlich machen für andere. In einer Marktwirtschaft, die nicht durch Machteinflüsse seitens des Staates oder modern organisierter Raubritter außer Kraft gesetzt ist, gehört das sogar zu den Funktionsprinzipien. Wenn du etwas gerne hättest, dir hier etwa in der Hohen Straße etwas kaufen möchtest, musst du erst etwas für deine Kids in deinem Club auf Mallorca, demnächst in Mettmann geleistet haben, wofür man dir Lohn bezahlt.“
„Der Unternehmer, den du besucht hast, brauchte, wie du gesagt hast, eigentlich nichts mehr zu tun. Er könnte von seinem Vermögen leben. Richtig?“
„Wer der Wirtschaft Kapital zur Verfügung stellt, macht sich auch nützlich. Denn ohne Kapital läuft nichts. Wenn unser Staat nicht so viel Geld verplempern würde, ginge es der Wirtschaft besser. Du hast gefragt, ob ich auch so leben könnte. Natürlich könnte ich nicht das Leben dieses Bromberg leben. Aber wie er brauche auch ich eine Aufgabe, bei der das Honorar nicht das einzige Motiv ist. Sobald einer nur deshalb eine Arbeit verrichtet, weil er dafür Geld bekommt, kommt etwas in ihm zu kurz, nämlich der Lebenssinn.“
Er winkte dem Ober zum Bezahlen. Als sie ihre Geldbörse rausholen wollte, bat er sie, das übernehmen zu dürfen. Draußen überlegten sie, was sie weiter machen wollten. Hohe Straße, Schildergasse? Nein, sie würde sich lieber weiter mit ihm unterhalten. Er: In ein Café gehen?
Sie: „Da ist das Wetter viel zu schade für. Lass uns raus fahren. Wir gehen spazieren, setzen uns auf eine Bank und reden.“
Hirschberg und Katha fuhren zum Stadtwald. Als sie das Auto abgestellt hatten und auf einen der Spazierwege gingen: „Du hast mir doch auf Mallorca erzählt, dass du Lehrerin werden willst. Ich bin ein Jahr lang nebenberuflich Lehrer gewesen. Für Politik und Wirtschaft. In einer siebten und in einer achten Klasse eines neusprachlichen Gymnasiums. Damals war Lehrermangel. Der Direktor kannte mich von der Europaunion her. Er müsse die Stunden ausfallen lassen, wenn ich nicht einspringe. Um mich als Lehrer zu erproben, habe ich’s gemacht. An mir ist, glaube ich, kein Lehrer verloren gegangen. Zumindest unter den herrschenden Bedingungen könnte ich das nicht zu meinem Beruf machen. Ich ginge kaputt.“
„Was hat dich gestört?“
„Zunächst die mangelnde Effektivität der ganzen Veranstaltung. In Klassen mit 30 und mehr Schülern ist kein effektiver Unterricht möglich. Jeder Lehrer kommuniziert im Grunde nur mit vier oder fünf Schülern, mit denen er seine Wellenlänge hinkriegt. Alle anderen laufen mehr oder weniger mit.“
„Aber kleinere Klassen bekommt man nur, wenn mehr Lehrer eingestellt werden. Dafür ist kein Geld da.“
„Warum muss der Staat Schulen unterhalten? Wenn es nur Privatschulen gäbe, hätten wir wahrscheinlich ein wesentlich effektiveres und billigeres Schulsystem. Aber ich habe da noch ganz andere Vorstellungen. Ich würde alle Lehrer zu selbständigen Anbietern von Bildung machen. Jeder, der die notwendigen Qualifikationen nachweist und für seine ständige Weiterbildung sorgt, kann sich Schüler suchen; so wie Ärzte sich um Patienten bemühen, Rechtsanwälte um Mandanten, Fahrlehrer um Fahrschüler.“
„Das sind aber recht revolutionäre Ideen.“
„Ha! Das geht noch weiter.“ Er redete sich in Eifer.
„Jeder Schüler kann sich für den von ihm gewählten Abschluss zur Prüfung melden, sobald sein Lehrer ihm ein entsprechendes Zeugnis ausstellt. Diese Prüfungen sind bundeseinheitlich standardisiert und werden von einer neutralen Instanz abgenommen – wie die Fahrprüfungen. Ich wette, wir bekämen 15jährige Abiturienten.“
„Aber ein Lehrer kann doch nicht alles unterrichten.“
„Nein. Jeder bietet das an, worauf er sich durch Wissen und Erfahrung versteht. Der eine alphabetisiert und lehrt die Muttersprache, der andere bietet Mathematik an, der dritte Fremdsprachen, der vierte Geschichte und so weiter. Ein völlig offenes System und ein nachbarschaftliches System – so wie man Ärzte, Rechtsanwälte, Fahrlehrer am Ort hat.“
Sie war nach wie vor skeptisch: „Und die Schüler rennen von einem Lehrer zum anderen?“
„Wir haben doch moderne Kommunikationsmittel. Wissensvermittlung erhält der Schüler zuhause. Er hat dort einen Lerncomputer, so wie der Vater oder die Mutter, wenn sie beispielsweise als Telearbeiter tätig sind – es wird eine weit verbreitete Arbeitsform der Zukunft sein, zuhause einen Arbeitscomputer zu haben. Für die Kinder folgt also auf den Spielcomputer der Lerncomputer. Die Lernprogramme sind entweder Selbstlernprogramme oder vom Lehrer geführte Lernstunden. Letzteres heißt: Zu einer bestimmten Stunde ist der Lehrer mit einer Reihe von Schülern verbunden, die sitzen nur nicht vor ihm, sondern an ihrem Lerncomputer zuhause.“
„Die Kinder vereinsamen doch total!“
„Langsam! Dann kommen Schüler in Gruppen bei ihrem Lehrer zusammen, der zuhause eine Lernstatt mit Gruppenraum hat, meinetwegen unterhalten mehrere Lehrer auch eine gemeinsame Lernstatt, die dann entsprechend mehr Räume hat, und dort wird in einer Gruppe bis zu 12 Schülern ein Thema, ein Stoff erarbeitet. Unterrichtsstunden à 45 Minuten und dazu Schulklingeln, diesen Blödsinn gibt es nicht mehr. Pausen legt der Lehrer entsprechend der Konzentrationsfähigkeit seiner Schüler und dem Fortgang des Lernprozesses ein.“
Bei Katha wich die Skepsis einem Staunen. Hirschberg fuhr fort: „Ein drittes Lernelement kommt noch dazu. Die Lehrer machen mit ihren Schülern Exkursionen und Reisen, sozusagen Erlebnislernen. Die fahren ein paar Wochen in ein Projekt der Dritten Welt, das sie unterstützen und begleiten; die besuchen die Metropolen Europas, um dort Kultureinrichtungen kennenzulernen, mit denen sie sich vorab befasst haben; die bereiten Betriebserkundungen vor und arbeiten nach der Erkundung eine Weile in dem Unternehmen…“
Jetzt sprang Katha auf seinen Gedankengang auf: „Die machen Überlebenstraining, Orientierungswanderungen, organisieren Bazars, inszenieren Theaterstücke, veranstalten Ausstellungen…“
Er: „..bilden Forschungsgruppen, entwerfen Mode, drehen Filme – würdest du da nicht gerne Schüler sein?“
„Sofort. Und Lehrer. Du hast heute Mittag von sinngebender Arbeit gesprochen, die jeder Mensch braucht – aber er braucht auch ein Einkommen. Wer bezahlt die Lehrer?“
„Zunächst: Der Lehrer muss ein Interesse daran haben, seinen Schülern den prüfungsrelevanten Stoff nachhaltig und in angemessener Zeit zu vermitteln. Angemessen heißt: dem Lernpotential und dem Lernverhalten des jeweiligen Schülers angepasst. Nachhaltig heißt: Wissen nicht im Repetitoren-Verfahren eintrichtern, sondern kreativ verfügbar machen. Beides lässt sich über Prüfmethoden, die den Lernmethoden entsprechen, feststellen. So wie Soziale Marktwirtschaft Leistung provoziert, so muss die Organisation des Lehr- und Lernmarktes pädagogische Leistungen hervorrufen und entlohnen. Honoriert wird durch Zahlungen pro Schüler und zusätzlich je bestandener Prüfung ihrer Schüler. Es muss einerseits ein Anreiz bestehen, mit Schülern ausgelastet zu sein, andererseits ein Anreiz, möglichst viele Schüler schnell zu einem Lernziel zu führen, dessen Erreichen durch bestandene Prüfung nachgewiesen wird. Diese Kombination ist wichtig, damit die Balance zwischen Schülerzahl und Lernerfolg zustande kommt.“
„Das war das Zahlungssystem. Und wer bezahlt die Lehrer?“
„Wieder ein duales System. Der Staat zahlt aus seinen Steuereinnahmen jedem Lehrer entsprechend seiner Qualifikation ein Grundgehalt. Alle Bürger – ob sie Kinder haben oder nicht – zahlen von ihrem Ausbildungsabschluss an in einen auf kommunaler Ebene angesiedelten Lernfonds ein. Aus den Erträgen dieses Fonds wird den Lehrern ein Zusatzeinkommen bezahlt. Den Aufsichtsrat des Fonds bilden Eltern, Lehrer und Schüler. Sie legen unter anderem fest, wie hoch die Einzahlungen in den Fonds sind. Das höchste Einkommen werden die Lehrer haben, die auf dem Lernmarkt die besten Ergebnisse vorzuweisen haben.“
„Klingt phantastisch!“
„Es ist nicht mehr als ein Ideenkonzept. Eines steht allerdings fest: Wenn Schule bei uns weiter so praktiziert wird wie bisher, werden sich die heutigen Schüler als Erwachsene vom gewohnten Wohlstand verabschieden müssen, da man ihnen nicht die Chance gegeben hat, sich für den Erhalt des gewohnten Wohlstands ausreichend zu qualifizieren – weder intellektuell noch habituell. Was sie aus dem Frust darüber anstellen werden – ich weiß es nicht, aber die Eltern-Generation könnte es hart treffen. Uhrwerk Orange.“
„Das wiederum klingt deprimierend.“
„Ist es auch. Man spricht heute dort, wo man sich mit den Arbeitsanforderungen der Zukunft beschäftigt, allgemein von Schlüsselqualifikationen, die jeder in seiner Jugend erwerben muss. Dazu gehören selbständiges Lernen und Arbeiten, Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit, intellektuelle Neugier. Lernt man das an unseren Schulen? Doch wohl nur in bescheidenem Maß, wenn überhaupt.“
Längst hatten sie sich auf eine Bank gesetzt. Vor ihnen ein Teich mit Enten. Zwei Frauen gaben ihren Kindern Brotreste zur Fütterung der Enten.
Katha: „Jetzt hast du mir sehr viel von deinen Überlegungen und Vorstellungen erzählt. Aber wer macht sich außer dir schon darüber Gedanken? Man kann wohl nur für sich Konsequenzen daraus ziehen. Oder glaubst du, deine Ideen könnten mal Wirklichkeit werden?“
„Da bin ich sehr skeptisch. Außerdem bin ich ein schlechter Propagandist meiner Ideen. Wer seine Ideen verwirklichen will, muss ganz dafür leben und eine Bewegung daraus machen.“
„Hast Du ein Beispiel?“
„Ohne die Vision Herzls gäbe es nicht den Staat Israel.“
„Das hatten wir in der Schule. Nach deinem Schulkonzept wären wir hingefahren.“
„Ich war viermal da. Ich habe ein Medienset über Israel gemacht.“
„Erzähl!“
„Aber du musst heute doch noch nach Mallorca fliegen. Ein anderes Mal.“
Sie sah auf die Uhr.
„Etwas Zeit habe ich noch. So um acht muss ich am Flughafen sein. Wenn es dich interessiert, erzähle ich dir, wie es bei mir jetzt weitergehen wird.“
„Können wir das auch bei einem Stück Kuchen? Ich habe Appetit auf Kuchen.“
Hirschberg wusste ein Café in der Nähe. Auf dem Weg dorthin und auf der Terrasse des Cafés erzählte sie ihm von den vergangenen Wochen auf Mallorca, und wie sie jetzt ihre Zelte dort abbrechen würde. Wenn sie nach Deutschland zurückkäme, zöge sie zu ihrem Freund. Das sei der schon erwähnte, der die Telefonnummer für sie ausfindig gemacht habe. Sie kenne ihn von der Schule her. Er studiere in Düsseldorf Medizin. Nach Mettmann zu ihrer Arbeit hätte sie nicht allzu weit. Hirschberg fragte, ob sie denn heiraten wollten. Zunächst sicher nicht, aber spätere Heirat sei nicht ausgeschlossen.
Es wurde Zeit aufzubrechen. Auf der Fahrt sagte sie, den Kontakt zu ihm gerne aufrecht erhalten zu wollen. Sie höre ihm gerne zu, hoffe aber, in Zukunft mehr als heute zum Gespräch beitragen zu können. Sie habe sich beispielsweise Gedanken zu dem in Palma angesprochenen Thema ‘Freiheit’ gemacht. Darüber könnten sie vielleicht beim nächsten Mal reden. Auch könne sie durchaus noch mehr von sich erzählen, aber damit wolle sie sich nicht aufdrängen. Hirschberg hörte zweierlei heraus: Sie hatte den Nachmittag einseitig erlebt und wollte sich dafür, dass sie meist nur zugehört hatte, entschuldigen; und sie hatte das Bedürfnis, seine Ansichten zu hören, um ihre intellektuelle Neugier zu befriedigen.
Wie Katha zu Beginn beim Früh, als ihm Zweifel am Sinn dieser Wiederbegegnung kamen, seine Bedenken erspürte, hatte ihn beeindruckt. Vielleicht konnte er ihr das sein, was offenbar ihr Vater nicht für sie war, und was er, Hirschberg, seinen Kindern hätte sein wollen. Er sagte, dass es auch ihm gefallen würde, mit ihr zusammen zu sein. Und er beichtete ihr seine Gedanken beim Früh. Wie sie ihn zum Reden gebracht hätte, sei gut gewesen, genau die richtige Frage. Dann: „Wir sehen uns wieder, wann immer du magst.“
„Ich danke dir.“