7.
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Projektarbeit
… Vorurteile widerlegt … ihre Neugier bewahrt … Lust am Lernen … nicht
nach Wohlgefallen … Stille des Nachdenkens … seine Risikobereitschaft …
Die Informationen und Ideen, die Hirschberg für das Projekt „Schneider-Uni“ gesammelt hatte, standen in Stichworten erfasst auf Zetteln. Diese hingen an der Pinnwand, und er war damit beschäftigt, sie zu Komplexen zusammenzustellen. Frau Michalski hatte erkundet, dass mehr als 50 Hochschulen Angebote für Senioren machen und dass man mit bald 30.000 Senioren-Studenten rechne. Unter den Universitäten mit hohem Seniorenanteil bei den Studierenden gehörte die Universität Münster mit über 3.000.
Weitere Belege für die Bildungsbedürfnisse älterer Menschen waren die Zunahme der Angebote von Sprachreiseveranstaltern für Senioren und die Verkaufserfolge, die Verlage mit Seniorenzeitschriften hatten. Die Sprachreiseanbieter kombinierten ihre Lernangebote mit Theaterbesuchen, geschichtskundlichen Ausflügen oder naturkundlichen Exkursionen. Sie fanden statt in reizvollen Gegenden wie Côte d’Azur, Andalusien, Toskana.
Seitdem Wissenschaftler die Vorurteile widerlegt hatten, ältere Menschen müssten naturnotwendig geistig abbauen, wurde diese an Zahl zunehmende Bevölkerungsgruppe mehr und mehr ernst genommen. Die intellektuellen Fähigkeiten nahmen im Alter keineswegs ab, wurde in den Studien festgestellt, sie mussten nur trainiert werden. Auch Kreativität, so fand man heraus, ist vorhanden. Auf der Basis dieser Befunde trauten sich manche Veranstalter, Herausforderndes anzubieten – und die Senioren nahmen die Herausforderungen an. Viele von ihnen machten beispielsweise ein Zertifikatsstudium, studierten also mit dem Ziel, einen bestimmten Qualifikationsgrad zu erreichen, und nahmen die entsprechenden Verpflichtungen, etwa eine vorgeschriebene Wochenstundenzahl, auf sich.
Was studierten diese Überfünfzigjährigen? Was motivierte sie? Die Universität Münster hatte beobachtet, dass es Menschen sind, die sich ihre Neugier bewahrt haben. Auch, dass sie in ihren jungen Jahren, manche während ihres ganzen Lebens gerne gelernt hatten. Bei einigen hatte sich geradezu Lust am Lernen entwickelt. Sie wollten nachholen, was in ihren Berufsjahren zu kurz kam. Viel belegtes Fach war Geschichte. Weniger belegt wurden naturwissenschaftliche Fächer. Ansonsten große Interessenvielfalt: Anthropologie, Philosophie, Theologie, Recht, Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte und anderes. Auch schöngeistige Angebote, bei denen die Theorie durch eigene Übungen ergänzt wurde, fanden Anklang.
Ein Professor der Münchner Kunstakademie, der mit großer Skepsis ein Projekt zu „Phantasie und Kreativität“ mit Senioren übernommen hatte, machte die Erfahrung, dass seine „älteren Semester“ nach einer Phase des Tastens und Testens zu Arbeitsweisen kamen, wie er sie vorher nur bei jungen Leuten erlebt hatte.
Ein Hamburger Professor und Chorleiter berichtete, wie seine Senioren-Schüler nach einigen Übungen, ihre Fähigkeit zu singen, entdeckt hätten, wie sie noch hätten das Notenlesen lernen wollen oder sich mit Harmonielehre befassten. Auch hätten Teilnehmer seiner Veranstaltungen, die vor langen Jahren einmal ein Instrument spielten, diese Fertigkeit wiedergefunden.
In Südbaden wurde die erste Private Altenuniversität eröffnet. 120 Studenten, Studiengebühren zwischen 4.000 und 5.000 DM. Mäzene stifteten die ersten zehn Millionen, um das Projekt zu starten. 10 Millionen – das war doch ein Klacks für Schneider, falls er etwas Ähnliches auf die Beine stellen wollte, dachte Hirschberg.
Wo sollte man die Uni ansiedeln? Wie sollte der Lehrkörper zusammengestellt werden? Was sollte sie anbieten? Welche Organisationsstruktur sollte sie haben? Wie sollten Schneiders Finanzmittel eingesetzt werden? In welcher Form sollte gestartet werden? Wie könnte die Endstufe aussehen? Alles Fragen, zu denen Hirschberg Vorstellungen entwickeln wollte. Die meisten Ideen waren ihm zu Lehrangeboten gekommen. So dachte er beispielsweise an eine mehrsemestrige Reihe über Personen, die nachhaltig die Geschichte geprägt haben, etwa Caesar, Augustus, Konstantin, Karl der Große, Napoleon. Vorlesungen und Seminare an historischen Orten.
Als literarische Reihe schwebten ihm Biographien vor. Wenn Naturwissenschaften interessant dargeboten würden, fänden auch sie sicherlich Anklang. Seine Idee: Sinnestäuschungen. Was kann man glauben von dem, was man sieht und hört? Natürlich sollten die klassischen Wissensbereiche angeboten werden wie Philosophie, Theologie, aber auch Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Dazu Bildende Kunst und Musik. Der Fächer-Kanon könnte weit gesteckt sein.
Profil sollte die Universität dadurch gewinnen, dass sie einerseits – wo immer es ging – ihren Stoff an Personen festmachte und andererseits die Professoren und Dozenten – ausnahmslos – durch ihre Persönlichkeit ihre ältere Studentenschaft zu begeistern vermochten. Zum Start des Unternehmens sollten Spitzenveranstaltungen das Niveau der Universität deutlich machen. Um von vornherein keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit und dem auf Dauer angelegten Konzept aufkommen zu lassen, hielt Hirschberg zwei Zertifikatsstudiengänge für notwendig. Geeignete Fächer: Geschichte und Philosophie. Drum herum ein Kranz attraktiver Semesterreihen. Welche? Das würde davon abhängen, welche Persönlichkeiten man für das Angebot gewinnen könne. Die Professoren sollten verschiedenen Generationen angehören: sowohl junge Nachwuchswissenschaftler als auch arrivierte Hochschullehrer, auch emeritierte Größen ihres Fachs.
Das Telefon klingelte. Frau Schneider rief aus Mallorca an. Hirschberg: „Das läuft jetzt ja wohl ein wenig anders, als mit Ihnen besprochen.“
„Mein Mann hat halt immer das Sagen. Und auf kleiner Flamme kann er nicht kochen.“
„Vielleicht kann ich Ihr Vorhaben einbauen. Der Professor hat auf mich keinen schlechten Eindruck gemacht.“
„Nein, lieber nicht.“
„Haben Sie Zweifel bekommen?“
„Seine fachlichen Qualitäten kann ich nicht beurteilen. Er kommt gut an! Bei einer Veranstaltung hier im Haus waren meine Gäste begeistert. Nur: Er scheint – aus einem mir nicht bekannten Grund – das Interesse verloren zu haben.“
„Werden Sie in irgendeiner Form an dem Projekt beteiligt sein?“
„Vorerst nicht. Ich warte ab. Ihnen nochmal vielen Dank, dass Sie bereit waren, die Sache für uns zu übernehmen. Das Honorar dafür stellen Sie meinem Mann in Rechnung. Und, wenn Sie wieder mal in Mallorca sind, melden Sie sich!“
Die Frau war korrekt, sagte sich Hirschberg. Der Professor? Man sah, wie windig solche Beziehungen sind. Man musste vorsichtig sein, um nicht auf Sand zu bauen. Schneider ging da gewitzter vor. Für Hirschberg war die Sache nunmehr klargestellt.
Er ging wieder zu seinem Schreibpult und seiner Pinnwand. Standort? Gar keine Frage: Köln, nicht Palma. Hier gab es eine Universität, eine Musikhochschule; im Umkreis gab es die Uni in Bonn, die Kunstakademie in Düsseldorf und die TH in Aachen. Schneider war Kölner. Von Anfang an sollte die Senioren-Universität mit einem europäischen Anspruch auftreten, um trotz der patriotischen Geste des Stifters gegenüber seiner Heimatstadt gar nicht erst provinziellen Kleingeist aufkommen zu lassen. Bereits im Titel musste das signalisiert werden: Europäische Hochschule für Senioren zu Köln. Auch in der Rechtsgestalt ließe sich das ausdrücken. Wenn Brüssel die Möglichkeit böte, eine Trägerstiftung Europäischen Rechts zu gründen, sollte man das tun. Das Europäische Parlament hatte zu Stiftungen einen entsprechenden Entschließungsantrag gestellt.
Über die Kosten, so entschied sich Hirschberg, würde er sich nicht detailliert auslassen, sondern nur eine Größenordnung nennen. Die würde etwa bei 50 Millionen DM als Grundausstattung für die Stiftung liegen. Die Erträge dieses Kapitalstocks müssten neben Studiengebühren, Zustiftungen und Spenden das Unternehmen „Schneider-Uni“ finanzieren.
Die Details der Rechtsform und das Finanzierungskonzept müssten von Fachleuten ausgearbeitet werden, wenn die grundsätzliche Entscheidung für das Projekt gefallen war. Die Vorbereitungs- und Einführungsphase wäre mit einer groß angelegten PR-Kampagne zu begleiten, gemäß der alten Unternehmerweisheit: Wenn du eine Mark investierst, musst du eine zweite haben, um dies bekannt zu machen. Hierzu wollte Hirschberg in seinem Konzept ein eigenes Kapitel bringen.
Damit war die erste Aufarbeitung seiner gesammelten Unterlagen und Notizen abgeschlossen. Die weiteren Arbeitsschritte: Die Themenkomplexe nach ihrer Festlegung weiter ausfächern und zu Kapiteln verarbeiten, Ergänzungsrecherchen in Auftrag geben, die Reihenfolge der Kapitel bestimmen, erstes komplettes Ausformulieren des Konzepts und schließlich zur Schlussfassung überarbeiten.
Mehr und mehr band er Frau Michalski in die Arbeit mit ein. Schließlich druckte sie zwei Exemplare von jeweils 58 Seiten aus. Eines davon ging zu Schneider nach Köln. Wenige Tage später rief Hirschberg in Schneiders Büro wegen einer Terminabsprache an. Doch Schneider war nicht erreichbar. Man werde sich nach Rücksprache mit ihm melden. Der Rückruf ließ auf sich warten und war dann auch nur ein Zwischenbescheid. Herr Schneider sei in den USA, mache anschließend Urlaub und werde nach seiner Rückkehr, etwa Ende August, einen Termin nennen.
Von wem Hirschberg gar nichts mehr hörte, war sein Neffe Joachim. Mit seiner Mutter hatte er seit seinem Besuch bei ihr mehrmals telefoniert und dabei auch einmal nachgefragt, wie es dem Sohn gehe. Sie hatte nichts verlauten lassen, lediglich erwähnte sie, dass er nach wie vor viel Stress habe. Sie hätte, ohne ihm als Berater zu nahe treten zu wollen, ja schon deutlich gesagt, dass er einen schlechten Rat gegeben habe. Vielleicht käme der Junge deshalb nicht mehr zu ihm. Das machte ihn traurig. Aber es gehörte zu seinen Prinzipien, Ratschläge nicht nach Wohlgefallen, sondern nach bester Einsicht zu geben. Und wer ihn um Rat fragte, dem verweigerte er sich nicht. Andererseits drängte er sich keinem auf.
Was mit seinen Ratschlägen geschah, war recht unterschiedlich. Da gab es die Rosinenpicker: Ausgewählt wurde, was gefiel. Dann gab es die Spätzünder: Aus irgendwelchen vorgeschobenen Gründen nahmen sie den Rat nicht an. Von diesen Kunden sagten ihm manche drei oder vier Jahre später, wenn er sie irgendwo wiedertraf, sie würden jetzt sehr erfolgreich das und das machen – das war genau das, was Hirschberg ihnen vorgeschlagen hatte. Wieder andere bedankten sich, zahlten und ließen nie wieder etwas von sich hören. Am liebsten waren ihm die Kunden, mit denen man Projekte gemeinsam in die Tat umsetzen und zum Erfolg führen konnte. Er hatte mehrere solcher Aufträge, von denen einige schon über zehn Jahre liefen.
Mitte Juli zog sich Hirschberg für vier Wochen nach Mützenich zurück. Erneut hatte ihm Frau Michalski eindringlich nahe gelegt, jeden Mittag zu kochen. Jetzt, da er schon eine gewisse Übung habe, solle er nicht den Fehler machen, hin und wieder ein paar Tage zu überschlagen, er käme sofort aus der Übung, und die Gefahr, in die alte schlechte Gewohnheit des unregelmäßigen Essens zu verfallen, sei sehr groß. Die Frau hatte Lebenserfahrung. Er gelobte, ihren Rat zu befolgen.
Zu den paar Sachen, die er mitnahm, gehörten auch zwei Bücher: eine Biographie Caesars und „Der Zauberberg“. In Ruhe mal wieder lesen, keine Fachliteratur. Sein weiteres Programm: Der Termin mit Freund Werner in Berlin war für den 16. September festgemacht; hierauf wollte er sich gründlich vorbereiten. Mit einem befreundeten Ehepaar, er war Schulfreund von ihm, war eine gemeinsame Wochenendfahrt nach Flandern und an die Küste verabredet. Seine Tochter hatte in Aussicht gestellt, ihn mit Bob zu besuchen. Die Post ließ er sich nachschicken. Mit Ungeduld erwartete er den Brief seines Sohnes. Aber der kam während der ganzen Zeit nicht.
Die Zeit in der Eifel empfand Hirschberg als ein ideales Wechseln von konzentrierter Arbeit zu gelassenem Auspendeln, von anregender Geselligkeit zur Stille des Nachdenkens, vom Eintauchen in die Natur zum Erfahren von Kultur. Mit den Freunden war er in Brüssel, Gent und Antwerpen. Seine Tochter kam ihn, wie in Aussicht gestellt, mit ihrem amerikanischen Freund besuchen. Ein toller Bursche, der ihrem intellektuellen Scharfsinn gewachsen war. Dort, wo sie überdrehte, fing er sie großartig ab. Seine Formel: „Richtig, aber nicht wichtig.“ Dann nahm er sie meistens in die Arme.
Manchmal reagierte er auch anders. Wenn sie glaubte, die letztmögliche Differenzierung gefunden zu haben, setzte er noch eine drauf – und schob damit das Ganze auf die Kante, bei der man nicht weiß, ob es noch ernst gemeint oder schon Ironie ist.
In den vier Wochen wurde Hirschberg wieder bewusst, welches Glück seine Selbständigkeit für ihn war. Das hatte er früher schon empfunden und seiner Frau gesagt, die erwiderte, dass er sich dies durch seine Selbstdisziplin und seine Risikobereitschaft verdient habe. Er hatte ihr nicht widersprochen, aber hinzugefügt, dass es ohne ihren Beistand auch nicht möglich wäre. Dann schmusten sie und hatten sich lieb.
Enttäuschungen
… jegliche Lust verloren … neue Krüge für alten Wein … im Gewurschtel
verkeilt und verhakt … höflich verabschiedet … unglückliche Katha …
Zurück in Mehlem. Freund Werner ließ nachfragen, ob alles so bliebe, wie abgesprochen. Man teilte Hirschberg nochmal Ort und Uhrzeit mit, schickte das Ticket. Er hatte den Hinflug einen Tag vor seinem Auftritt buchen lassen, um sich die neue Hauptstadt ansehen zu können.
Endlich kam auch der Brief seines Sohnes – mit deutschen Briefmarken und in Frankfurt abgestempelt, ohne Absender. Offenbar hatte er den Brief jemandem mitgegeben, der nach Deutschland flog. Der Brief war kurz: Ihm gehe es gut; er werde auf Dauer auf den Philippinen bleiben; denn er habe hier eine neue Heimat gefunden; demnächst komme er nach Deutschland, um sich einige Sachen zu besorgen; dann werde er ihm alles ausführlich schildern und erklären; er hoffe, dass er Verständnis für ihn habe; ob er ihm die Adresse seiner früheren Frau mitteilen könne. Hirschberg wusste sie nicht. Er bat Frau Michalski, sie herauszufinden, was dieser nach einigen Mühen auch gelang.
Es gelang Hirschberg indes nicht, seine frühere Schwiegertochter zu erreichen. Zuerst sprach er auf den Anrufbeantworter. Als kein Rückruf kam, versuchte er nochmal. Ein Mann war am Apparat. Er werde seinen Wunsch um Rückruf ausrichten, erklärte der kurz angebunden. Auch jetzt kein Rückruf. Hirschberg stellte seine Bemühungen ein, Kontakt zu ihr zu bekommen. Es schmerzte ihn, ein Enkelkind zu haben, das er nicht einmal kannte. Die Mutter konnte doch nicht so tun und handeln, als lasse sich die Realität ihrer ersten Ehe auslöschen. Das Mindeste wäre doch, noch irgendwie voneinander zu wissen, den Gesprächsfaden nicht ganz abreißen zu lassen. Offenbar wollte sein Sohn versuchen, da etwas in Ordnung zu bringen. Er hoffte darauf, dass er das schaffe.
Noch andere Post kam in diesen Tagen: ein Päckchen. Als er den Absender sah, wusste er, dass es sein Buchmanuskript war. Im Begleitbrief schrieb man ihm, leider passe sein Angebot nicht ins Verlagsprogramm, man habe nach seiner Ankündigung etwas anderes erwartet, vielen Dank und alles Gute. Er raffte sich auf und rief den Lektor an. Der war überaus freundlich. Seine Enttäuschung könne er verstehen, aber im Hause würde seit einiger Zeit sehr streng ausgewählt, um auf dem Markt ein schärferes Profil zu gewinnen. Der Wettbewerb zwinge dazu, und die Kosten und so weiter – zwecklos. Es brauchte Zeit, bis Hirschberg sich wieder aufgerappelt hatte und in einer Verfassung war, um seine Berlin-Vorbereitungen weiterzuführen.
Am Tag vor seinem Abflug versuchte er, Schneider zu erreichen. Er wollte jetzt endlich den Termin absprechen. Nein, der sei den ganzen Tag über nicht erreichbar, aber um 18 Uhr etwa könne er nochmal versuchen. Tatsächlich, er wurde mit ihm verbunden.
„Ja, habe ich bekommen und auch gleich gelesen. Ist bestechend konsequent durchdacht…“, Hirschberg wartete auf das „Aber“, das nach solchen Einleitungen meistens kam – und es kam. „Aber bei mir hat sich die Situation – oder sagen wir besser – die innere Einstellung zu dem Projekt generell geändert. Wir haben die Steuerfahndung im Haus. Die werden zwar nichts finden, die können gar nichts finden, weil wir clean sind, aber Sie wissen ja, es gibt immer strittige Fälle. Da kommen also mit Sicherheit ein paar langwierige Prozesse auf mich zu, obwohl der Gesetzgeber diese Anreizsysteme alle selbst geschaffen hat. Wie die hier vorgehen, können Sie sich nicht vorstellen. Mein Vater hat mir mal erzählt, wie die Nazis seinen Laden durchsucht haben. Nach dem, was ich hier erlebe, kann ich nur sagen: Früher kam die Gestapo, heute …“
„Heute leben wir in einem Rechtsstaat!“, unterbrach ihn Hirschberg.
„Also unter diesen Umständen habe ich jegliche Lust verloren, mehr zu arbeiten als notwendig und schon gar nicht irgend etwas zu stiften oder mich ehrenamtlich zu engagieren, das werden Sie sicher verstehen!“
Hirschberg verstand, wünschte ihm, dass er ungeschoren aus der Sache herauskäme und man sich vielleicht bei Gelegenheit – in Mallorca? – wiedersehe. Nach dem Abendessen ging er an den Rhein spazieren. Es war ein wunderschöner Spätsommerabend – aber harte Zeiten.
Am nächsten Morgen flog Hirschberg nach Berlin. In der Tat: Die Stadt hatte ihr Gesicht verändert. Er durchstreifte das neue Regierungsviertel, ging – wie er es sich vorgenommen hatte – durchs Brandenburger Tor und war am frühen Nachmittag wieder im Hotel. Er ging noch einmal das Manuskript für sein Referat durch, bestellte ein Taxi und war pünktlich an Ort und Stelle.
Freund Werner stellte ihn den 20 geladenen Personen vor und bat ihn um sein Impulsreferat, wie er es nannte. Nach den einleitenden Artigkeiten: „Ich möchte Ihnen ein paar Gedanken, ein paar Gedankensplitter vortragen, die deutsche Politik am Beginn des neuen Jahrhunderts betreffen, deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.“
Mit ein paar Fragen suchte er das Interesse seiner Zuhörer zu wecken. „Als ich gestern und heute das neue Berlin sah, das Regierungsviertel, das jetzt mehr und mehr in seine Funktion kommt, drängten sich mir Fragen auf: Ist hier etwas restauriert worden oder entsteht hier etwas Neues? Handelt es sich um neue Krüge für alten Wein oder wird auch neuer Wein eingefüllt? Wird hier an alte Traditionen angeknüpft oder das Deutschland des 21. Jahrhunderts kreiert? Finden die Deutschen zu einer nationalen Identität zurück oder wird ein Versprechen aus den Sonntagsreden zum Kalten Krieg eingelöst? War Bonn wirklich ein Provisorium oder Hauptstadt des freien Nachkriegsdeutschland?“
Er ging die einzelnen Fragen durch und schloss Forderungen an: „Ein der Freiheit und Gerechtigkeit verpflichtetes Deutschland braucht die Rückführung des Staates auf allen Ebenen und die Auflösung der Zwischenebenen mit all ihren Grauzonen, braucht praktizierte Deregulierung. Die Steuern, gleich welcher Art, dürfen nicht erhöht werden, sie müssen allesamt runter. Das schafft Kaufkraft und – ich betone das „und“ – Investitionen. Menschen, die sich etwas zutrauen, die Ideen haben, die leistungsbereit sind, brauchen Freiraum zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen und die Aussicht auf einen gerechten Lohn. Soziale Gerechtigkeit wird zur Phantomjagd, wenn man den Unternehmern ihre Villen in Spanien oder Florida abjagen will.“
Er geißelte die Leute in den Hängematten der Sozialpolitik: „Für die Zukunft Deutschlands brauchen wir erfolgshungrige und gut ausgebildete junge Leute, nicht die satten und lebensuntüchtigen Langzeitstudenten. Mehr Wettbewerb und mehr Erfahrung mit den Lebensrisiken müssen gerade die jungen Menschen zu mehr Lebenstüchtigkeit führen. Es muss sich ungleich mehr lohnen, in unsicheren Arbeitsverhältnissen als in sicheren zu arbeiten.“
Nachdem er mit diesen und ähnlichen Sätzen seinem Ärger über die politische Entwicklung Luft gemacht hatte, ging er über zu der Frage, wie nach seinen Vorstellungen die Berliner Republik eine neue Aufbruchstimmung erzeugen könne.
Am Ende seiner Ausführungen wurde er pathetisch, der verhinderte Politiker kam zum Vorschein: „Deutschland steht vor der Wahl: Wollen wir uns durchwurschteln wie bisher, bis alles im Gewurschtel verkeilt und verhakt ist, bis die Unternehmer dahin gegangen sind, wo sie ihre Talente besser entfalten können, bis die am besten ausgeprägte Fähigkeit der Deutschen das Demonstrieren und Streiken ist und bis der Staat alles reglementiert, nichts dem Zufall geschweige denn dem Spiel freier Kräfte überlässt?“
Und weiter: „Um einen neuen Aufbruch möglich zu machen, schlage ich als ersten Schritt eine Verfassungsänderung vor: Der Bundeskanzler, die Ministerpräsidenten, die Bürgermeister und Landräte dürfen in ihre Ämter nur einmal wiedergewählt werden. Denn allein das garantiert das Ende der politischen Erbhöfe, hält die Parteien jung und den demokratischen Machtwechsel funktionsfähig. Alles andere bringt unsere Gesellschaft weiter abwärts auf der schiefen Ebene der Bevormundung der Bürger durch den Staat. Freiheit und Gerechtigkeit im Deutschland der Berliner Republik bekommen durch einen solchen ersten Schritt eine neue Chance.“
Noch ein paar weitere Vorschläge und Schlussworte. Er erntete wohlwollenden Beifall. Die anschließenden Statements – Diskussion wäre zu viel gesagt – waren durchweg zustimmend, allerdings von der Art, sich das eine oder andere herauszupicken, um eigene oder ähnliche Gedanken daran anzuhängen. Einige sprachen auch von Eulen, die Hirschberg nach Athen getragen habe.
Hirschberg wurde höflich verabschiedet. Freund Werner begleitete ihn bis zum Aufzug und tröstete ihn damit, dass man realistischerweise mehr habe nicht erwarten können. Sein Referat sei erfrischend provozierend gewesen und habe eine ganze Fülle konstruktiver Anregungen enthalten. Genau das sei mit diesen Veranstaltungen beabsichtigt. Hirschberg öffnete nochmal seine Mappe; er holte das Buchmanuskript heraus, das ihm zurückgeschickt worden war. Er überreichte es Freund Werner mit den süffisanten Worten: „Das ist das Abschiedsgeschenk eines Rheinländers an den deutschen Bundestagsabgeordneten der Berliner Republik Dr. Werner Boone. Sie hatten mir ja empfohlen, meine Ansichten in Buchform zu bringen.“
Der Aufzug war da, schnelle Verabschiedung, Abgang.
Zurück am Rhein überlegte Hirschberg, ob er sich nicht künftig mehr den schönen Dingen des Lebens widmen sollte. Er würde seine treuen Kunden pflegen, die übrige Zeit aber nicht mehr in neue Projekte investieren, sondern seiner Erbauung widmen. Es gab so viele Bücher, die er noch lesen wollte. Schade, dass aus der Schneider-Uni nichts wurde, er wäre auch als Student dabei gewesen.
Während er so über seine Zukunft nachdachte, an eine ruhige und beschauliche Zeit, klingelte das Telefon. Katha. Sie müsse dringend mit ihm sprechen. Ob sie am Abend – wann genau könne sie nicht sagen – zu ihm kommen und bei ihm übernachten dürfe.
Als sie endlich kurz nach zehn kam, war sie erschöpft und niedergeschlagen. Sie kam direkt aus Mettmann und hatte noch nichts gegessen. Hirschberg machte ihr Abendbrot. Es quoll aus ihr heraus: „Ich habe mich von Günter getrennt. Nicht dass wir uns gestritten hätten. Man kann sich mit ihm gar nicht streiten. Er kann sich von seiner Mutter nicht lösen. Er gibt immer nach. Kann keine Konflikte austragen. Er ist ein Weichei. Auf die Dauer würde ich ihn erdrücken. Er gibt immer nach, und ich bin unglücklich. Er kann sich nicht wehren. Er ist zu gut für mich. Ich will ihm nicht weh tun. Ich habe Schluss gemacht. Es tut weh – ihm und mir. Aber es ist für uns beide besser. Heute morgen habe ich meine Sachen ins Auto gepackt.“
Sie schwieg, versuchte gefasst zu bleiben, war jedoch den Tränen nahe. Er setzte sich neben sie, legte den Arm um sie. „Wir reden drüber“, sagte er schließlich, „aber nicht heute“.
Er richtete ihr das Bett im ehemaligen Zimmer seines Sohnes her. Wie früher seiner Tochter gab er ihr einen liebevollen Gutenachtkuss. Als auch er im Bett lag, konnte er lange nicht einschlafen. Er ließ sich seinen Berliner Auftritt nochmal durch den Kopf gehen, hing seiner Traurigkeit über die Ablehnung seines Manuskripts und das Aussteigen Schneiders aus dem Uni-Projekt nach, dachte an die unglückliche Katha, die jetzt sicher Tränen vergoss.
Am nächsten Morgen bereitete er für sie und sich das Frühstück vor. Mit verheulten Augen und leerem Gesicht kam sie dazu. Sie trank kaum etwas, aß nichts. Ein Gespräch kam nicht zustande. Sie müsse zurück nach Mettmann. „Danke für Dein Verständnis. Aber da muss ich allein durch.“ Beim Abschied gab er ihr einen Hausschlüssel.
Das Jahr ging seinem Ende entgegen. Von Katha hatte er seit der tränenreichen Nacht nichts mehr gehört. Frau Michalski kündigte zum Jahresende. Sie ziehe nun doch zu ihrem Mann nach Berlin. Da er ihr ja erzählt habe, nicht mehr so viel arbeiten zu wollen und ein guter Koch geworden sei, falle ihr der Abschied nicht so schwer. Er lud sie zu einem Abschiedsessen ins Redüttchen ein.
Silvester 1999. Hirschberg war allein. Er hatte lustlos ein wenig zu Abend gegessen und zappte durch die Fernsehprogramme. Schließlich entschloss er sich, mal wieder einen Spaziergang am Rhein entlang zu machen.
Er ging stromaufwärts. Niemand begegnete ihm. Schließlich kehrte er um. Er strebte zurück in die warme Stube. Erste Raketen zischten in den Nachthimmel und setzten nach mächtigem Knall ihren Farbregen aus. Gleich war es so weit: Der als globales Ereignis herausgestellte Jahreswechsel in das Jahr 2000! Jetzt wollte Hirschberg doch nicht geradewegs nach Hause. Ihm war eingefallen, lange nicht mehr das Grab seiner Frau besucht zu haben. Am Friedhof, der nachts geschlossen war, wusste er zwischen dem Zaun und einer angrenzenden Mauer eine Lücke. Die benutzte er schon mal, wenn er den Weg vom Grab nach Hause abkürzen wollte.
Zuhause würde zwar gleich das Telefon klingeln und er wider Erwarten nicht zu Hause sein. Seine Schwester würde ihm ein gutes neues Jahr wünschen wollen, auch seine Tochter. Katha? Ihm war nicht nach Telefonieren zumute. Die Erinnerung an seine Frau zog ihn zum Friedhof.
Um Hirschberg herum bahnte sich mehr und mehr das Spektakel zur Jahrtausendwende an. Feierfreudige Gruppen traten aus den Häusern. In Vorgärten und auf Terrassen wurden Raketen gezündet. Frauen gingen noch mal ins Haus und kamen in einen Mantel gehüllt zurück. Man stand in Gruppen zusammen, ein Glas Sekt in der Hand, Paare küssten sich, schmusten. Musik strömte aus offenen Türen, Stimmengewirr, Lachen. Manche kehrten nach wenigen Augenblicken ins Haus zurück, weil es ihnen zu kalt war.
Jugendliche warfen Knaller. Männer hatten ganze Raketen-Batterien aufgebaut und gefielen sich vor den zusammenstehenden Frauen als Feuerwerksmeister. Unter A- und O‑Rufen der Bewunderung regnete es Farbenpracht in den unterschiedlichsten Formen. Es roch nach Pulverdampf. Kleine grau-weiße Schwaden zogen über die Häuser davon.
Hirschberg bevorzugte mehr und mehr die dunklen Straßen. Er wollte keine verwunderten oder mitleidigen Blicke auf sich ziehen. Dennoch konnte er nicht ganz vermeiden, an der einen oder anderen Gruppe vorbeizugehen.
So kam es, dass er eine etwas größere Gruppe vor einer Kneipe zu passieren hatte. Beim Näherkommen beobachtete er, wie ein offenbar schon angetrunkener Hüne die Gruppe unterhielt. Breite Schultern, Stiernacken, Wampe, Bluthochdruck. Bis auf den Hosenbund unter der Wampe hatte er alles gelockert, was ihn hätte einzwängen können. Die Smokingfliege hing offen über dem aufgeknöpften Hemd, die Ärmel etwas hochgekrempelt, keine Jacke.
Der Berserker grölte „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Als er Hirschberg sah, wie dieser vorbeihuschen wollte, hielt er inne und sagte zu seiner Gruppe gewandt: „Na seht mal diesen Nachtfalter!“ Hirschberg wollte entwischen, doch der Bulle stellte sich ihm mit erhobenen Händen, in der einen ein leeres Glas, in den Weg.
„Hiergeblieben!“ herrschte er ihn an. „Was schleichst du hier herum? Du Nachtschatten!“ Er sah Hirschberg ins Gesicht und fuhr fort: „Väterchen, dir ist wohl nicht zum Feiern? Wie? Das werden wir gleich ändern. He! Bring mal einer ein Glas und eine neue Flasche! Ich bin auch schon wieder trocken.“ Hirschberg wollte vorbeitauchen, aber der Koloss hielt ihn am Ärmel fest. „Sieh mal, hier sind alles nette Leute. Trink mit uns auf das neue Jahrhundert! Lach ein bisschen! Sei kein Frosch!“
Glas und Flasche wurden gebracht. Hirschberg fauchte: „Lassen Sie mich los!“ – „Ich will dir doch nur Gutes!“ Der Schnapshüne ließ sich einschenken. Die anderen umringten die Beiden. Hirschberg zitterte am ganzen Leib. Eine der Frauen erkannte seine Not und sagte zu dem Ungeheuer: „Lass ihn!“ Hirschberg spürte, wie der Griff sich etwas lockerte. Er riss sich los und entschlüpfte. „Armleuchter!“, hörte er hinter sich.
Hirschberg fror. Damit ihm wärmer würde, begann er zu laufen. Außer Atem kam er zum Friedhof. Er setzte sich auf die Umrandung des Grabes, das dem seiner Frau gegenüber lag. Er hatte Tränen in den Augen. Nach einer Weile erhob er sich wieder, stellte er sich vor das Grab seiner geliebten Frau und betete.
Auf dem Heimweg schreckte ihn die Vorstellung der Einsamkeit in dem leeren Haus. War das sein Zuhause? War diese Einsamkeit sein Zuhause? Wo gehörte er hin? Wer gehörte zu ihm? Zu wem gehörte er? Ein Gefühl des Ausgestoßenseins überfiel ihn. Zu was war er nütze? Er bewegte sich doch nur noch auf ausgetretenen Pfaden, war eher Zuschauer als Teilnehmer des Lebens. Ziellos ging er durch die Straßen.
Er stieß auf die Gastwirtschaft, in der er früher zu Mittag aß, als er noch nicht kochen gelernt hatte. Gerade öffnete sich die Tür und heraus kam eine Gruppe älterer Leute. Ein warmer Hauch umwehte ihn, er ging hinein.
Jahresrückblick der Schildbürger
Alle Gesetze wurden aufgehoben.
Jetzt kann keiner mehr dagegen verstoßen.
Alle Wälder wurden abgeholzt.
Die Brandstifter sind ratlos.
Alle Straßen wurden gesperrt.
Jetzt leben wir wieder unfallfrei.
Die Pille wurde verboten.
Wir haben wieder mehr Kinder.
Alle Atomkraftwerke wurden abgeschaltet.
Jetzt kann es keinen Gau mehr geben.
Kein Bau mehr von Flughäfen und Bahnhöfen.
Es herrscht Frieden im Land.
Die Uhrzeit wurde abgeschafft.
Keiner leidet mehr unter Stress.
Erste Stunden 2000
… Aufdringlichkeit zuwider … der Zustand seligen Vergessens … die Frauen
wollen’s exklusiv … ist doch nur Egoismus … stirbt die Menschheit aus …
Vor einigen Jahren hatte eine griechische Familie die Wirtschaft übernommen. Seitdem hieß sie nicht mehr „Zum goldenen Anker“, sondern „Akropolis“. Einfache Küche, aufmerksame Bedienung. Alexis, der Sohn des Inhabers, richtete den Tisch her, an dem vermutlich die Gruppe saß, die gerade hinausgegangen war. Hirschberg wurde begrüßt. In der Gaststube saßen noch ein junges Paar und eine gemischte Gruppe. Am Tisch neben der Küche saß der um einiges ältere Bruder von Alexis, der Koch und der Vater der Familie. Bei ihm seine Frau und die jüngste Tochter, ein Teenager. Hirschberg wählte einen Tisch, von dem aus er den Raum überblicken konnte.
Alexis kam zu ihm, begrüßte ihn nochmal und meinte, man habe ihn lange nicht mehr gesehen. Etwas erstaunt fragte er: „Sie wollen das neue Jahrtausend bei uns beginnen?“ „Ich habe Hunger.“ Alexis schaute in Richtung seines Bruders, sagte „Einen Augenblick, bitte!“ und ging zu seinem Bruder hinüber. Kurzer Wortwechsel, wieder bei Hirschberg: „Was soll es sein?“ „Ein Käsebrot und ein Bier.“ „Machen wir.“
Auf Hirschbergs Nebentisch stand ein halbvolles großes Bierglas, abgestandenes Bier. Der Aschenbecher war voller Kippen. Die Toilettentür ging auf und ein Mann mittleren Alters, der nicht gerade einen frischen Eindruck machte, kam raus, ging zum Nachbartisch, sah Hirschberg, nahm das Bierglas und setzte sich an Hirschbergs Tisch mit der Bemerkung „Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich ihnen Gesellschaft leiste.“ Hirschberg war die Aufdringlichkeit zuwider, aber er wollte keinen Aufstand machen.
Der Mann stank nach Alkohol und Zigaretten. „Stört es Sie, wenn ich rauche?“, fragte er. Er hatte schon die Packung in der Hand und begann, sich eine Zigarette herauszufingern. Hirschberg energisch: „Das würde mich sehr stören, und ich würde Sie bitten, an einen anderen Tisch zu gehen.“ Der Mann steckte mit einem Achselzucken die Zigarette wieder zurück.
Eine Weile saßen sich Hirschberg und der ungebetene Tischgast stumm gegenüber. Verstohlenes gegenseitiges Mustern.
„Sind Sie schon mal versetzt worden?“, fragte schließlich der aufdringliche Typ.
„Wie meinen Sie das? In der Schule bin ich immer versetzt worden.“
„Nein, so meine ich das nicht. Hat Sie schon mal einer sitzen lassen? Eine Frau?“
„Einmal. Damit war die Beziehung beendet.“
„Das ist gut. Sie sind konsequent. Ich lasse mich dann immer wieder rumkriegen, obwohl die Ausreden alle gelogen sind.“
„Woher können Sie das wissen?“
„Das spürt man doch. Manche haben es auch nachher zugegeben.“
Hirschbergs Blick ging immer wieder zur Küchentür. Endlich ging sie auf und Alexis kam mit Käsebrot und Bier. Wie immer schob Hirschberg die Zwiebelringe vom Käse. Er mochte keine Zwiebelringe.
Er stellte seinem Tischgenossen die Frage „Was haben Sie denn für gute Vorsätze für das neue Jahr gefasst?“
„Gegen Vorsätze, die man nicht fasst, kann man auch nicht verstoßen. Nein, keine guten Vorsätze. Die halten doch höchstens ein paar Wochen. Warum soll ich mir ein schlechtes Gewissen machen? Warum solche Zwänge? Nicht mehr trinken! Ich brauche den Alkohol, wenigstens ein bisschen. Wie sollte ich sonst den Zustand seligen Vergessens finden?“
Hirschberg sah in wässerige blaue Augen. Er fragte streng: „Was wollen Sie vergessen?“
„Die Frauen wollen immer Exklusivität.“ Das war keine Antwort, zeigte aber an, woher der Kummer kam. Immer dasselbe: Beziehungskisten. Jetzt wurde Hirschberg direkt: „Wohnen Sie in Bonn?“
„Ja, hier in Mehlem.“
„Aber aus der Gegend hier sind Sie nicht.“
„Ich stamme aus Hannover. Übrigens: Achim Brendel.“ Er erhob sich andeutungsweise und hielt Hirschberg die Hand hin. Der machte keine Geste des Aufstehens, sondern reichte nur lax seine Hand rüber und sagte „Hirschberg“.
Brendel: „Ich musste unter Menschen. Waren nette Leute hier; sehr lustig. Eben sind sie weg. Die haben sich alle vorgenommen, dieses Jahr nicht mehr zu rauchen. Drei Mal habe ich das auch schon versucht. Zwecklos. Ich kenne niemanden, der es auf Dauer geschafft hätte. Sie? Wie war doch der Name?“
„Hirschberg, nicht –bach, nicht –wald, sondern –berg, Hirschberg.“
„Kennen Sie einen, der es geschafft hat?“
Hirschberg blickte auf, sah in das Vollmondgesicht ihm gegenüber. Er sagte: „Ja, ich kenne sogar mehrere.“ „Ich kenne keinen. Alle sind rückfällig geworden.“
„Die meisten wollen ja gar nicht ernsthaft. Ich vermute, Sie auch nicht. Sonst würden Sie sich das Aufhören nicht nur vornehmen, sondern konkrete Maßnahmen ergreifen, beispielsweise eine Entziehungskur machen. Sie wollen nicht und tarnen sich mit der Rolle des Versagers.“
„Ich bin nicht süchtig. Ich bin weder nikotin-süchtig noch alkohol-abhängig. Ja, ich trinke manchmal einen über den Durst. Aber Alkoholiker bin ich deshalb nicht.“ Er nahm sein Glas, trank aus und bedeutete Alexis, dass er ein neues Glas Bier haben möchte.
„Sich zu etwas zwingen, tun Sie ungern?“
„Warum sollte ich das? Ich bin ein freier Mann. Und ich will das Leben genießen.“
„Nur die Frauen wollen’s exklusiv.“
„Das habe ich eben gesagt, nicht wahr? Sie passen aber gut auf.“
„Was Sie damit meinen, verstehe ich allerdings nicht.“ Hirschberg war mit dem Essen fertig und schob seinen Teller zur Seite. Sein Gegenüber: „Sind Sie verheiratet?“
„Gewesen.“
„Und jetzt leben Sie allein?“
„Meine Frau ist gestorben.“
„Meine Frau hat sich von mir scheiden lassen. Ich war auf Außendienst und hab’ da eine andere nette Person kennengelernt – das hat sie gemerkt und mir Terror gemacht. Sie wollte es exklusiv haben. Verstehen Sie jetzt?“
„Sie meinen, Ehefrauen sollten großzügig sein.“
„Ich kann eifersüchtige Frauen nicht ausstehen. Das ist doch nur Egoismus. Warum soll ich denn nur einen Menschen lieben können!“
„Von all den Menschen, die Sie lieben, war heute Abend aber niemand in Ihrer Nähe. Sonst wären Sie nicht hierher unter Menschen geflüchtet.“
Der etwas wabbelig fette Mann mit strähnigen blonden Haaren, korrekt auf der rechten Seite gescheitelt, fuhr mit der Hand durch die Frisur, die dadurch etwas in Unordnung geriet. Er machte eine ratlose Miene. Er seufzte: „Ja, meine Freundin und ich, wir haben uns gestern leider gestritten. Wir konnten uns nicht einigen, wohin wir in dieser Nacht gehen, wo wir Silvester feiern sollten.“
„Ach ja! Und das war dann der Grund, getrennte Wege zu gehen.“
„In der letzten Zeit habe ich immer um des lieben Friedens willen klein beigegeben.“
„Die Frauen sind eben nicht mehr so, wie Frauen mal waren. Die wollen heute mindestens mitreden, lieber noch bestimmen, was gemacht wird. Früher gab es klare Verhältnisse: Der Mann hatte das Sagen und las seiner Frau die Wünsche von den Lippen ab. Das waren gute Ehen.“
Brendel übernahm Hirschbergs lebensklugen Tonfall: „Es kann immer nur einer bestimmen. Wenn eine Frau das nicht einsieht und immer das entscheidende Wort haben will, muss man sie verlassen. Eine Zeit lang kann man ihr Recht geben, aber nicht auf Dauer.“
„Haben Sie Ihre erste Frau geliebt?“
„In den ersten Jahren über alles. Aber das kühlt ja ab. Und dann sieht man, dass andere Frauen auch etwas zu bieten haben.“
„Von diesem Kribbel-Glück der ersten Jahre kann man nie genug bekommen.“
„Es gibt so viele tolle Frauen!“
„Leider werden auch die älter.“
„Da sind wir Männer besser dran: Viele junge Frauen stehen auf erfahrene ältere Männer.“
Mit solch schalen Weisheiten plätscherte das Gespräch dahin. Hirschberg war hin und her gerissen: Sollte er Schluss machen und nach Hause gehen oder mit Ironie einfach weiterplänkeln? Er mochte sich nicht entscheiden.
Das Paar in der hinteren Ecke hatte ausgiebig miteinander geschmust, jetzt gingen die beiden. Die Gruppe an dem Tisch schräg gegenüber saß noch in angeregter Runde, aber auch hier deutete sich das Ende an: Die Hälfte der Gläser war leer, dennoch wurde nicht mehr nachbestellt. Die Griechen-Familie saß am Tisch neben dem Tresen. Der Koch hatte Schürze und Mütze abgelegt. Feierabend. Es wurde Wein getrunken und munter erzählt. Durch den Gästeeingang kam ein junges Paar dazu, es war ein weiterer Sohn des Familienoberhaupts mit seiner deutschen Freundin. Hirschberg kannte ihn, weil auch er hin und wieder bediente. Er rief Hirschberg „Ein gutes neues Jahr!“ zu.
Während Hirschberg noch bei seinen Beobachtungen war, begann Brendel erneut zu reden. Er hatte Erzähldrang und brachte jetzt seine Lebensgeschichte. Er musste sie los werden. Hirschberg ließ sich aufs Zuhören ein. Es stellte sich heraus, dass dieser Achim am heutigen Selbstverständnis der Frauen, zu denen er eine Beziehung hatte, immer wieder gescheitert war. Er war wohl in der Vorstellung groß geworden, dass ein Mann einen Beruf erlernt und dann eine Familie ernährt. Dafür bekommt er geordnete häusliche Verhältnisse und die Befriedigung seiner Liebesbedürfnisse.
Doch dann machte er ganz andere Erfahrungen. Als erstes wollte seine Frau ihre Berufstätigkeit nicht aufgeben. „Zunächst sprach sie nur von vorerst. Als ich nach einigen Monaten nachfragte, wie lange denn noch, erklärte sie wieder, vorerst nicht. Sie wolle noch etwas Berufserfahrung sammeln, sie wolle ihre Ausbildung nicht umsonst gemacht haben. Ich blieb hartnäckig und fragte nach einem halben Jahr erneut. Nein, sie könne sich nicht vorstellen, den ganzen Tag allein im Haus zu sein und auf mich mit dem Essen zu warten. Sie wolle unter Menschen sein. Aber wir hätten doch besprochen, Kinder haben zu wollen. Nein, noch nicht, später. Wir führten eine Ehe unter dem Vorbehalt der Worte ‚vorerst’ und ‚später’.“
Brendel war ganz ernsthaft geworden. Jetzt sprach ein um seine Lebenserwartungen gebrachter Mann. Er berichtete von seiner Ehe als Feierabend‑, Wochenend- und Feriengemeinschaft, die solange eine Wonne gewesen sei, wie Leidenschaft im Spiel war. Aber mehr und mehr habe man sich gestritten. Schließlich über die nichtigsten Dinge, wie zum Beispiel darüber, wer die Mülltonne auf die Straße stelle. Sie hätten sich am Anfang nach jeder Streiterei immer wieder wunderbar versöhnt. Aber das habe sich abgenutzt. Ihm sei mehr und mehr klar geworden, dass er eigentlich eine andere Vorstellung von Ehe hatte wie seine Frau. Das habe ihn bedrückt. Die Beziehung sei erkaltet. Jeder sei mehr und mehr auch in der Freizeit eigene Wege gegangen. Er habe gelitten.
Eines Tages – Betriebsausflug – habe ihn eine Kollegin angesprochen. Sie seien ins Gespräch gekommen, und er habe ihr schließlich andeutungsweise von seiner unglücklichen Ehe erzählt. Die Kollegin habe sich sehr verständnisvoll gezeigt. Ihm habe das gut getan. Endlich war da jemand, mit dem er über seine Probleme sprechen konnte. Seine Frau habe durch einen dummen Zufall von der Beziehung erfahren und ihm eine Szene gemacht. Da damals noch Treue, also Exklusivität, zu seinen Eheprinzipien gehört habe, wäre es für ihn selbstverständlich gewesen, den Kontakt mit der Kollegin auf das rein Dienstliche zu beschränken.
Seine Frau habe das indes bezweifelt. Ihrerseits habe sie sich mehr und mehr auf ihre Karriere konzentriert. Mit Erfolg. Sie sei ins Management aufgestiegen. Sie habe mehr Geld verdient als er. Allerdings mit der Konsequenz, dass für ihre Ehe immer weniger Zeit blieb. Als er nochmals das Thema „Kinder“ zur Sprache gebracht habe, habe sie ihm erklärt, das könne sie sich nicht mehr vorstellen – höchstens mit Kindermädchen und Haushaltshilfe, aber dafür verdiene er ja zu wenig. Da habe er endgültig gewusst, dass er die falsche Frau geheiratet habe. Als er von seiner Firma das Angebot eines Außendienstpostens bekommen habe, hätte er zugegriffen. Hirschberg: „Ende der Exklusivität.“
Brendel: „Meine Frau hat sich dann einen Hund angeschafft. Und einen Rechtsanwalt hat sie mit unserer Scheidung beauftragt. Der hat ihr als erstes geraten, sich eine eigene Wohnung zu nehmen.“
„Waren Sie mit der Scheidung einverstanden?“
„Unsere Ehe war nicht zu retten. Wir hatten uns ja bereits auseinandergelebt.“
„Haben Sie eine neue Beziehung gesucht oder hatten Sie die Nase voll von Frauen?“
„Ich habe meine wiedergewonnene Freiheit genossen, ich habe aufgeatmet, ich konnte wieder sein, der ich war. Nicht dauernd aufpassen müssen, ob ein Fettnäpfchen herumstand; nicht nachdenken müssen, ob mir ein falsches Wort heraus gerutscht war; nicht mehr abchecken müssen, ob eine Geste oder Handlung als verletzend hätte verstanden werden können; keine Ausreden und Alibis mehr erfinden müssen, nur um Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen. Ich hatte endlich meine Ruhe.“
„Das muss ja die Hölle gewesen sein.“
„Man fühlt sich unwohl, falsch verstanden, auch verletzt, hilflos, ratlos, verlassen, einsam. Dann wieder Phasen des Hoffens auf eine Besserung oder einen Neuanfang. Nachher kommt einem erst zu Bewusstsein, wie man sich verkrümmt hat.“
„Wollten Sie wieder heiraten, falls Ihnen die richtige Frau über den Weg liefe?“
„Es lief keine. Jedenfalls keine, mit der ich noch mal eine Ehe riskiert hätte. Alle hatten ihre liebenswerten Seiten, aber eben auch andere, weniger erträgliche Eigenschaften und Gewohnheiten.“
„Und keine wollte ein Kind von Ihnen?“
„Doch. Aber unter diesen Umständen wollte ich nicht.“
„Welchen Umständen?“
„Der Mensch kann viele Menschen lieben. Sogar gleichzeitig. Bei mir war wirklich Ende der Exklusivität. Aber da passen meiner Ansicht nach keine Kinder rein.“
„Bei Ihrer Art von Liebe stirbt die Menschheit aber aus.“
„Wir haben doch Überbevölkerung.“
„Das deutsche Volk schrumpft.“
„Wie wollen Sie das verhindern?“
Kinder der Zukunft
… Ehegesetze abschaffen … Zeugung Sache des Staates … Erbgut natürlich nur
vom Feinsten … Bundesanstalt für Bevölkerungsreproduktion …
Jetzt musste Hirschberg hinter die Tür „Männer“. Als er zurückkam, gab er dem Gespräch eine neue Wendung. Dieses Herumrühren in Privatangelegenheiten schmeckte ihm nicht. Wofür gab es Psychotherapeuten?
Hirschberg: „Da es so ist, wie Sie es beschrieben haben, und es nicht nur für Sie so ist, sondern für viele, sollten wir, das heißt unsere Gesellschaft, konsequent sein: Alle Ehegesetze abschaffen, jegliche Familienpolitik einstellen, die Menschen sich paaren lassen, wie sie wollen, ohne irgendwelche Vorschriften – die meisten machen das ja sowieso –, keinerlei Exklusivität mehr – Sie merken, mir gefällt das Wort.“
Brendel ging auf Hirschbergs ironischen Kurs ein: „Das wäre ein tolles Wahlprogramm!“
Hirschberg: „Vor allem bei Frauen würde es verfangen. Kein Zurück an die Kochtöpfe, zum Säugen und zum Windelwechseln. Nur noch ein K: Karriere. Gleiche Karrierechancen für alle, besonders für Frauen. Zusammenleben mit wem und wie lange, mit wie vielen und wo und unter welchen Umständen – das alles nur noch wie es beliebt. Endlich sollte man die Realität akzeptieren und nicht dauernd eine Familienidylle der Vergangenheit beschwören. Moderne Frauen in einer modernen Welt – ohne Küche, ohne Kinder, ohne Kirche.“
„An Ihnen ist aber ein Wahlkämpfer verlorengegangen!“
„Das Ganze hat nur einen Haken: Wo kommt die Folgegeneration her. Denn mit der Unsterblichkeit in ewiger Jugend ist es noch nicht so weit.“
„Da muss der Staat für sorgen.“
Hirschberg schulterklopfend: „Sie haben recht. Anders geht es nicht.“
„Die Mütter lassen ihre Kinder gleich im Krankenhaus, von wo der Staat sie übernimmt.“
„Das ist mir nicht konsequent genug. Warum die Frauen noch mit den neun Monaten belasten? Das macht sie nur unförmig, anfällig und unzugänglich. Außerdem beeinträchtigt es die Karriere.“
Brendel, ganz Staatsmann: „Richtig. Die Zeugung ist Sache des Staates. Er steuert den Bestand des Volkes. Eine Reproduktionsanstalt wird errichtet. Das kann man doch nicht Privateinrichtungen oder gar Sekten überlassen!“
„Sehr gut! Dann hätten wir das Problem mit dem Aussterben gelöst: Es gäbe immer genug Deutsche mit Erbgut natürlich nur vom Feinsten – wenn die Beamten in der Bundesanstalt für Bevölkerungsreproduktion keine Fehler machen.“
„Du sagst es!“ Jetzt hatte Brendel Hirschberg geduzt. Der registrierte das zwar, ließ sich aber nichts anmerken. Bei nächster Gelegenheit würde er Achim sagen. Brendel weiter: „Männer und Frauen geben in ihren besten Jahren ihr Erbgut beim Staat ab, sagen wir beim örtlichen Gen-Amt der Bundesanstalt für Bevölkerungsreproduktion. Anschließend werden sie in ihren Fortpflanzungsfähigkeiten außer Kraft gesetzt.“
„Das ist jetzt konsequent, Achim! Jetzt muss nur noch die Lücke vor dem Kindergarten durch staatliche Betreuungseinrichtungen geschlossen werden. Wie das die DDR ja schon vorgemacht hat. So bekommen wir endlich das ganze Frauenpotential unserer Gesellschaft in die Wirtschaft. Keine Fehlinvestitionen mehr in Berufsausbildungen, die dann in Haushalt und Mutterschaft vergammeln.“
Brendel hob sein Glas und prostete Hirschberg zu. Er sah, dass Hirschbergs Glas leer war, und wollte schon bei Alexis bestellen, doch Hirschberg winkte ab: Nein, er wolle nichts mehr trinken. Dann stieg er wieder ins Thema ein: „Genau das wäre es: Der Staat baut Samenbänke auf, erstellt bestes genetisches Material, arrangiert erstklassige Zeugung, zieht in allem tüchtige Babys auf – die ersten drei Jahre sind ja bekanntlich die entscheidenden Lernjahre – anschließend Hort, Kindergarten, Schuleinrichtungen, Universitäten, Erwachsene, freie Menschen – frei von jeglichen Beziehungsnöten.“
Hirschberg hatte sich warm geredet: „Damit erreicht die Menschheit in ihrer Geschichte eine noch nie dagewesene Qualität. Was seit Adam und Eva nur qualvoll und risikoreich ging, die Frauen über Jahrtausende benachteiligte, das geht jetzt problemlos. Dank moderner Wissenschaft und moderner Staatskunst. Ist dir das klar, Achim? In Zukunft gibt es keinen Grund mehr für Ödipus-Dramen. Das Inzest-Tabu hat keine Grundlage mehr. Es gibt keine Verwandtschaft mehr. Nicht mehr Väter und Töchter, Mütter und Söhne, Schwestern und Brüder, Onkel, Tanten, Großväter, Nichten, Enkel – die ganze Mischpoke ist Schnee von gestern. Keine Gewissensbisse mehr. Endlich freie und unbelastende Liebe. Wenn das kein Quantensprung in der Menschheitsgeschichte ist!“
Hirschberg brach in lautes Lachen aus. Er sah, wie Brendel sein Glas austrank, und signalisierte nunmehr seinerseits Alexis, dass er noch zwei Glas Bier bringen solle.
Hirschberg: „Das System wird sich ständig verbessern und verfeinern. Die Welt wird die Deutschen nicht wiedererkennen. Ein neues deutsches Volk, das mit den Schattenseiten seiner Vergangenheit nichts mehr zu tun hat, geläutert ist durch seine Weiterentwicklung, konsequent auf die bessere Zukunft ausgerichtet. Wie viele Deutsche, in welchem Alter, welchen Geschlechts, welcher Charaktereigenschaften und welchen Intelligenzgrades – all das legen die Fachleute der Bundesanstalt für Bevölkerungsreproduktion nach Bedarf und wissenschaftlichen Erkenntnissen fest.“
Achim wurde plötzlich nachdenklich: „Aber wenn darüber Parteienstreit ausbricht?“
„Der wird aufgrund der neuen Menschen, die ja dann auch die Parteien bilden, wegmanipuliert.“
„Dann wird’s aber andererseits langweilig.“
„Was denn nun: Langeweile oder Streit?“
„Ich weiß nicht; vielleicht beides – wie in einer Familie.“
„Die haben wir gerade abgeschafft.“
„Wie in einer Partnerschaft.“
Hirschberg kamen neue Bedenken: „Aber wir könnten andere Probleme bekommen: Wenn durch eine Panne, sagen wir in der Samenbank, etwas passiert, beispielsweise Gen-Defekte auftreten, und die unentdeckt bleiben, was dann? Wenn ich mir das so ausdenke – nicht ganz ungefährlich unsere Zukunftsidee.“
„Ohne perfekte Kontrolle geht es nicht.“
„Stimmt. Bei staatlichen Kontrollen habe ich indes immer ein ungutes Gefühl. Wir müssten möglichst schnell den korruptionsfreien Menschen hinbekommen.“
„Wir brauchen ein perfektes Qualitätssicherungssystem.“
„Das gibt es nicht. Es gibt immer wieder Rückrufaktionen. Stell dir vor, es müssten ganze Generationen in die Kliniken zurückgerufen werden wegen eines Defekts!“
Brendel stand unvermittelt auf und ging zur Toilette. Hirschberg schmunzelte in sich hinein, hatte er sich doch mit seinen Phantasien ein wenig ausleben können. Wieder am Tisch, erklärte Brendel, er müsse jetzt nach Hause. Er zahlte und war im Nu weg.
Hirschberg war froh über diesen schnellen Abgang. Er hatte schon vor einer Weile überlegt, wie er die Situation beenden könne. Auf sein Handzeichen hin kam Alexis vom Familientisch. Hirschberg zahlte, er war der letzte Gast. Alexis fragte, während er das Geld einsteckte: „Wollen Sie sich nicht noch etwas zu uns an den Tisch setzen?“ – „Das ist sehr liebenswürdig, doch ich bin müde, ich muss nach Hause.“ Hirschberg dachte: Eine Familie, die zusammenhält, das ist die einzige menschengerechte Art von Generationenverbund.
Zuhause angekommen, ließ sich Hirschberg auf sein Bett fallen. Kein Ausziehen, kein Zähneputzen, kein Bettaufschlagen. So niedergeschlagen war er noch nie. Auf dem Heimweg war ihm durch den Kopf gegangen: Zu Ende gedachte sexuelle Emanzipation und zu Ende gedachte Gleichschaltung der Geschlechter führt in die elternlose und damit in die kinderlose Gesellschaft.
Der Staat, der noch nicht einmal seinen Haushalt dauerhaft in Ordnung halten konnte, der nur aus Katastrophen heraus zu einer gewissen Reformfähigkeit fand, der nie vor Korruption gefeit war, den Demagogen jederzeit okkupieren konnten – wie sollte der das Aussterben der ihn tragenden Gesellschaft verhindern können!
Weder die Wissenschaftler noch die Politiker konnten je ein Paradies schaffen. Wer das dennoch glaubte und deshalb die Gesellschaft in diese Richtung trieb, bereitete allenfalls dem Glück des Augenblicks den Weg, dem unausweichlich der Kater folgte. Hirschberg fiel in bleiernen Schlaf.