5.
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Küchenjunge Hirschberg

… wider bessere eigene Einsicht … lauter wunde Punkte … 
allein essen ist trostlos … Science Fiction-Traum

Frau Michalski sah Hirschberg kritisch an: „Halten Sie sich auch selbst an all das, was Sie anderen predigen?“ „Teils, teils.“ Wo will sie drauf hinaus, fragte er sich. Er ging nur auf das Predigen ein: „Viele nehmen sich aller­dings nur dann etwas zu Herzen, wenn es ihnen auf den Nägeln brennt, wenn ihr Leidens­druck groß genug ist.“

„Dann leiden Sie also noch nicht genug!“

„Worunter sollte ich leiden?“

„Ich beobachte seit Wochen, dass Sie sich wider bessere eigene Einsicht falsch bezie­hungs­weise schlecht ernähren. Sie essen sehr unregel­mäßig. Ich habe den Verdacht, dass Sie auch nicht jeden Tag etwas Warmes essen. Obst und Salat mögen gesund sein, aber man sollte wohl noch etwas anderes essen. Wahrscheinlich trinken Sie auch zu wenig. Sie sind nachlässig sich selbst gegenüber.“

Er sah sie mit großen Augen an und schwieg.

Sie hakte nach: „Habe ich recht?“

„Sie haben! Aber wie soll ich das machen? Ich gehöre nicht zu den Hobby­köchen, wie sie im Fernsehen zu sehen sind. Ich beneide, wie die mit Lebens­mitteln umgehen können. Und ich beneide sie um ihren offenbar problemlos verar­bei­tenden Magen. Vieles von dem, was da zubereitet wird, würde mir nicht bekommen.“

„Reden Sie sich das nicht nur ein? Sie mögen ja einen empfind­lichen Magen haben, aber deshalb muss man das Essen nicht einstellen.“

„Wie soll ich essen, wenn ich keinen Appetit habe?“

„…und trinken, wenn Sie keinen Durst haben? Wenn Sie so weiter machen, vertrocknen Sie. Auf den Rippen haben Sie wohl noch nie etwas gehabt.“

Ihm gefiel das Gespräch nicht. Sie traf da lauter wunde Punkte. Er überlegte, wie er ablenken könnte. Sie merkte, dass ihre Kritik ihm unangenehm war. Doch sie wollte ihn zu seinem eigenen Wohl nicht in seiner Unfähigkeit, für sich zu sorgen, sitzen lassen. Vielleicht konnte ein Lob helfen: „Dass Sie nicht rauchen, finde ich sehr gut. Ich kenne viele kluge Leute, die es nicht sein lassen können.“

„Es gibt viele Frauen, die das Naschen nicht sein lassen können.“

„Womit wir bei den vielen großen und kleinen Lastern wären.“

„Essen und Trinken kann zur Sucht werden.“

„Es gibt auch Magersucht!“

„Womit wir bei der Frage des rechten Maßes wären.“

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Montag bis Freitag, wenn mein Mann in Berlin ist, koche ich für uns beide. Hier in Ihrer Küche. Sie haben dann wieder regel­mäßig eine Mahlzeit und ich sitze nicht allein bei mir zuhause am Esstisch. Ob ich nur für mich oder für Sie mit koche, das macht keinen großen Unter­schied. Was halten Sie davon?“

Er sah sie freudig an: „Das ist ein toller Vorschlag! Einver­standen. Denn es liegt sicher nicht nur daran, dass ich kaum kochen kann, wenn ich nicht richtig für mich sorge – es liegt auch daran, dass allein essen mir trostlos vorkommt.“

„Es gibt auch stille Genießer. Aber bei denen steht dann meist auch eine große Flasche auf dem Tisch.“

„Man kann nicht allein überleben. Essen schmeckt erst richtig in gesel­liger Runde. Nur: Ich kann nicht mithalten, wenn so richtig losgelegt wird. Die anderen glauben es nicht und halten mich für ungesellig, wenn ich aus Vorsicht ‘nein’ sage. So ist das leider.“

„Armer Mann. Aber von Luft können Sie nicht leben.“

„Okay, wir versuchen das. Sie haben ja keine Gelage mit mir vor. Aber ich möchte mich betei­ligen. Wir machen das zusammen. Sie sind Küchenchef und ich Küchenjunge.“

„Gut. Mal sehen, wie gelehrig Sie sind. Morgen geht’s los. Ich kaufe heute Nachmittag ein.“

Sie verab­schiedete sich. Hirschberg war müde. Er legte sich ‚für ein halbes Stündchen‘ hin. Danach würde er nach unten gehen und sich einen Strammen Max mit Salat machen. Einfache Sachen brachte er in der Küche durchaus zustande. Aber an kompli­ziertere Gerichte traute er sich nicht ran. Er war in einer Zeit groß geworden, in der es noch eine klare Rollen­teilung gab: Die Männer sorgten für das Famili­en­ein­kommen, die Frauen für die Lebens­ge­staltung des Zuhause. So war das seit Menschen­ge­denken. Solche Arbeits­teilung machte durchaus Sinn. Warum sollten denn beide sowohl das eine wie das andere können? Die gegen­seitige Ergänzung machte das lebens­tüchtige Team aus, nicht das auswech­selbare Miteinander.

Die Minder­be­wertung der Famili­en­arbeit hatte er schon immer als dumm und belei­digend empfunden. Für ihn war diese Arbeit unter­neh­me­rische Tätigkeit: organi­sieren, koordi­nieren, riskieren, anleiten, kreieren, inves­tieren, pflegen – das Gestalten des Lebens­raums und das Befrie­digen der Grund­be­dürf­nisse mensch­lichen Zusam­men­lebens. Lebens­tüchtig und liebevoll!

Er konnte sich noch gut an den Tages­ablauf seiner Mutter erinnern. Da hatte alles seine Zeit. Da hatte alles seine Ordnung. Jeder Wochentag hatte seine Beson­derheit. Der Montag war beispiels­weise Waschtag, Dienstag und Freitag waren Einkaufstage. Sie hatte ein Reper­toire an Mahlzeiten, das entspre­chend dem Lebens­mit­tel­an­gebot der Jahres­zeiten variiert wurde. Und an Feier­tagen, oder wenn Besuch kam, gab es ein Festessen. Von Zeit zu Zeit probierte sie ein neues Rezept aus, das sie entweder von einer Bekannten erhalten hatte oder das in einer Zeitschrift stand.

Nach dem Spülen und Sauber­machen der Küche legte sie sich mit der Tages­zeitung aufs Sofa im Wohnzimmer. Schon bald schlief sie ein, die Zeitung rutschte zu Boden. Klein-Hirschberg saß am Esstisch, hatte die Tisch­decke zurück­ge­faltet und machte Hausauf­gaben. Sein Zimmer war zu klein, um sich genügend ausbreiten zu können. Er liebte die Stille im Raum. Nur das Atmen der Mutter und der Pendel­schlag der Standuhr waren zu hören. War er mit seinen Aufgaben fertig, bevor die Mutter wieder wach wurde, verhielt er sich ganz ruhig, beobachtete die Schla­fende und fragte sich, wo mag sie jetzt sein? Nach dem Schlafen kontrol­lierte die Mutter seine Hausauf­gaben. Erst wenn alles richtig war, durfte er raus zum Spielen. – Mit diesen Erinne­rungen schlief Hirschberg ein. Er glitt hinüber in das Reich der Träume.[/vc_column_text]

Als Fremder wanderte er durch eine mittel­al­ter­liche Stadt. Kinder­ge­schrei. Keifende Weiber. Pferde zogen Kutschen. Hunde kläfften. Katzen streunten herum. Gestank. Rauch. Dämmerlicht.

Plötzlich eine andere Stadt. Breite Straßen. Straßen­bahnen. Busse. Oberlei­tungen. Strom­masten. Kabel­gewirr. Er flog über die Straßen und Plätze. Er schwang sich hoch zu den Dächern. Dann stürzte er sich mit angelegten Flügeln hinunter, flog Slalom über den Köpfen der Leute. Es war ein Genuss.

Wieder eine andere Stadt. Amorphes Häuser­gewirr. Hirschberg irrte in seinem Auto umher, war orien­tie­rungslos. Er suchte seine Studen­tenbude. Nach langem Suchen – längst hatte er den Wagen stehen lassen und ging zu Fuß – fand er sie. Die Wirtin, sichtbar gealtert, erkannte ihn. Das Zimmer hatte sie einem anderen Studenten vermietet: Er sei ja nicht mehr gekommen. Er zog von dannen. Suchte sein Auto.

Endlos irrte er durch die graue, dreckige Stadt mit schemen­haften Menschen und Unmengen von Autos, die alle aussahen, als seien sie von Mehltau befallen. Es waren so viele, dass sie sich nur von Zeit zu Zeit bewegen konnten, wenn gerade irgendwo eine Lücke entstanden war. Er fand sein Auto nicht. Er fühlte sich unglücklich, ausge­setzt. Er kam in die Außen­be­zirke. Hier begann der Verkehr zu fließen. Schließlich entdeckte er am Straßenrand sein Auto, dreckig und verbeult, wie Treibgut, das ans Ufer gespült worden war.

In der schier endlosen Stadt fuhr er herum und suchte jetzt die Wohnung seiner Mutter. Nach dem Tod seines Vaters war sie in einen riesigen Wohnblock gezogen. Als er den Block schließlich glaubte gefunden zu haben, umkreiste er ihn mehrere Male. Parkplatz­suche. Die Hausein­gänge waren alle gleich. Auch die Treppen­häuser. Nein, hier war es nicht. Hier auch nicht. Ein Stockwerk höher? Nein, alles andere Namen auf den Klingel­schildern. Er verzwei­felte. Aber diese Wohnung musste es sein. Der Name auf dem Klingel­schild war verblichen. Er schellte. Nichts rührte sich. Nochmal. Schlur­fende Schritte. Stille. Dann öffnete sich die Tür um den Spalt, den die Sicher­heits­kette zuließ. Das war nicht das Gesicht seiner Mutter. Ob nicht eine Frau Hirschberg hier wohne? Nein. Ob sie denn den Namen schon einmal gehört habe. Nein. Wie lange sie denn schon hier wohne?

„Was wollen Sie?“

Die Tür wurde zugeschlagen. Doch die falsche Wohnung? Oder war seine Mutter gestorben, ohne dass man ihn gerufen hätte? Nieder­ge­schlagen schlich er die Treppe hinunter. Die Aufzüge in solchen Häusern hasste er. Wäre er jetzt in einen einge­stiegen, er hätte am ganzen Leib in der Angst gezittert, mit ihm in die Tiefe zu stürzen.

Hirschberg ging die Treppe herunter bis zu ihrem Ende: eine riesige Tiefgarage. Erneut suchte er sein Auto. Jedes Auto stand in einem Metall­käfig. Von Zeit zu Zeit setzte sich der eine oder andere Käfig in Bewegung und verschwand. Die Autos sahen alle ähnlich aus. Aus dem Nichts kamen neue in den spärlich beleuch­teten Raum und nahmen die frei gewor­denen Plätze ein. Es kam mehr und mehr Bewegung in diese Autowelt und es begann ein unauf­hör­liches Summen. Eine Eisentür schlug dumpf ins Schloss. Er sah einen Roboter kommen. Der kam geradewegs auf ihn zu. Hirschberg erstarrte. Kurz vor ihm bog der Roboter im rechten Winkel ab. An einem der Beton­pfeiler drückte Hirschberg einen roten Knopf. Gleißendes Licht erfüllte schlag­artig die Unterwelt.

Jetzt sah er, dass das keine Autos der herkömm­lichen Art waren, sondern eher kleine Fahrzellen mit Kommu­ni­ka­ti­ons­ge­rät­schaften wie Mikro­fonen, Kameras, Bildschirmen, Tasta­turen, Displays. Außerdem jeweils vier bequeme Sessel mit Lautspre­chern als Ohrklappen und eine kleine Bar im Zentrum. Für den Roboter, eine hüfthohe Technik­ge­stalt, war an der Front­seite der Vehikel zwischen einer Fülle von Sensoren eine Lücke gelassen – aha: die Roboter waren die Steuer­geräte dieser neuar­tigen Limou­sinen. Mit einer Fernbe­dienung holte der Roboter den Wagen heraus, klinkte sich in seinen Sitz ein und fuhr davon.

Mehr und mehr Roboter kamen durch die verschie­denen Türen und holten alle nach dem gleichen Verfahren ihre Vehikel. Es brauste und schep­perte. Nur bei einem Roboter seitlich vor dem noch immer erstarrten Hirschberg funktio­nierte die Fernbe­dienung nicht. Der Käfig mit seinem Wagen rührte sich nicht. Der Roboter versuchte es wieder und wieder. Schließlich explo­dierte das Technik­männlein wie ein defekter Feuer­werks­körper. Es zischte und funkte, Flammen schossen aus ihm heraus. Ein Häufchen Asche blieb übrig. Das Licht erlosch. Stille.

Hirschberg verließ die Unterwelt durch eine der Eisen­türen und stand in schumm­rigem Rotlicht. Er tastete sich vor. Ein Sog erfasste ihn. Dann war es plötzlich stock­dunkel. Er schrie. Nichts und niemand reagierte. Sein Schreien erstarb, so als erwürge man ihn mit einem großen Watte­bausch. Er hörte sich nicht mehr. War er taub? Nach einer Weile: herrlich süßer Duft. Er atmete tief ein, saugte diesen betörenden Duft in sich hinein. Entspannung. Ohne dass Licht in die Szene gekommen wäre, erkannte er nun: Um ihn herum war alles weiß, klinikweiß, steril. Lauter weiß gekleidete Zwerge huschten umher. Sie waren alle gleich. Er sah genau hin: Man konnte sie nicht vonein­ander unter­scheiden. Was taten sie? Es war nicht heraus­zu­finden. Mal lösten sie sich ins Unsichtbare auf, mal materia­li­sierten sie sich wieder zu ihrer Zwergengestalt.

Niemand nahm ihn wahr. Er hockte auf dem Boden, atmete immer noch diesen süßlichen Duft, der ihm jetzt aller­dings giftig vorkam. Es herrschte die Geschäf­tigkeit der weißen Zwerge. Er sah dem Treiben zu, merkte, dass es ihm schwer fiel, Gedanken zu fassen. Alles vollzog sich in lautloser Stille. Lag’s an ihm oder war die Welt der hüftgroßen Zwerge tatsächlich nur süßer Duft und schemen­haftes Weiß? Ließ sich hier etwas berühren? Er stand auf, ging umher. Jetzt gewahrte er auch Wände, Nischen, Gerät­schaften, Behälter – aber nichts ließ sich anfassen. Wenn er hinlangte, griff oder stieß er ins Leere. Wo er auch hinkam: In seiner unmit­tel­baren Nähe löste sich alles auf.

Er wurde mutig, stellte sich dem einen oder anderen Zwerg in den Weg. Doch auch die lösten sich kurz vor ihm in Nichts auf, und hinter ihm nahmen sie wieder Gestalt an. Schließlich wurde er frech: Er machte Jagd auf einen der Zwerge – erfolglos. Außer Atem und mit Schweiß­perlen auf der Stirn stellte er fest, dass es hier wenigstens noch Luft gab, sonst müsste er ja tot sein.

Hinter sich spürte er Bedroh­liches. Er drehte den Kopf: Ein Herkules sah auf ihn herab. Und der wurde immer noch größer und größer, packte ihn schließlich und steckte ihn in seine Hosen­tasche. Es stank nach Urin. Er verlor das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, war er noch immer in der stinkenden Dunkelheit des Hosen­sacks. Dieser Herkules trug ihn mit sich herum. Stimmen hörte er. Auch der Herkules schien zu sprechen. Er verstand kein Wort. Seine Versuche, sich in die Höhe zu ziehen, misslangen. Immer wieder rutschte er in die Tiefe dieses Beutels, in den vermutlich ein Kirchturm gepasst hätte. Wohl oder übel musste er abwarten, bis sich der Koloss irgendwo niederließ und er dann heraus­krabbeln konnte. Die Gelegenheit kam, und er machte sich davon.

Hirschberg entdeckte einen riesigen Amüsier­be­trieb. Südsee­land­schaft mit Palmen­strand, schlem­mende Menschen auf großen Sonnen-Terrassen, offene Hallen mit Spiel­au­to­maten aller Art, Hotels, Golfplätze, Dschungel für den Abenteu­ertrip, Rafting über Wildwas­ser­kas­kaden und Baumhaus-Lodgen für Naturfreunde.

Hier waren Paradies­macher der Freizeit­branche am Werk gewesen. Es duftete nach Hyazinthen und Maiglöckchen. Wohltuende Geräusche wie Meeres­rau­schen und Brunnen­ge­plät­scher. Harmonie verströ­mende Musik. Er sah sich um und staunte. Wenn man bedachte, wie das alles in Disneyland und Las Vegas mal angefangen hatte! Nach längerem Beobachten – er hatte sich nach einigem Umher­wandern auf die oberste Stufe einer Hotel­treppe gesetzt – fiel ihm auf: Hier gab es nur schöne Menschen, jung und gepflegt; keine Kinder, keine alten Menschen, keine Krüppel, keine dicken, keine dünnen.

Er ging hinunter zum Strand, legte sich auf den Sand und schloss die Augen. Er wollte Ruhe finden, sich nicht verlieren in dieser die Sinne betörenden Welt der Paradies­macher, dieser perfekten Verführung, der man sich nur hinzu­geben brauchte. Der Frühlingsduft lag auch hier in der Luft, vermischt mit einer Brise Seefrische, angenehm warme Tempe­ratur. Um ihn herum hin und wieder Stimmen. Doch das klang nicht nach einer Sprache, sondern war eher ein Lallen – so wie Babys vor Freude lallen und gurgeln. Er öffnete wieder die Augen, setzte sich in Buddh­a­po­sition und sah sich um. Die schönen Menschen um ihn herum, junge Frauen, hell lallend, und Männer, dunkel lallend, waren unbekleidet.

Die Paradies-Urlauber wurden umsorgt von flinken kleinen Männern und Frauen mit Hüftkettchen, an denen kleine Code-Plättchen hingen. Drinks, Snacks. Das Bedie­nungs­per­sonal war zurück­haltend und lächelte unentwegt. Unter­scheiden konnte man das Personal an den verschie­denen Hautfarben, den Haaren, die mal blond, mal schwarz, mal rot waren; alle perfekt designed. Sie waren stumm, kommu­ni­zierten mit Gesten. Ihm dämmerte: Schöne, geklonte Welt.

Jetzt hatte ihn eine der kleinen Service­frauen entdeckt. Sie machte ihre Kollegen auf ihn aufmerksam, sie kamen zu ihm, bestaunten ihn, umstellten ihn und schleppten ihn in eine Abstell­kammer. Dort ließen sie ihn liegen. Er berap­pelte sich, checkte seine Situation. Eigentlich war das hier ein gutes Versteck, nur allzu viel beobachten konnte er von hier aus nicht.

Während er noch nachdachte, was er am besten unter­nehme, kam ein Zwillingspaar Typ Bodyguard auf sein Versteck zu, drang ein und besprühte ihn von oben bis unten. Im Nu erstarrte er und wurde mehr und mehr von einem Eispanzer überzogen. Am Kopf und an den Füßen schlugen sie ihm schließlich Griffe ein und trans­por­tierten ihn an einen Ort totaler Finsternis. Ihn, der so schnell fror, in Eis legen – das war bösartig. Jetzt wollte er den Chef sprechen, der hier den ganzen Paradiesspuk zu verant­worten hatte. Und der Chef erbarmte sich.

Wohlig warm war Hirschberg, als er auf einer sonnen­be­schie­nenen Terrasse sich seiner wieder bewusst wurde. Er hatte ein Sektglas in der Hand. Um ihn herum fast normale Menschen, in Gruppen zusam­men­stehend. Aus der nächst­ste­henden Gruppe löste sich ein statt­licher Mann, kam mit seinem Sektglas voraus auf ihn zu, stieß mit ihm an und rief mit hallend lauter Stimme: „Willkommen in unseren Gefilden!“ Und dann in normalem Tonfall: „Sie Irrläufer!“

„Wieso Irrläufer?“

„Na, das haben Sie doch wohl selbst gemerkt, dass Sie in unserer Paradies­land­schaft unange­bracht waren. Da Sie hier auf dieser Terrasse ja schon mal gestanden haben – damals aller­dings zur Abendzeit – und da drinnen“, er deutete auf die angren­zende Villa hin, „die überheb­liche Frage ‘Ob das denn alles sei?’ gestellt haben, dachte ich mir, wir plaudern da mal ein wenig darüber. Frau Schneider ist gerade in Deutschland. Deshalb haben wir es uns hier für ein paar Tage gemütlich gemacht.“

Der Typ war ihm unheimlich. Ein Salonlöwe wie aus dem Musterbuch, der von ihm offenbar manches wusste, ohne dass er ihn je gesehen hätte.

„Gehen wir in den Garten!“, wurde er aufge­fordert. Sie gingen hinunter und setzten sich auf Deckchairs, die unter einer Palmen­gruppe standen.

Der Mann im weißen Smoking sah ihn forschend an. Dann: „Ich habe über Sie Erkun­di­gungen einge­zogen. Sie sind mit Ihrem Lebenslauf bis ins letzte Detail nunmehr bei uns gespei­chert. Es gibt für Sie kein Entrinnen mehr. Nicht dass ich Sie zu irgend etwas zwingen werde! Sie selbst werden es nicht anders wollen. Denn Sie werden bei uns erleben, dass es das Paradies – andere sprechen von Gerech­tigkeit – schon vor dem Tod und nicht – wie Sie jetzt noch glauben – erst nach dem Tod gibt.“

„War das Ihr Paradies, wo mich Ihre Leute vereist und abtrans­por­tiert haben?“

„Ja so, wie Sie rumlaufen in Ihrer wildwüchsig ungepflegten Gestalt – das ist doch eine Provo­kation! Das hat doch mit dem Stand der heutigen Entwicklung und den daraus resul­tie­renden Daseins­mög­lich­keiten nichts zu tun. Die Menschheit ist weiter, sie kann mehr, als ihr Jenseits-Akrobaten Euch das auch nur vorstellen könnt.“

„Wenn das alles ist: junge schöne Menschen, Spiel und Spaß, nachge­machte Natur, Wohlge­rüche und über dem Ganzen ein Musikschleier!“

„Schon wieder diese Überheb­lichkeit! Seien Sie doch realis­tisch: Die Menschen möchten gut essen und gut trinken, sie möchten gut aussehen, sie möchten jung bleiben, sie möchten sich wohlfühlen, sie möchten nicht allein sein, sie möchten freie Liebe. All das schaffen wir. Und gäbe es da nicht die ewig gestrigen, die Konser­va­tiven, die Zukunfts­ver­wei­gerer, dann hätten wir schon längst der Mehrheit der Menschen die Erfüllung all ihrer Wünsche beschert.“

„Vereisen Sie doch einfach alle, die Ihnen nicht passen!“

„Dann müssten wir statt in Paradies-Anlagen in Kühlhäuser oder – das ginge auch – Krema­torien inves­tieren. Doch: Wir breiten uns ganz von allein und unauf­haltsam aus. Ohne jeden Zwang. Sie kennen das: Zufriedene Kunden sind die beste Werbung.“

„Mit ein wenig Zwang ginge es aber doch sicherlich noch schneller, Ihre Menschheitsbeglückung.“

„Nicht so spöttisch, Sie Träumer. Wir haben zwar alle Mittel, aber wir führen keine Science Fiction-Kriege. Uns fällt das alles von selbst zu. Sie sehen doch, wir, die Spitze der Mensch­heits­be­wegung, verhalten uns ganz normal entspre­chend den Lebens­wün­schen der Mensch­heits­mehrheit. Dafür haben wir nicht zuletzt die Gentechnik zu voller Anwendung gebracht.“

„Sie meinen, die geklonten Schön­linge wären normale auf immerdar glück­liche Menschen?“

„Genau das!“

„Die lallen doch nur noch.“

„Die können auch nicht mehr lesen! Geschweige denn schreiben! Die sind mit Fernsehen zufrieden. Dabei haben wir denen das alles, was Sie vielleicht Verblödung nennen, gar nicht aufge­zwungen – ich wiederhole: Wir sind keine Science Fiction-Despoten, wie es viele schlechte Filme und Fernseh­serien zeigen – wir stabi­li­sieren nur dauerhaft, wozu sich die meisten Menschen schon selbst gemacht haben: nicht lesen, nicht schreiben, keine geistig anspruchs­vollen Gespräche, gut aussehen, nicht alt werden, immer gesund sein, lecker und reichlich essen und trinken, Musik mal fetzig mal zum Kuscheln – das bieten wir als Dauer­zu­stand. Die Menschen geben uns alles, was sie haben, liefern sich uns aus, nur um in diesem Dauer­glücks­zu­stand zu leben.“

„Sterben Ihre glück­lichen Menschen denn nicht?“

„Doch, aber plötzlich. Wenn ihr Genpro­gramm abgelaufen ist, macht es klick. So wollen sie es alle haben. Das ist Teil ihrer Glücks­vor­stel­lungen: Kein sinnloses Leiden, nicht anderen als Greis zur Last fallen, sondern das Leben mit seinen besten Jahren genießen – ist doch heute alles machbar! Am Strand heute waren Sie eine Provo­kation ältlicher Hässlichkeit. Deshalb mussten wir Sie aus dem Verkehr ziehen, vereisen.“

„Verstehe ich richtig: Kinder und Greise kommen bei Ihnen nicht vor?“

„Auch hier machen wir nichts, was die Menschen nicht schon freiwillig getan hätten. Oder sollte es Ihnen entgangen sein, dass Kinder in den letzten Jahrzehnten nur noch lästig waren. Man sprach doch schon von der kinder­losen Gesell­schaft. Wir haben die Menschen von der Eltern­ver­pflichtung entbunden. Sie können ihre sexuellen Neigungen in jedweder Form ausleben, mit der Arterhaltung hat das nichts mehr zu tun. Arterhaltung regeln wir nach den Ideal­vor­stel­lungen vom schönen und ewig jungen Menschen. In unseren Inkar­na­ti­ons­zentren werden fertige erwachsene Menschen geboren, keine mensch­lichen Frühge­burten, die mühsam hochge­päppelt und erzogen werden müssen. Das können wir mit unseren Mitteln wesentlich besser und ohne jede gesell­schaft­liche Belastung. Wir schaffen menschen­wertes Leben. Perfekt.“

„Dürfen Ihre inkar­nierten Lebewesen, können diese Schön­heits­typen selbständig denken?“

„Sie wollen es nicht! Und deshalb können sie es auch nicht. Dürfen dürften sie es jederzeit. Oder glauben Sie etwa, vor unserer Zeit hätten die Menschen nichts lieber getan, als selbständig zu denken? Das hat es zu keiner Zeit gegeben. Sie sind da vielleicht eine Ausnahme – und damit schon wieder provozierend.“

„Und wenn die Menschen, Ihre Menschen klick-tot sind, was ist dann mit ihnen? Nur ein Entsorgungsfall?“

„Ja, wir entsorgen – aber alles andere überlassen wir dem lieben Gott.“

„Für Sie gibt es Gott?“

„Das ist nur so eine Redewendung. Die Frage stellt sich heute für die meisten Menschen nicht mehr. Sie fühlen sich gut, das genügt ihnen. Was nach dem Tod ist, inter­es­siert sie nicht.“

Der Sonnengott strahlte Hirschberg an: Golduhr am linken Handgelenk, Goldkette am rechten, am Mittel­finger der rechten Hand Goldring mit funkelndem Rubin, am Hals schwere Goldkette mit Kreuz – er trug ein offenes schwarzes Hemd unter der weißen Smoking­jacke. Seine großen Ohrlappen waren mit Diamanten besetzt. Er trug pechschwarze Haare straff nach hinten durch eine Goldschlaufe gezogen, dann als Pferde­schwanz bis auf die Schultern fallend. Glattes Gesicht mit buschigen schwarzen Augen­brauen über den großen stahl­blauen Augen. Kräftige Gestalt. Hirschberg klopfte auf den Busch: „Sie sind einiges älter als die Leute, die ich am Strand gesehen habe!“

Der Prahlemann augen­zwin­kernd: „Na ja, die Führungs­spitze genehmigt sich halt ein paar Jahre mehr.“

Hirschberg: „Wieso tragen Sie ein Kreuz an Ihrer Halskette?“

„Kleine Reminiszenz an all die Jahrhun­derte, in denen es den Menschen noch dreckig ging und sie nur in der Hoffnung überlebten, dass es nach dem Tod Gerech­tigkeit und ewige Glück­se­ligkeit gäbe.“

„Ist Ihr Paradies schon so perfekt, dass Sie sich Weiter­ent­wick­lungen sparen können?“

„Eigentlich geht es nur noch um die endgültige Ausbreitung – eine Frage der Zeit. Retar­die­rungen entstehen durch Typen wie Sie, die sich unseren Maßnahmen zur Stabi­li­sierung der Selbst­re­duktion der Menschen entziehen. Menschen, deren Lebens­freude im Nachdenken besteht, lassen sich nicht diesseitig glücklich machen.“

„In Ihren Paradies­an­lagen ist es doch stinklangweilig!“

„Das könnte in Ihrem Himmel auch der Fall sein. Sie haben es nicht mitbe­kommen: Wir bieten unseren Menschen Abwechslung. Wir veran­stalten Kreuz­fahrten mit allem erdenk­lichen Luxus, wir laden ein zu Jetreisen mit Ausflügen in vergangene Zeiten – und immer haben wir Anima­teure dabei.“

„Bogen­schießen, Bingo, Tanzen …“

„Sehen Sie, wir verstehen uns. Wir organi­sieren aber auch Kathedralen-Besichtigungen.“

„Und was erzählen Sie den Leuten da?“

„Über den Aberglauben der Vorfahren und die zugehörige Kunst­ge­schichte. Die Teilneh­mer­zahlen sinken aller­dings. Weitere kritische Fragen?“

„Ich würde mir gerne noch weitere Anlagen von Ihnen ansehen, die Menschen dort befragen, an einer der Kreuz­fahrten und an einer Kathe­­dralen-Besich­­tigung teilnehmen.“

„Sie haben selbst schon bemerkt, dass die Leute in ihrer Glück­se­ligkeit bei uns nur noch lallen können. Wie wollen Sie die befragen? Ich weiß, was Sie reizt: Sie wollen den Knack­punkt bei uns finden, das Haar in der Suppe, die Schwach­stelle. Sie werden nichts finden. Denn das System ist wasser­dicht dank der Reduktion. Gerech­tigkeit gibt es nur in der Reduktion der Menschheit auf die Gleichheit. Der Sozia­lismus wollte das zuerst mit gesell­schaft­lichen Mitteln erreichen, dann mit Gewalt. Ein Irrweg! Wir haben den einzig richtigen Ansatz­punkt gewählt: Gleicher Wohlstand für alle. Dann reduzieren sich die Menschen selber ohne jeden Zwang. Keiner braucht sich mehr anzustrengen, niemand muss noch etwas lernen. Mehr, als sich ununter­brochen satt essen, geht nicht. Trinken geht nur bis zum Umfallen …“

„Lassen sich die Genuss­schwellen denn nicht gentech­nisch verschieben?“

„Er denkt schon mit! Großartig! Na klar doch. Aber auch hier reduzieren wir eher, als dass wir hinaus­schieben. Das Ganze muss sich ja auch irgendwo rechnen.“

„Aha! Hab’ ich’s doch geahnt! Der Kapita­lismus ist im Spiel. Er schafft, was dem Sozia­lismus daneben gegangen ist.“

„Sie haben es erfasst. Ich wusste, dass es Spaß machen würde, sich mit Ihnen zu unter­halten. Wir müssen uns eben doch ein paar Außen­seiter erhalten.“

„Sind Sie ein glück­licher Mensch?“

„Dazu bin ich nicht reduziert genug. Das ist der Nachteil einer Führungs­funktion: Wir müssen für die anderen denken. Doch es macht insgesamt Spaß. Für die Masse der Menschen den ultima­tiven Glücks­zu­stand schaffen zu dürfen, das ist ein Privileg. Dazu hat die natur­wis­sen­schaft­liche Forschung uns alle Mittel an die Hand gegeben, und täglich kommen neue Möglich­keiten hinzu. Außerdem leisten Fernsehen, Diskos, Arbeits­lo­sigkeit und nicht zuletzt das sozia­lis­tisch geprägte Schul­system beste Vorarbeit. Die Leute wollen nicht nachdenken, Herr Hirschberg! Wir, die wir die Führung der Bewegung inne haben, dürfen unsere Intel­lek­tua­lität und unseren Charakter nur soweit reduzieren, wie es die Führungs­auf­gaben zulassen. Das ist unsere Aufgabe: die richtige Dosierung der Reduktion bei uns und den anderen.“

„Sind Sie der Boss?“

„Wir haben uns das aufge­teilt. Ich bin für die Außen­kon­takte in Europa zuständig. Deshalb muss ich den größten Glücks­ver­zicht leisten. Aber wir haben Rotation. In einem Jahr komme ich in ein anderes Programm.“

„Wer legt das fest?“

„Unser Board of Governers in L.A.“

Hätte ich mir doch denken können. Wie viele Schau­spieler sind bei Ihnen Mitglied?“

„Kein Schau­spieler, Sänger oder Enter­tainer auf der Welt kann es sich mittler­weile leisten, nicht bei uns verant­wort­liches Mitglied zu sein.“

„Können Ihre verschieden reduzierten Menschen noch lieben? Haben Sie zum Beispiel eine Frau? Sind Sie verheiratet?

„Liebe? Was ist das? Soweit es sich um Sexua­lität handelt, gibt es bei uns kein Tabu. Mehr als Sexua­lität brauchen die Menschen nicht, wollen Sie nicht. Gäbe es bei uns Bedarf an Liebe, hätten Sie das Haar in der Suppe gefunden. Aber das haben wir eben wegre­du­ziert. Bei der Festlegung der Bedürf­nis­schwelle muss das beachtet werden, sonst funktio­niert es nicht. Denn Sehnsucht nach Liebe ist durch Unerfüll­barkeit gekenn­zeichnet. Würden wir sie als Bedürfnis zulassen, hätten wir sofort die Frage nach Gott und dem Jenseits virulent.“

„Und der Board in L.A. legt die Grenzen fest!“

„Sie kapieren aber schnell!“

„Das ist die Übung des Nachdenkens.“

„Spielen Sie sich nicht auf. Sie hatten vorhin den Wunsch geäußert, sich bei uns umsehen zu dürfen. Ich kann das arran­gieren. Aber als Gegen­leistung müssten Sie uns erlauben, dass wir uns mit Ihrem Gehirn ein wenig beschäf­tigen. Unsere Forscher sind sehr daran inter­es­siert, noch mehr über die Funkti­ons­weise der Intel­lek­tua­lität heraus­zu­finden und ihr Zusam­men­spiel mit den Gefühlen. Das wäre nützlich für die weitere Ausdif­fe­ren­zierung der Reduktion, für die Festlegung von Zeitspannen, von automa­ti­schen Verän­de­rungen in bestimmten Phasen­ab­läufen, für die Zulassung von Toleranzen etc. Da es immer weniger frust­be­reite Außen­seiter wie Sie gibt, wäre uns sehr daran gelegen, wenn Sie uns zur Verfügung stünden!“

Das war Hirschberg zu viel. Jetzt wurde es gefährlich. Nein, in die Hände von Reduk­ti­ons­for­schern wollte er sich nicht geben.

Hirschberg erwachte. Er schwitzte und hatte Kopfschmerzen. Er sah auf die Uhr: In einer Stunde war die Schneider mit ihrem Professor da. Er hatte total verschlafen. Mit Strammem Max war jetzt nichts mehr. Er ging runter ins Bad, machte sich frisch und fuhr zum Konditor Teilchen holen.

Frau Schneider und der Kunstprofessor

… viele gut situierte Leute … was mir nicht gefällt … natürlich ein
Laienstandpunkt … Vermögenswert mit Prestigeeffekt …

Da saßen sie vor ihm auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer: das Senioren-Pärchen aus Mallorca. Sie üppig in einem lindgrünen Hosen­kostüm, Schmuck an Fingern, Handge­lenken, Hals und Ohren. Das etwas faltige Gesicht braun gebrannt. Stirn, Wangen und Nase leicht gepudert. Einiges an Schminke. Deoduft verströmend. Die wachen Augen fest auf Hirschberg gerichtet.

Er, der Professor, eine hagere Gestalt. Mittel­glatze mit grauen Haaren rechts und links, rotweißgrau melierter Vollbart. Nickel­brille. Flanellhemd, Jackett, Jeans. Er erläu­terte seine Vorstel­lungen: „Wir meinen, wir leben in einer Kultur­ge­sell­schaft und sind in einem Alter, wo die Sorgen des Alltags einen nicht mehr so fordern. Wir haben Zeit und Muße, uns den schönen Dingen des Lebens zu widmen. Ich hatte das Glück, dies mein Leben lang tun zu können, nämlich mich mit den Schönen Künsten zu beschäf­tigen. Jetzt, da ich emeri­tiert bin und auf Mallorca lebe, tue ich das noch inten­siver als vorher; jetzt ohne die Bürokratie und die anderen Widrig­keiten, mit denen eine Hochschul­ver­waltung einen traktiert. Auf der Insel habe ich bereits mehrere Bekannte, die sich nach einem arbeits­reichen Leben, in dem sie es zu einigem Wohlstand gebracht haben, nunmehr mit Kunst befassen. Ich berate sie dabei. So habe ich übrigens auch Frau Schneider kennen­ge­lernt.“ Die beiden sahen sich wie ein verliebtes Paar an.

Hirschberg: „Und was wollen Sie jetzt gemeinsam unternehmen?“

Professor: „Ich bin der Überzeugung, dass es großen Anklang finden würde, Vorle­sungen, kleine Seminare und Exkur­sionen zu kunst­ge­schicht­lichen Themen anzubieten.“

Hirschberg: „Die Ballermann-Touristen bekommen Sie da aber nicht hin!“

Professor: „Nein, da habe ich auch keinerlei Interesse dran. Aber auf Mallorca wohnen mittler­weile viele gut situierte Leute. Viele Unter­nehmer haben einen ihrer Wohnsitze dort. Wohlha­bende Ruheständler residieren auf der Insel. In den Vier- und Fünf-Sterne­hotels suchen gestresste Manager Ruhe und Entspannung. Das sind keine Menschen, die nur faul rumliegen wollen, die wollen auf andere Gedanken kommen, sich anregen lassen – in diesem herrlichen Klima, in dieser wunder­schönen Landschaft. Das ist genau die Umgebung, in der die Menschen aufge­schlossen sind für das Schöne auf der Welt. Nicht von ungefähr entstammen die meisten der großen Künstler dem mediter­ranen Lebensraum. Denken Sie nur an die großen Spanier der jüngsten Vergan­genheit: Picasso, Dali, Miró…“

Die Schneider: „Jetzt gerät er ins Schwärmen. Aber er hat recht. Früher habe ich mich nie für Kunst inter­es­siert. Heute kann ich nicht genug davon bekommen.“

Hirschberg: „Für Ihren Mann wird das aber teuer!“

Die Schneider: „Ich will ja nicht unbedingt kaufen. Selbst wenn ich das Geld hätte – die wirklich wertvollen Stücke kommen doch nur gelegentlich auf den Markt. Aber wir zwei fliegen demnächst nach London zu einer Verstei­gerung. Ich will das inter­es­se­halber mal mitge­macht haben.“

Hirschberg: „Wenn Sie erst mal Blut geleckt haben …“

Die Schneider: „Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind außerdem für was anderes hier. Was halten Sie davon: Vorträge, Gespräche und Kunst­aus­flüge? Sie kennen die Insel ja auch ein bisschen. Verstehen Sie was von Kunst?“

Hirschberg: „Ich weiß, was mir gefällt und was mir nicht gefällt. Ich bin so frei, in Fettecken, Stein­haufen und Farbspritzern keine Kunst zu sehen. Ich ärgere mich, wenn Museen für solche vorgeb­lichen Kunst­werke meine und anderer Leute Steuer­gelder ausgeben.“

Professor: „Ich verstehe Sie. Aber das ist – erlauben Sie – natürlich ein Laien­stand­punkt. Das muss man sicherlich diffe­ren­zierter sehen.“

Hirschberg: „Einver­standen. Sie sind der Fachmann. Was kaufen denn die Leute, die Sie beraten?“

Professor: „Zunächst sehe ich mich um, womit die Menschen, die meinen Rat suchen, sich umgeben.“

Er blickte sich in Hirsch­bergs Wohnzimmer um, ohne erkennen zu lassen, was das für einen Eindruck auf ihn machte. Hirschberg dachte, so sparta­nisch und zeitlos, wie das ist, muss er schon die Kunst des Weglassens bewundern oder mich für ärmlich halten.

Der Professor fuhr fort: „Dann unter­halte ich mich mit den Inter­es­senten über das, was für sie wichtig ist im Leben, was ihnen das Leben angenehm macht, was als schön, als anregend, als provo­zierend, als ästhe­tisch empfunden wird. Nach dem, was mir Frau Schneider von Ihnen erzählt hat, müssten Sie in Ihrer Arbeit ähnlich vorgehen: Zuerst die Situation erfassen und dann die Menschen, die sie gestaltet haben, kennenlernen.“

Hirschberg: „Nun gut, aber was raten Sie denn beispiels­weise der Frau Schneider, deren Villa Sie ja sicherlich mit ihren Räumlich­keiten kennen­ge­lernt haben? Originale, die ihr gefallen würden, gibt es ja kaum noch – wie ich eben gehört habe.“

Professor: „Es gibt schon noch Originale! Auch von alten Meistern. Von zeitge­nös­si­schen Künstlern gibt es viele wunder­schöne Werke zu kaufen. Aber da muss man sich eben auskennen, Kontakte haben, Galerien besuchen. Mancher hervor­ra­gende Künstler ist oft noch ein richtiger Geheimtipp. Wer Kunst nur mit dem großen Namen verbindet, ist in der Regel unsicher oder kauft Kunst als Vermö­genswert mit Prestigeeffekt.“

Hirschberg: „Der Öffent­lichkeit werden durch diese Käufer die Kunst­werke entzogen. Der wahre Sammler mag sich ja daran ergötzen, recht­zeitig einen echten Dali erworben zu haben – wenn er denn echt ist –, aber die meisten Käufer wollen damit doch nur andere beein­drucken. Die Gäste sollen staunen und den Hausherrn beneiden.“

Professor: „Dali war das – schätze ich – egal. Aber Sie haben recht. Kunst, zumindest die große, allgemein anerkannte Kunst, die Ausdruck einer Zeit, einer Epoche, einer großen Künst­ler­per­sön­lichkeit ist, sollte der Öffent­lichkeit zugänglich sein. Das ist nichts für’s Kamin­zimmer und auch nichts für die Vorstands­etage. Die Repro­duk­ti­ons­mög­lich­keiten sind heute hervor­ragend. Deshalb bin ich dafür, dass Mäzene, Sammler, Kunst­freunde sich eine Repro­duktion machen lassen und das Original einem Museum zur Verfügung stellen. Dort wird es erstens sachge­recht aufbe­wahrt, katalo­gi­siert und ausge­stellt; zweitens ist es dort viel sicherer aufge­hoben als in einem noch so gesicherten Privat- oder Bürohaus.“

Hirschberg zu Frau Schneider gewandt: „Also: Original eines zeitge­nös­si­schen völlig unbekannten Künstlers oder Repro­duktion der Mona Lisa in der sala d’estar und im Park ein Abguss von Amor und Psyche.“

Die Schneider: „Lassen Sie die Ironie, Sie Laie. Ich bin noch unent­schieden; noch kenne ich nicht genug. Aber ich beschäftige mich damit – unter sachkun­diger Anleitung. Wenn ich dann irgendwann etwas hängen habe, dürfen Sie kucken kommen.“

Hirschberg: „Das werde ich mir nicht nehmen lassen! – Tässchen Kaffee und Kuchen gefällig?“

Die Schneider: „Ich darf ja nicht! Aber machen Sie mal. Brauchen Sie Hilfe?“

„Es ist alles vorbe­reitet, nur der Kaffee muss noch durchlaufen.“

Hirschberg servierte die Teilchen, holte nach einer Weile den frisch aufge­schüt­teten Kaffee und schenkte ein. Zucker? Milch? Ohne? Sein Kaffee wurde gelobt, auch sein Konditor.

Zwischen zwei Bissen kam von ihr dann die Frage: „Können wir mal zur Sache kommen? Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, hat der Professor die Idee, in Palma eine Reihe von Vorträgen über Kunst anzubieten. Wir haben bei mir schon mal eine kleine Testver­an­staltung gemacht – das ist sehr gut angekommen. Aber ich möchte das in Palma nicht so drauf los machen. Nach dem Motto: Klappt’s, ist es gut, klappt’s nicht, vergessen wir‘s. Das muss klappen! Schließlich kennen mich viel zu viele Leute, so dass ein Flop rufschä­digend wäre. Übrigens will mein Mann das finan­zieren. Er verspricht sich Image­gewinn davon. Also kann ich mir einen Misserfolg nicht erlauben. Und Sie sollen uns das organisieren.“

Hirschberg: „Ich bin doch kein Veranstaltungsmanager!“

Die Schneider: „Personal- und Organisationsberater!“

Hirschberg: „Ja, aber das ist doch etwas anderes, als Sie vorhaben!“

Die Schneider: „Dann sind wir bei Ihnen an der falschen Adresse? – Wir wollen wissen, mit wie vielen Leuten wir rechnen können, wie wir die erreichen, welche Themen für die inter­essant sind, wo man so etwas am besten veran­staltet – verstehen Sie, all die Sachen, die man vorher überlegen muss, damit ein Erfolg daraus wird.“

Hirschberg: „Ja natürlich, ist mir schon klar. Da muss so etwas wie Markt­for­schung gemacht werden, eine Werbe­aktion und so weiter. Aber zuallererst muss ein Konzept gemacht werden, aus dem genau hervorgeht, was Sie wollen. Das Konzept für Sie zu machen, würde mich reizen.“

Die Schneider: „Wusste ich doch, dass Sie der richtige Mann sind. Wie lange brauchen Sie?“

Hirschberg: „Wann wollen Sie denn loslegen?“

Die Schneider: „Spätestens im Herbst!“

Hirschberg: „Für das Konzept reicht das. Aber was dann kommt, braucht auch noch Zeit.“

Die Schneider: „Das schaffen Sie!

Hirschberg: „Und es kostet auch ein paar Mark.“

Die Schneider: „Das regeln Sie bitte mit meinem Mann. Ich habe ihm gesagt, dass Sie ihn anrufen.“

Hirschberg: „Und die Ausführung des Konzepts müssten andere machen.“

Die Schneider: „Wann glauben Sie, dass Sie mit dem Konzept fertig sind? Soviel Arbeit kann das doch nicht sein!“

Hirschberg: „Vier Wochen müssen Sie mir schon geben. Ich muss das ja irgendwie noch zwischen die bereits geplanten Arbeiten bekommen, und sicherlich sind auch einige Recherchen notwendig.“

Die Schneider, ganz Auftrag­ge­berin: „In vier Wochen. Was wir uns vorstellen: Kunst­ver­ständnis wecken und vermitteln!“

Hirschberg: „Wollen Sie es denn auf Schöne Künste begrenzen? Ich könnte mir denken, wenn wir das Angebot etwas breiter anlegen, also zum Beispiel auch Musik einbe­ziehen, ist der Kreis der Inter­es­senten größer.“

Professor: „Aber ich bin nun mal nur bewandert in den Schönen Künsten. Man müsste dann noch andere Leute hinzunehmen.“

Die Schneider: „Das ist die Frage. Musik­abende mit sachkun­diger Einführung in die jewei­ligen Stücke – das könnte ich mir auch gut vorstellen…“

Hirschberg: „…oder einen Tanzabend!“

Die Schneider: „Worauf wollen Sie anspielen? Dass ich mal so etwas, wenn auch nur im Karneval, gemacht habe?“

Hirschberg: „Sie wären die Expertin.“

Die Schneider: „Man kann sich noch viel vorstellen. Das ist dann letztlich eine Frage der Größen­ordnung. Wie weit mein Mann finan­ziell gehen will, müssten Sie abklären. Wenn für ihn ein Presti­ge­gewinn dabei rauskommt, wird er schon einiges inves­tieren. Versuchen Sie es heraus­zu­finden. Aber zunächst einmal muss uns beiden Ihr Konzept gefallen. Können wir einen Termin ausmachen, wann Sie uns Ihre Vorstel­lungen präsentieren?“

Jetzt hatte er sie weit genug, dachte Hirschberg. Denn für ein paar Vorträge machte man kein Konzept, die machte man einfach – eine Erfolgs­ga­rantie könnte ernsthaft niemand geben. Unter­neh­mer­risiko. Als Berater konnte er die Sache jetzt etwas kreativer angehen. Nun war der Auftrag reizvoll. Sie verein­barten einen Termin.

Die Schneider: „Kämen Sie für die Präsen­tation auch nach Mallorca?“ Und ob sie ein paar Leute dazu einladen dürfe. Es ginge bei ihm an einem Wochenende, und wahrscheinlich würde er eine Assis­tentin mitbringen, ob das recht sei. Kein Problem, sie freue sich auf das Wieder­sehen in Mallorca, sie sei sehr gespannt. Noch ein paar Höflich­keiten zum Schluss, und Hirschberg verab­schiedete die Beiden.

Wieder in seinem Büro notierte er: 1. Morgen bei Schneider wegen eines Termins anrufen, 2. Ideen sammeln, was gemacht werden könnte und 3. Katha fragen, wo sie in vier Wochen sei und Lust habe, ihn zu einer Präsen­tation auf Mallorca zu begleiten.

Büroarbeit und Küchenstunde

… auf dem Teppich bleiben … auf der Herdplatte … 
auch nicht lernen … das Leben als Egotrip

Frau Michalski saß schon am Computer, als Hirschberg am späten Morgen ins Büro kam. In der Nacht hatte er lange gearbeitet. Trotz des späten Aufstehens fühlte er sich jetzt keineswegs ausge­schlafen. In den kommenden Wochen musste er zu einem diszi­pli­nierten Dreischichttag kommen, sagte er sich: Morgens drei Stunden, nachmittags drei Stunden und abends drei Stunden, reine Arbeits­zeiten. Nur so würde er sein Arbeits­pensum schaffen. Er hatte sich vorge­nommen, sein Buch jetzt in kürzester Zeit zu schreiben, es seinem Verlag, der Interesse gezeigt hatte, sowie weiteren Verlagen, die er noch auswählen musste, anzubieten.

Michalski: „Für heute Mittag habe ich zwei Forellen gekauft. Sie mögen doch Fisch? Dazu machen wir Kartoffel, Buttersoße mit Mandeln und einen Salat. Einverstanden?“

„Einver­standen. Ich freue mich auf unsere gemeinsame Küchen­arbeit. Ich brauche wieder mehr Disziplin in meinem Tages­ablauf.“ Dann erzählte er ihr von dem Gespräch mit Frau Schneider und ihrem Professor.

Schneider anrufen! Im Moment nicht zu sprechen. Worum es denn gehe? Man würde zurück­rufen. Der Rückruf kam gegen Mittag. Ja, da habe sich seine Frau etwas in den Kopf gesetzt. Bloß gut, dass sie ihn, Hirschberg, einge­schaltet habe, und nicht versuche, die Sache alleine in die Hand zu nehmen. Er solle nur ja dafür sorgen, dass sie auf dem Teppich bleibe und das Ganze Hand und Fuß habe. Einem Professor den Lebens­abend mit saftigen Honoraren zu versüßen, das habe er nicht vor. Wie ihm der Rauschebart mit Nickel­brille denn vorge­kommen sei? Hirschberg: Ein Dummkopf sei er wohl nicht. Zumindest mache er den Eindruck, sich in seinem Fach auszu­kennen. Vielleicht ein gebil­deter Mensch. In der Erscheinung durchaus interessant.

Schneider: Hirschberg müsse verstehen, dass er misstrauisch sei gegenüber Leuten, die auf anderer Leute Kosten etwas unter­nehmen wollten. Wenn der Professor es auf eigenes Risiko täte, wäre er sehr dafür. Aber der habe sich offenbar mit seinem Immobi­li­enkauf auf Mallorca übernommen. Jetzt wolle er vielleicht seine finan­zielle Situation aufbessern. Da sei ihm seine Frau gerade zum richtigen Zeitpunkt über den Weg gelaufen. Vielleicht ließe sich aus dem Vorhaben eine vernünftige Sache entwi­ckeln. „Ich stelle Sie jetzt zurück in mein Vorzimmer. Machen Sie mit den Damen dort bitte einen Termin aus, damit wir alles mal durch­sprechen können.“

Weg war er. Ihm würde schon etwas einfallen, dachte sich Hirschberg. Seine Aufgabe lag darin, Geld und Geltungs­drang des Herrn Schneider mit dem Eifer und dem Taten­drang seiner Frau und ihres Professors mittels zündender Ideen zusammenzubringen.

Kochstunde: Forellen. Zuerst die Kartoffeln waschen, große halbieren; in den Schnell­kochtopf etwas Wasser unter den Einsatz, Kartoffeln rein, auf die Ceran­platte, etwa sechs Minuten bei leichtem Ventil­zi­schen. Dann den Kopfsalat. Erst die Soße: Öl und Zitro­nensaft, Salz, Zucker, Trocken­kräuter, saure Sahne dazu und alles gut verrühren; Salat­blätter unter fließendem Wasser säubern, klein reißen und in die Soße, durch­heben. Kartoffeln aus dem Schnell­kochtopf, Haut abziehen – ohne sich die Finger zu verbrennen! –, in die Schüssel, etwas Salz drüber, Peter­silie dazu. Jetzt erst die beiden Fische: Mit Öl bestreichen und in die Grill­wanne legen, in den Grill­backofen schieben. Parallel Butter in kleiner Pfanne auf der Herdplatte verflüs­sigen und Mandel­splitter dazu geben. Gartest der Fische mit einer Gabel – die Gabel lässt sich leicht einstechen –, raus mit der Wanne, Fische wenden und Wanne wieder rein.

„Sie können schon den Tisch decken!“, sagte Frau Michalski. Und: „Wenn Sie im Keller noch einen halbtro­ckenen Weißwein haben, hätten wir zu Beginn gleich ein Festessen.“

„Ich gehe nachsehen, aus der Südpfalz müsste ein passender Tropfen da sein!“

Hirschberg saß mit Frau Michalski beim Festessen. Er sagte: „Frauen können sich im Alter, glaube ich, besser helfen als Männer. Sie sind mit den lebens­er­hal­tenden Fertig­keiten besser vertraut als Männer.“

Sie: „Früher lernten Frauen das Kochen von ihren Müttern. Das hat sich geändert. Meine Tochter kann nicht kochen. Und sie will es auch nicht lernen. Sie sagt, wenn sie später mal mit einem Mann zusam­menlebe, wolle sie es gemeinsam mit ihm lernen, aber nicht vorher. Dann bliebe es doch nur an ihr hängen. Regel­mäßig zuhause kochen, käme für sie sowieso nicht infrage, nur als gemein­sames Hobby mit ihrem Partner.“

„Dann will sie vermutlich auch keine Kinder großziehen!“

„Nein, das sei nichts für sie. Windeln wechseln, Flasche halten, tu dies nicht, tu das nicht – nein. Das wäre nichts für sie, so ihre Meinung. Sie habe einen Beruf gelernt, und der mache ihr Spaß, und den wolle sie ausüben. Eine Mutter gehe an ihr sicher nicht verloren. Und die Menschheit sei ja gewiss nicht vom Aussterben bedroht.“

Was die Tochter denn beruflich mache, wollte Hirschberg wissen.

„Sie ist Produkt­ma­na­gerin in einer Kosmetikfirma.“

„Große weite Welt. Werbe­kam­pagnen. Jung, aktiv. Immer gut riechen.“

„Sie ist offenbar sehr tüchtig. Jeden­falls tut die Firma alles, um sie zu halten. Als die Konkurrenz sie abwerben wollte, hat man ihr das Gehalt gleich angehoben!“

„Ich kann so junge Frauen verstehen. Anerkannt, erfolg­reich, selbst­sicher. Sie können mit Leuten umgehen, haben Macht und Einfluss, werden beneidet, verdienen viel Geld, kommen viel rum. Ich könnte mir denken, dass Ihre Tochter Ihr Leben dagegen etwas dürftig findet.“

„Sie meint, ich gehöre eben noch zu einer vergan­genen Zeit, würde das Leben nur aufgrund der Beschrän­kungen kennen, unter denen ich groß geworden sei. Mit ihr darüber zu disku­tieren, dass man das gar nicht als Beschränkung sehen muss, wenn man einen Haushalt führt und Kinder großzieht, ist zwecklos.“

„Das ist die Gefahr heute: Die Lebens­mög­lich­keiten des Augen­blicks sind so groß für die jungen Leute, dass sie ihr Leben nicht mehr als Lebens­einheit erkennen. Alles wird nur unter dem Gesichts­punkt der Aktua­lität wahrge­nommen. Der Moment erfordert ihre ganze Aufmerk­samkeit, in ihm entfaltet sich ihre ganze Vitalität. Und sie vertrauen darauf, dass sie alle Probleme des Lebens lösen können, wenn es jeweils so weit ist. Leben als Abfolge von erfüllten und ausge­lebten Augen­blicken. Mutter sein ist altmo­disch, weil es Geduld erfordert, auf Zukunft angelegt ist, dem Prozess des Wachsens dient, Leiden mit sich bringt, Verzicht bedeutet, Opfer verlangt, Sorgen bereitet – dem wollen junge Frauen heute ausweichen. Aber ob sich dieses augen­blicks­be­zogene Leben durch­halten lässt – ich bin da skeptisch.“

„Hat Ihre Tochter einen Freund? Will sie heiraten?“

„Heiraten – das ist nur noch eine Show, ein Event. Meine Tochter ist da wie die Ihre: Einen Haushalt führen will und kann sie nicht. Und sich zeitlebens an einen Mann binden, das liegt schon außerhalb ihres Vorstel­lungs­ver­mögens. Unsere Lebensart stirbt aus Frau Michalski! Was wir hier machen, zuhause kochen, ist total überholt, nur noch als Hobby – wie Ihre Tochter sagt – bei dem einen oder anderen Paar denkbar. Wie meine Tochter sich ernährt, weiß ich gar nicht. Sie wäre vermutlich eine der ersten, die auf Pillenkost umstellen würde, wenn es denn diese Ernäh­rungs­weise schon gäbe.“

„Das kommt. Ihnen wäre damit ja auch geholfen. Ich hätte mir dann mein Angebot sparen können.“

„So gefällt es mir aber besser!“

„Wir sind das so gewöhnt. Zum Wohlsein!“ Sie hob ihr Glas.

Hirschberg: „Auf die Vergan­genheit und meine erste Kochstunde! Ich danke Ihnen!“

Hirschberg stieg wieder in sein Büro hoch. Heute Nachmittag würde er an seinem Buchma­nu­skript arbeiten. Aber noch hing er den Gedanken des Gesprächs beim Mittag­essen nach. Man musste als endgültig festhalten, dass die Mehrzahl der jungen Frauen einen Beruf haben wollte, der nur mit ihrer Person zu tun hat – keine Arbeit, die sich auf einen Partner­bezug gründet. Zweitens sehnten sich die jungen Frauen nach einer Kuschel­be­ziehung, die ihre Bedürf­nisse nach Zweisamkeit, mensch­licher Wärme und Sexua­lität ohne lebens­be­stim­mende Konse­quenzen erfüllte. Drittens schließlich strebten sie nach augen­blick­be­zo­gener Entschei­dungs­freiheit, um sich für die unüber­sicht­lichen Möglich­keiten der Zukunft offen zu halten, Festle­gungen nur auf Widerruf.

Und die jungen Männer? Die erschienen Hirschberg weitgehend orien­tie­rungslos. Von ihren Müttern her kannten viele noch „Hotel Mama“. In Ausbildung und Beruf trafen sie aber auf gleich­be­rech­tigte und selbst­be­wusste Frauen, die ihnen schon als junge Mädchen in der Schule fachlich oft überlegen waren. Aufgrund ihrer Geschlech­ter­rolle hatten die Herren keinerlei Bonus mehr. Die Konkurrenz um Lebens­vor­teile war total und wurde mit allen Mitteln ausge­tragen. Einen Rückhalt in der täglichen Ausein­an­der­setzung um Anteile am Wohlstand, wie ihn früher einmal Frau und Familie dem Mann gaben, haben die Single-Herren von heute nicht. Sie waren ständig unter Druck. Das Rollen­vorbild der Eltern war bei der Bewäl­tigung der Anfor­de­rungen untauglich. Lebten die Eltern zusammen, war das eine gestrige Lebensform, in der die alte, von den jungen Frauen abgelehnte Rollen­ver­teilung herrschte; lebten sie getrennt und gingen sie ihre eigenen Wege, hatten Ehe und Familie das Odium des geschei­terten Versuchs einer Partnerschaft.

Der Anspruch der jungen Frauen auf Gleich­be­rech­tigung wurde von den jungen Männern zwar akzep­tiert, die Konse­quenzen daraus wurden jedoch als Bedrohung empfunden. Die Ausein­an­der­setzung damit fiel unter­schiedlich aus: mal unter­würfig, mal machohaft, ein ständiges Hin und Her von Aggres­si­vität und Hinnehmen. Ein ausba­lan­ciertes stabiles Selbst­be­wusstsein mit eigen­ständig gestal­tendem Lebens­impuls ohne vom Geschlecht her dominant bestimmte Rollen­kom­plexe gelang den wenigsten. Die Mehrheit schien Hirschberg unsicher bei der Selbst­suche, da unklar war, was es eigentlich zu suchen galt.

Sollte der Mann tüchtig in seinem Beruf sein und als Single ein prima Freizeit­kumpel? Sollte er Karriere machen sowie verläss­licher Ehepartner und Famili­en­vater sein? Sollte er sich auf die Rolle des Hausmanns einlassen, wenn die Karrie­re­chancen seiner Partnerin besser standen? Sollte er in einer Partner­schaft auf strenge Gleich­be­rech­tigung achten: Im Beruf geht jeder seinen Weg, zuhause wird alles gemeinsam gemacht? Sollte er mehr als phasen­weise Partner­schaften suchen? Oder das Leben als Egotrip sehen?

Hirschberg dachte an seinen Sohn. Der hatte sich am Vorbild seiner Eltern orien­tiert, war dann aber in der verän­derten Wirklichkeit gescheitert. Das hatte er nicht verkraftet. Statt sich der Situation zu stellen und sie zu verar­beiten, war er geflohen. Hirschberg überkam maßlose Trauer. Er sah sich außer­stande, an seinem Text zu arbeiten, weiter­zu­schreiben. Er ging spazieren. Seinen Gedanken ließ er freien Lauf. Beim Gehen pendelte er sich aus, stellte fest, dass er das Leben seines Sohnes würde nicht mehr beein­flussen können.

Auf dem Heimweg: So ein menschen­leeres Haus konnte etwas Bedrü­ckendes an sich haben. Nichts rührte sich, kein Leben. Niemand wartete auf ihn, niemand empfing ihn. Alles ruhte in einem Zustand, der eigenen Gesetzen der Verän­derung und des Alterns folgte: Papier vergilbte, Holz wurde je nach Art im Laufe der Zeit heller oder dunkler, Metall verlor seinen Glanz, was nicht gebraucht und gereinigt wurde, verstaubte, neu war nichts mehr. Hirschberg fühlte sich alt. Am liebsten hätte er sich wie gestern hingelegt. Doch heute überwand er sich und ging an sein Schreibpult. Er wusste: Wenn man erst einmal dem inneren Schwei­nehund nachgab, war man schnell verloren, trieb man ab wie ein Schiff, das Maschi­nen­schaden hat. Er zwang sich, an seinem Buchma­nu­skript zu arbeiten.

Aber er kam nicht weit. Gerd Berger, sein Freund, dessen Wohnung er in Santa Ponça nutzen durfte, rief an. Ein Termin sei plötzlich ausge­fallen. Das sei die Gelegenheit, sich endlich mal wieder zu treffen. Hirschberg war drauf und dran abzulehnen, weil er mit seiner Arbeit ins Hinter­treffen kam, sagte dann aber dennoch zu. Sie verab­re­deten sich zum Abendessen.

Abendessen mit Freund Berger

… Klatsch und Tratsch von der Insel … würde ich mir doch nicht
entgehen lassen … Flüsterpropaganda machen

Berger und Hirschberg kamen bald auf die Schneider zu sprechen. Das mit dem Professor war schon allseits bekannt. Beide waren unsicher, was es mit der Beziehung auf sich hatte. Ob die Schneider etwa in ihrem Alter nochmal Feuer gefangen habe oder ob sie nur die Gelegenheit für gesell­schaft­liche Auftritte suchte. Die Inter­essen des Professors, das läge auf der Hand, galten der angenehmen Tätigkeit in netter Gesell­schaft, finan­ziert von einer lieben Freundin. Man werde sehen.

Hirschberg erfuhr noch einigen Klatsch und Tratsch von der Insel. Freund Berger hatte offenbar gute Infor­ma­ti­ons­quellen und genoss solche Geschichten. Männer können ganz schöne Wasch­weiber sein, dachte Hirschberg. Er lenkte das Gespräch auf das Kunst­projekt der Schneider. Berger meinte, das könnte ja durchaus sein, dass die Leute für Vorträge über Kunst zu haben seien, schließlich würde immer wieder zu Vernis­sagen einge­laden. Man müsse es halt mal versuchen. Und wenn es am Anfang nicht gleich ein Erfolg sei, sollte man nicht sofort aufgeben, sondern eine Weile durch­halten. Die Erfahrung hätte er im Leben immer wieder gemacht: Nur nicht zu schnell aufgeben, irgendwann kommt schon Wind auf. Es sprach der erfahrene Segler.

„Wer von deinen Bekannten auf der Insel würde denn nach deiner Einschätzung der Einladung zu einem solchen Vortrag folgen?“

„Schwer zu sagen. Ich überlege gerade, was die so in ihren Häusern an den Wänden hängen haben. Ja, ganz unter­schiedlich. Manche kaum etwas, da stehen nur Möbel. Andere haben das eine oder andere dekorative Gemälde. Wirklich kunst­ver­stän­diger Sammler ist nur einer. Der käme sicher, wenn der Professor gut ist. Bei den anderen käme es wahrscheinlich darauf an, wer sonst noch kommt, ob man nachher ein ordent­liches Büfett erwarten kann, in welchen Räumlich­keiten die Veran­staltung statt­findet. Das muss schon anspruchsvoll sein. Vielleicht wäre eines der Golfhotels nicht schlecht. Man muss nachher davon erzählen können.“

„Du willst sagen: Es darf nicht nur das Kunst­in­teresse befriedigt, sondern es müssen auch die Prestige-Bedürf­nisse bedient werden!“

„Ganz richtig!“ Berger kannte sich aus: „Hast du schon mal die Leute bei einer Vernissage beobachtet? Für mich ist das immer ein Genuss. Während der Laudatio auf den Künstler stehen alle gelang­weilt herum. Dann ziehen sie an den Bildern vorbei. Einige sprechen auch den Künstler an: Wie er seine Motive finde? Was er vom Kollegen Soundso halte und von jenem – das sind die Maler, von denen sie ein Bild zu Hause hängen haben. Sagt er, er kenne den Kollegen, und er schätze ihn, verraten sie, dass sie was von ihm gekauft haben, andern­falls behalten sie es für sich.“

Er trank sein Glas aus. Und fuhr dann fort: „Auch die Hobby­maler geben sich zu erkennen und versuchen, vom Künstler Tipps zu bekommen: Wo er seine Farben einkaufe? Wo sein Papier, seine Leinwand, seine Pinsel, seine Rahmen? Der Künstler erträgt’s, stets freundlich, seiner­seits um Origi­na­lität bemüht. Die meisten sind ihre eigenen Marken­zeichen, mit Vorliebe für Kopfbe­de­ckungen: Hut, Basken­mütze, Kopftuch oder sonst was. Man weiß, was man der Verkaufe schuldig ist. Den größten Teil des Abends steht man in Grüppchen herum mit dem Glas in der einen und dem Häppchen in der anderen Hand, mit dem Rücken zu den Bildern. Wenn sich jetzt der Raum oder die Räumlich­keiten zu schnell leeren, stimmt etwas nicht. Entweder waren die falschen Leute einge­laden, der Termin ungünstig gewählt, der Sekt zu billig, die Häppchen ohne Kaviar oder der Künstler zu unbekannt.“

„Alles klar. Ich sehe, worauf es ankommt. Würdest du zu einer solchen Veran­staltung kommen?“

„Wenn der Künstler…“

„Nein, zu einem Vortrag von dem Professor!“

„Na, klar. Das würde ich mir doch nicht entgehen lassen. Wenigstens den ersten Vortrag nicht.“

Er solle ihn über das Schneider-Projekt auf dem Laufenden halten, meinte Berger beim Abschied. Dann könne er schon Flüster­pro­pa­ganda machen.

Hirschberg fiel beim Aufschließen der Haustür ein, dass er ja Katha anrufen wollte. Es war halb elf – sollte er? Oder lieber erst morgen? Er tat es einfach, und sie war gleich am Apparat. Nein, nicht zu spät, so früh gehe sie nicht schlafen. Er müsse nach Mallorca? Wann denn? Klar komme sie mit; das mache sie irgendwie möglich; sie müsse in ihrem alten Club dort sowieso noch ein paar Dinge regeln. Super! Ob sie Lust und Zeit habe, ihn an einem der nächsten Wochenende in der Eifel zu besuchen? Dann könne er ihr ausführlich erzählen, worum es gehe! Ihren Freund könne sie mitbringen. Von Samstag- bis Sonntag­nach­mittag? Sie werde versuchen, das einzurichten.

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