7.
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Projektarbeit

… Vorurteile widerlegt … ihre Neugier bewahrt … Lust am Lernen … nicht
nach Wohlgefallen … Stille des Nachdenkens … seine Risikobereitschaft

Die Infor­ma­tionen und Ideen, die Hirschberg für das Projekt „Schneider-Uni“ gesammelt hatte, standen in Stich­worten erfasst auf Zetteln. Diese hingen an der Pinnwand, und er war damit beschäftigt, sie zu Komplexen zusam­men­zu­stellen. Frau Michalski hatte erkundet, dass mehr als 50 Hochschulen Angebote für Senioren machen und dass man mit bald 30.000 Senioren-Studenten rechne. Unter den Univer­si­täten mit hohem Senio­ren­anteil bei den Studie­renden gehörte die Univer­sität Münster mit über 3.000.

Weitere Belege für die Bildungs­be­dürf­nisse älterer Menschen waren die Zunahme der Angebote von Sprach­rei­se­ver­an­staltern für Senioren und die Verkaufs­er­folge, die Verlage mit Senio­ren­zeit­schriften hatten. Die Sprach­rei­se­an­bieter kombi­nierten ihre Lernan­gebote mit Theater­be­suchen, geschichts­kund­lichen Ausflügen oder natur­kund­lichen Exkur­sionen. Sie fanden statt in reizvollen Gegenden wie Côte d’Azur, Andalusien, Toskana.

Seitdem Wissen­schaftler die Vorur­teile widerlegt hatten, ältere Menschen müssten natur­not­wendig geistig abbauen, wurde diese an Zahl zuneh­mende Bevöl­ke­rungs­gruppe mehr und mehr ernst genommen. Die intel­lek­tu­ellen Fähig­keiten nahmen im Alter keineswegs ab, wurde in den Studien festge­stellt, sie mussten nur trainiert werden. Auch Kreati­vität, so fand man heraus, ist vorhanden. Auf der Basis dieser Befunde trauten sich manche Veran­stalter, Heraus­for­derndes anzubieten – und die Senioren nahmen die Heraus­for­de­rungen an. Viele von ihnen machten beispiels­weise ein Zerti­fi­kats­studium, studierten also mit dem Ziel, einen bestimmten Quali­fi­ka­ti­onsgrad zu erreichen, und nahmen die entspre­chenden Verpflich­tungen, etwa eine vorge­schriebene Wochen­stun­denzahl, auf sich.

Was studierten diese Überfünf­zig­jäh­rigen? Was motivierte sie? Die Univer­sität Münster hatte beobachtet, dass es Menschen sind, die sich ihre Neugier bewahrt haben. Auch, dass sie in ihren jungen Jahren, manche während ihres ganzen Lebens gerne gelernt hatten. Bei einigen hatte sich geradezu Lust am Lernen entwi­ckelt. Sie wollten nachholen, was in ihren Berufs­jahren zu kurz kam. Viel belegtes Fach war Geschichte. Weniger belegt wurden natur­wis­sen­schaft­liche Fächer. Ansonsten große Inter­es­sen­vielfalt: Anthro­po­logie, Philo­sophie, Theologie, Recht, Theater­wis­sen­schaften, Kunst­ge­schichte und anderes. Auch schön­geistige Angebote, bei denen die Theorie durch eigene Übungen ergänzt wurde, fanden Anklang.

Ein Professor der Münchner Kunst­aka­demie, der mit großer Skepsis ein Projekt zu „Phantasie und Kreati­vität“ mit Senioren übernommen hatte, machte die Erfahrung, dass seine „älteren Semester“ nach einer Phase des Tastens und Testens zu Arbeits­weisen kamen, wie er sie vorher nur bei jungen Leuten erlebt hatte.

Ein Hamburger Professor und Chorleiter berichtete, wie seine Senioren-Schüler nach einigen Übungen, ihre Fähigkeit zu singen, entdeckt hätten, wie sie noch hätten das Noten­lesen lernen wollen oder sich mit Harmo­nie­lehre befassten. Auch hätten Teilnehmer seiner Veran­stal­tungen, die vor langen Jahren einmal ein Instrument spielten, diese Fertigkeit wiedergefunden.

In Südbaden wurde die erste Private Alten­uni­ver­sität eröffnet. 120 Studenten, Studi­en­ge­bühren zwischen 4.000 und 5.000 DM. Mäzene stifteten die ersten zehn Millionen, um das Projekt zu starten. 10 Millionen – das war doch ein Klacks für Schneider, falls er etwas Ähnliches auf die Beine stellen wollte, dachte Hirschberg.

Wo sollte man die Uni ansiedeln? Wie sollte der Lehrkörper zusam­men­ge­stellt werden? Was sollte sie anbieten? Welche Organi­sa­ti­ons­struktur sollte sie haben? Wie sollten Schneiders Finanz­mittel einge­setzt werden? In welcher Form sollte gestartet werden? Wie könnte die Endstufe aussehen? Alles Fragen, zu denen Hirschberg Vorstel­lungen entwi­ckeln wollte. Die meisten Ideen waren ihm zu Lehran­ge­boten gekommen. So dachte er beispiels­weise an eine mehrse­mes­trige Reihe über Personen, die nachhaltig die Geschichte geprägt haben, etwa Caesar, Augustus, Konstantin, Karl der Große, Napoleon. Vorle­sungen und Seminare an histo­ri­schen Orten.

Als litera­rische Reihe schwebten ihm Biogra­phien vor. Wenn Natur­wis­sen­schaften inter­essant darge­boten würden, fänden auch sie sicherlich Anklang. Seine Idee: Sinnes­täu­schungen. Was kann man glauben von dem, was man sieht und hört? Natürlich sollten die klassi­schen Wissens­be­reiche angeboten werden wie Philo­sophie, Theologie, aber auch Wirtschafts- und Sozial­wis­sen­schaften. Dazu Bildende Kunst und Musik. Der Fächer-Kanon könnte weit gesteckt sein.

Profil sollte die Univer­sität dadurch gewinnen, dass sie einer­seits – wo immer es ging – ihren Stoff an Personen festmachte und anderer­seits die Profes­soren und Dozenten – ausnahmslos – durch ihre Persön­lichkeit ihre ältere Studen­ten­schaft zu begeistern vermochten. Zum Start des Unter­nehmens sollten Spitzen­ver­an­stal­tungen das Niveau der Univer­sität deutlich machen. Um von vornherein keinen Zweifel an der Ernst­haf­tigkeit und dem auf Dauer angelegten Konzept aufkommen zu lassen, hielt Hirschberg zwei Zerti­fi­kats­stu­di­en­gänge für notwendig. Geeignete Fächer: Geschichte und Philo­sophie. Drum herum ein Kranz attrak­tiver Semes­ter­reihen. Welche? Das würde davon abhängen, welche Persön­lich­keiten man für das Angebot gewinnen könne. Die Profes­soren sollten verschie­denen Genera­tionen angehören: sowohl junge Nachwuchs­wis­sen­schaftler als auch arrivierte Hochschul­lehrer, auch emeri­tierte Größen ihres Fachs.

Das Telefon klingelte. Frau Schneider rief aus Mallorca an. Hirschberg: „Das läuft jetzt ja wohl ein wenig anders, als mit Ihnen besprochen.“

„Mein Mann hat halt immer das Sagen. Und auf kleiner Flamme kann er nicht kochen.“

„Vielleicht kann ich Ihr Vorhaben einbauen. Der Professor hat auf mich keinen schlechten Eindruck gemacht.“

„Nein, lieber nicht.“

„Haben Sie Zweifel bekommen?“

„Seine fachlichen Quali­täten kann ich nicht beurteilen. Er kommt gut an! Bei einer Veran­staltung hier im Haus waren meine Gäste begeistert. Nur: Er scheint – aus einem mir nicht bekannten Grund – das Interesse verloren zu haben.“

„Werden Sie in irgend­einer Form an dem Projekt beteiligt sein?“

„Vorerst nicht. Ich warte ab. Ihnen nochmal vielen Dank, dass Sie bereit waren, die Sache für uns zu übernehmen. Das Honorar dafür stellen Sie meinem Mann in Rechnung. Und, wenn Sie wieder mal in Mallorca sind, melden Sie sich!“

Die Frau war korrekt, sagte sich Hirschberg. Der Professor? Man sah, wie windig solche Bezie­hungen sind. Man musste vorsichtig sein, um nicht auf Sand zu bauen. Schneider ging da gewitzter vor. Für Hirschberg war die Sache nunmehr klargestellt.

Er ging wieder zu seinem Schreibpult und seiner Pinnwand. Standort? Gar keine Frage: Köln, nicht Palma. Hier gab es eine Univer­sität, eine Musik­hoch­schule; im Umkreis gab es die Uni in Bonn, die Kunst­aka­demie in Düsseldorf und die TH in Aachen. Schneider war Kölner. Von Anfang an sollte die Senioren-Univer­sität mit einem europäi­schen Anspruch auftreten, um trotz der patrio­ti­schen Geste des Stifters gegenüber seiner Heimat­stadt gar nicht erst provin­zi­ellen Klein­geist aufkommen zu lassen. Bereits im Titel musste das signa­li­siert werden: Europäische Hochschule für Senioren zu Köln. Auch in der Rechts­ge­stalt ließe sich das ausdrücken. Wenn Brüssel die Möglichkeit böte, eine Träger­stiftung Europäi­schen Rechts zu gründen, sollte man das tun. Das Europäische Parlament hatte zu Stiftungen einen entspre­chenden Entschlie­ßungs­antrag gestellt.

Über die Kosten, so entschied sich Hirschberg, würde er sich nicht detail­liert auslassen, sondern nur eine Größen­ordnung nennen. Die würde etwa bei 50 Millionen DM als Grund­aus­stattung für die Stiftung liegen. Die Erträge dieses Kapital­stocks müssten neben Studi­en­ge­bühren, Zustif­tungen und Spenden das Unter­nehmen „Schneider-Uni“ finanzieren.

Die Details der Rechtsform und das Finan­zie­rungs­konzept müssten von Fachleuten ausge­ar­beitet werden, wenn die grund­sätz­liche Entscheidung für das Projekt gefallen war. Die Vorbe­rei­tungs- und Einfüh­rungs­phase wäre mit einer groß angelegten PR-Kampagne zu begleiten, gemäß der alten Unter­neh­mer­weisheit: Wenn du eine Mark inves­tierst, musst du eine zweite haben, um dies bekannt zu machen. Hierzu wollte Hirschberg in seinem Konzept ein eigenes Kapitel bringen.

Damit war die erste Aufar­beitung seiner gesam­melten Unter­lagen und Notizen abgeschlossen. Die weiteren Arbeits­schritte: Die Themen­kom­plexe nach ihrer Festlegung weiter ausfä­chern und zu Kapiteln verar­beiten, Ergän­zungs­re­cherchen in Auftrag geben, die Reihen­folge der Kapitel bestimmen, erstes komplettes Ausfor­mu­lieren des Konzepts und schließlich zur Schluss­fassung überarbeiten.

Mehr und mehr band er Frau Michalski in die Arbeit mit ein. Schließlich druckte sie zwei Exemplare von jeweils 58 Seiten aus. Eines davon ging zu Schneider nach Köln. Wenige Tage später rief Hirschberg in Schneiders Büro wegen einer Termin­ab­sprache an. Doch Schneider war nicht erreichbar. Man werde sich nach Rücksprache mit ihm melden. Der Rückruf ließ auf sich warten und war dann auch nur ein Zwischen­be­scheid. Herr Schneider sei in den USA, mache anschließend Urlaub und werde nach seiner Rückkehr, etwa Ende August, einen Termin nennen.

Von wem Hirschberg gar nichts mehr hörte, war sein Neffe Joachim. Mit seiner Mutter hatte er seit seinem Besuch bei ihr mehrmals telefo­niert und dabei auch einmal nachge­fragt, wie es dem Sohn gehe. Sie hatte nichts verlauten lassen, lediglich erwähnte sie, dass er nach wie vor viel Stress habe. Sie hätte, ohne ihm als Berater zu nahe treten zu wollen, ja schon deutlich gesagt, dass er einen schlechten Rat gegeben habe. Vielleicht käme der Junge deshalb nicht mehr zu ihm. Das machte ihn traurig. Aber es gehörte zu seinen Prinzipien, Ratschläge nicht nach Wohlge­fallen, sondern nach bester Einsicht zu geben. Und wer ihn um Rat fragte, dem verwei­gerte er sich nicht. Anderer­seits drängte er sich keinem auf.

Was mit seinen Ratschlägen geschah, war recht unter­schiedlich. Da gab es die Rosinen­picker: Ausge­wählt wurde, was gefiel. Dann gab es die Spätzünder: Aus irgend­welchen vorge­scho­benen Gründen nahmen sie den Rat nicht an. Von diesen Kunden sagten ihm manche drei oder vier Jahre später, wenn er sie irgendwo wiedertraf, sie würden jetzt sehr erfolg­reich das und das machen – das war genau das, was Hirschberg ihnen vorge­schlagen hatte. Wieder andere bedankten sich, zahlten und ließen nie wieder etwas von sich hören. Am liebsten waren ihm die Kunden, mit denen man Projekte gemeinsam in die Tat umsetzen und zum Erfolg führen konnte. Er hatte mehrere solcher Aufträge, von denen einige schon über zehn Jahre liefen.

Mitte Juli zog sich Hirschberg für vier Wochen nach Mützenich zurück. Erneut hatte ihm Frau Michalski eindringlich nahe gelegt, jeden Mittag zu kochen. Jetzt, da er schon eine gewisse Übung habe, solle er nicht den Fehler machen, hin und wieder ein paar Tage zu überschlagen, er käme sofort aus der Übung, und die Gefahr, in die alte schlechte Gewohnheit des unregel­mä­ßigen Essens zu verfallen, sei sehr groß. Die Frau hatte Lebens­er­fahrung. Er gelobte, ihren Rat zu befolgen.

Zu den paar Sachen, die er mitnahm, gehörten auch zwei Bücher: eine Biographie Caesars und „Der Zauberberg“. In Ruhe mal wieder lesen, keine Fachli­te­ratur. Sein weiteres Programm: Der Termin mit Freund Werner in Berlin war für den 16. September festge­macht; hierauf wollte er sich gründlich vorbe­reiten. Mit einem befreun­deten Ehepaar, er war Schul­freund von ihm, war eine gemeinsame Wochen­end­fahrt nach Flandern und an die Küste verab­redet. Seine Tochter hatte in Aussicht gestellt, ihn mit Bob zu besuchen. Die Post ließ er sich nachschicken. Mit Ungeduld erwartete er den Brief seines Sohnes. Aber der kam während der ganzen Zeit nicht.

Die Zeit in der Eifel empfand Hirschberg als ein ideales Wechseln von konzen­trierter Arbeit zu gelas­senem Auspendeln, von anregender Gesel­ligkeit zur Stille des Nachdenkens, vom Eintauchen in die Natur zum Erfahren von Kultur. Mit den Freunden war er in Brüssel, Gent und Antwerpen. Seine Tochter kam ihn, wie in Aussicht gestellt, mit ihrem ameri­ka­ni­schen Freund besuchen. Ein toller Bursche, der ihrem intel­lek­tu­ellen Scharfsinn gewachsen war. Dort, wo sie überdrehte, fing er sie großartig ab. Seine Formel: „Richtig, aber nicht wichtig.“ Dann nahm er sie meistens in die Arme.

Manchmal reagierte er auch anders. Wenn sie glaubte, die letzt­mög­liche Diffe­ren­zierung gefunden zu haben, setzte er noch eine drauf – und schob damit das Ganze auf die Kante, bei der man nicht weiß, ob es noch ernst gemeint oder schon Ironie ist.

In den vier Wochen wurde Hirschberg wieder bewusst, welches Glück seine Selbstän­digkeit für ihn war. Das hatte er früher schon empfunden und seiner Frau gesagt, die erwiderte, dass er sich dies durch seine Selbst­dis­ziplin und seine Risiko­be­reit­schaft verdient habe. Er hatte ihr nicht wider­sprochen, aber hinzu­gefügt, dass es ohne ihren Beistand auch nicht möglich wäre. Dann schmusten sie und hatten sich lieb.

Enttäuschungen

… jegliche Lust verloren … neue Krüge für alten Wein … im Gewurschtel
verkeilt und verhakt … höflich verabschiedet … unglückliche Katha …

Zurück in Mehlem. Freund Werner ließ nachfragen, ob alles so bliebe, wie abgesprochen. Man teilte Hirschberg nochmal Ort und Uhrzeit mit, schickte das Ticket. Er hatte den Hinflug einen Tag vor seinem Auftritt buchen lassen, um sich die neue Haupt­stadt ansehen zu können.

Endlich kam auch der Brief seines Sohnes – mit deutschen Brief­marken und in Frankfurt abgestempelt, ohne Absender. Offenbar hatte er den Brief jemandem mitge­geben, der nach Deutschland flog. Der Brief war kurz: Ihm gehe es gut; er werde auf Dauer auf den Philip­pinen bleiben; denn er habe hier eine neue Heimat gefunden; demnächst komme er nach Deutschland, um sich einige Sachen zu besorgen; dann werde er ihm alles ausführlich schildern und erklären; er hoffe, dass er Verständnis für ihn habe; ob er ihm die Adresse seiner früheren Frau mitteilen könne. Hirschberg wusste sie nicht. Er bat Frau Michalski, sie heraus­zu­finden, was dieser nach einigen Mühen auch gelang.

Es gelang Hirschberg indes nicht, seine frühere Schwie­ger­tochter zu erreichen. Zuerst sprach er auf den Anruf­be­ant­worter. Als kein Rückruf kam, versuchte er nochmal. Ein Mann war am Apparat. Er werde seinen Wunsch um Rückruf ausrichten, erklärte der kurz angebunden. Auch jetzt kein Rückruf. Hirschberg stellte seine Bemühungen ein, Kontakt zu ihr zu bekommen. Es schmerzte ihn, ein Enkelkind zu haben, das er nicht einmal kannte. Die Mutter konnte doch nicht so tun und handeln, als lasse sich die Realität ihrer ersten Ehe auslö­schen. Das Mindeste wäre doch, noch irgendwie vonein­ander zu wissen, den Gesprächs­faden nicht ganz abreißen zu lassen. Offenbar wollte sein Sohn versuchen, da etwas in Ordnung zu bringen. Er hoffte darauf, dass er das schaffe.

Noch andere Post kam in diesen Tagen: ein Päckchen. Als er den Absender sah, wusste er, dass es sein Buchma­nu­skript war. Im Begleit­brief schrieb man ihm, leider passe sein Angebot nicht ins Verlags­pro­gramm, man habe nach seiner Ankün­digung etwas anderes erwartet, vielen Dank und alles Gute. Er raffte sich auf und rief den Lektor an. Der war überaus freundlich. Seine Enttäu­schung könne er verstehen, aber im Hause würde seit einiger Zeit sehr streng ausge­wählt, um auf dem Markt ein schär­feres Profil zu gewinnen. Der Wettbewerb zwinge dazu, und die Kosten und so weiter – zwecklos. Es brauchte Zeit, bis Hirschberg sich wieder aufge­rappelt hatte und in einer Verfassung war, um seine Berlin-Vorbe­rei­tungen weiterzuführen.

Am Tag vor seinem Abflug versuchte er, Schneider zu erreichen. Er wollte jetzt endlich den Termin absprechen. Nein, der sei den ganzen Tag über nicht erreichbar, aber um 18 Uhr etwa könne er nochmal versuchen. Tatsächlich, er wurde mit ihm verbunden.

„Ja, habe ich bekommen und auch gleich gelesen. Ist bestechend konse­quent durch­dacht…“, Hirschberg wartete auf das „Aber“, das nach solchen Einlei­tungen meistens kam – und es kam. „Aber bei mir hat sich die Situation – oder sagen wir besser – die innere Einstellung zu dem Projekt generell geändert. Wir haben die Steuer­fahndung im Haus. Die werden zwar nichts finden, die können gar nichts finden, weil wir clean sind, aber Sie wissen ja, es gibt immer strittige Fälle. Da kommen also mit Sicherheit ein paar langwierige Prozesse auf mich zu, obwohl der Gesetz­geber diese Anreiz­systeme alle selbst geschaffen hat. Wie die hier vorgehen, können Sie sich nicht vorstellen. Mein Vater hat mir mal erzählt, wie die Nazis seinen Laden durch­sucht haben. Nach dem, was ich hier erlebe, kann ich nur sagen: Früher kam die Gestapo, heute …“

„Heute leben wir in einem Rechts­staat!“, unter­brach ihn Hirschberg.

„Also unter diesen Umständen habe ich jegliche Lust verloren, mehr zu arbeiten als notwendig und schon gar nicht irgend etwas zu stiften oder mich ehren­amtlich zu engagieren, das werden Sie sicher verstehen!“

Hirschberg verstand, wünschte ihm, dass er ungeschoren aus der Sache herauskäme und man sich vielleicht bei Gelegenheit – in Mallorca? – wiedersehe. Nach dem Abend­essen ging er an den Rhein spazieren. Es war ein wunder­schöner Spätsom­mer­abend – aber harte Zeiten.

Am nächsten Morgen flog Hirschberg nach Berlin. In der Tat: Die Stadt hatte ihr Gesicht verändert. Er durch­streifte das neue Regie­rungs­viertel, ging – wie er es sich vorge­nommen hatte – durchs Branden­burger Tor und war am frühen Nachmittag wieder im Hotel. Er ging noch einmal das Manuskript für sein Referat durch, bestellte ein Taxi und war pünktlich an Ort und Stelle.

Freund Werner stellte ihn den 20 geladenen Personen vor und bat ihn um sein Impuls­re­ferat, wie er es nannte. Nach den einlei­tenden Artig­keiten: „Ich möchte Ihnen ein paar Gedanken, ein paar Gedan­ken­splitter vortragen, die deutsche Politik am Beginn des neuen Jahrhun­derts betreffen, deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.“

Mit ein paar Fragen suchte er das Interesse seiner Zuhörer zu wecken. „Als ich gestern und heute das neue Berlin sah, das Regie­rungs­viertel, das jetzt mehr und mehr in seine Funktion kommt, drängten sich mir Fragen auf: Ist hier etwas restau­riert worden oder entsteht hier etwas Neues? Handelt es sich um neue Krüge für alten Wein oder wird auch neuer Wein einge­füllt? Wird hier an alte Tradi­tionen angeknüpft oder das Deutschland des 21. Jahrhun­derts kreiert? Finden die Deutschen zu einer natio­nalen Identität zurück oder wird ein Versprechen aus den Sonntags­reden zum Kalten Krieg eingelöst? War Bonn wirklich ein Provi­sorium oder Haupt­stadt des freien Nachkriegsdeutschland?“

Er ging die einzelnen Fragen durch und schloss Forde­rungen an: „Ein der Freiheit und Gerech­tigkeit verpflich­tetes Deutschland braucht die Rückführung des Staates auf allen Ebenen und die Auflösung der Zwischen­ebenen mit all ihren Grauzonen, braucht prakti­zierte Deregu­lierung. Die Steuern, gleich welcher Art, dürfen nicht erhöht werden, sie müssen allesamt runter. Das schafft Kaufkraft und – ich betone das „und“ – Inves­ti­tionen. Menschen, die sich etwas zutrauen, die Ideen haben, die leistungs­bereit sind, brauchen Freiraum zur Verwirk­li­chung ihrer Vorstel­lungen und die Aussicht auf einen gerechten Lohn. Soziale Gerech­tigkeit wird zur Phantomjagd, wenn man den Unter­nehmern ihre Villen in Spanien oder Florida abjagen will.“

Er geißelte die Leute in den Hänge­matten der Sozial­po­litik: „Für die Zukunft Deutsch­lands brauchen wir erfolgs­hungrige und gut ausge­bildete junge Leute, nicht die satten und lebens­un­tüch­tigen Langzeit­stu­denten. Mehr Wettbewerb und mehr Erfahrung mit den Lebens­ri­siken müssen gerade die jungen Menschen zu mehr Lebens­tüch­tigkeit führen. Es muss sich ungleich mehr lohnen, in unsicheren Arbeits­ver­hält­nissen als in sicheren zu arbeiten.“

Nachdem er mit diesen und ähnlichen Sätzen seinem Ärger über die politische Entwicklung Luft gemacht hatte, ging er über zu der Frage, wie nach seinen Vorstel­lungen die Berliner Republik eine neue Aufbruch­stimmung erzeugen könne.

Am Ende seiner Ausfüh­rungen wurde er pathe­tisch, der verhin­derte Politiker kam zum Vorschein: „Deutschland steht vor der Wahl: Wollen wir uns durch­wurschteln wie bisher, bis alles im Gewurschtel verkeilt und verhakt ist, bis die Unter­nehmer dahin gegangen sind, wo sie ihre Talente besser entfalten können, bis die am besten ausge­prägte Fähigkeit der Deutschen das Demons­trieren und Streiken ist und bis der Staat alles regle­men­tiert, nichts dem Zufall geschweige denn dem Spiel freier Kräfte überlässt?“

Und weiter: „Um einen neuen Aufbruch möglich zu machen, schlage ich als ersten Schritt eine Verfas­sungs­än­derung vor: Der Bundes­kanzler, die Minis­ter­prä­si­denten, die Bürger­meister und Landräte dürfen in ihre Ämter nur einmal wieder­ge­wählt werden. Denn allein das garan­tiert das Ende der politi­schen Erbhöfe, hält die Parteien jung und den demokra­ti­schen Macht­wechsel funkti­ons­fähig. Alles andere bringt unsere Gesell­schaft weiter abwärts auf der schiefen Ebene der Bevor­mundung der Bürger durch den Staat. Freiheit und Gerech­tigkeit im Deutschland der Berliner Republik bekommen durch einen solchen ersten Schritt eine neue Chance.“

Noch ein paar weitere Vorschläge und Schluss­worte. Er erntete wohlwol­lenden Beifall. Die anschlie­ßenden State­ments – Diskussion wäre zu viel gesagt – waren durchweg zustimmend, aller­dings von der Art, sich das eine oder andere heraus­zu­picken, um eigene oder ähnliche Gedanken daran anzuhängen. Einige sprachen auch von Eulen, die Hirschberg nach Athen getragen habe.

Hirschberg wurde höflich verab­schiedet. Freund Werner begleitete ihn bis zum Aufzug und tröstete ihn damit, dass man realis­ti­scher­weise mehr habe nicht erwarten können. Sein Referat sei erfri­schend provo­zierend gewesen und habe eine ganze Fülle konstruk­tiver Anregungen enthalten. Genau das sei mit diesen Veran­stal­tungen beabsichtigt. Hirschberg öffnete nochmal seine Mappe; er holte das Buchma­nu­skript heraus, das ihm zurück­ge­schickt worden war. Er überreichte es Freund Werner mit den süffi­santen Worten: „Das ist das Abschieds­ge­schenk eines Rhein­länders an den deutschen Bundes­tags­ab­ge­ord­neten der Berliner Republik Dr. Werner Boone. Sie hatten mir ja empfohlen, meine Ansichten in Buchform zu bringen.“

Der Aufzug war da, schnelle Verab­schiedung, Abgang.

Zurück am Rhein überlegte Hirschberg, ob er sich nicht künftig mehr den schönen Dingen des Lebens widmen sollte. Er würde seine treuen Kunden pflegen, die übrige Zeit aber nicht mehr in neue Projekte inves­tieren, sondern seiner Erbauung widmen. Es gab so viele Bücher, die er noch lesen wollte. Schade, dass aus der Schneider-Uni nichts wurde, er wäre auch als Student dabei gewesen.

Während er so über seine Zukunft nachdachte, an eine ruhige und beschau­liche Zeit, klingelte das Telefon. Katha. Sie müsse dringend mit ihm sprechen. Ob sie am Abend – wann genau könne sie nicht sagen – zu ihm kommen und bei ihm übernachten dürfe.

Als sie endlich kurz nach zehn kam, war sie erschöpft und nieder­ge­schlagen. Sie kam direkt aus Mettmann und hatte noch nichts gegessen. Hirschberg machte ihr Abendbrot. Es quoll aus ihr heraus: „Ich habe mich von Günter getrennt. Nicht dass wir uns gestritten hätten. Man kann sich mit ihm gar nicht streiten. Er kann sich von seiner Mutter nicht lösen. Er gibt immer nach. Kann keine Konflikte austragen. Er ist ein Weichei. Auf die Dauer würde ich ihn erdrücken. Er gibt immer nach, und ich bin unglücklich. Er kann sich nicht wehren. Er ist zu gut für mich. Ich will ihm nicht weh tun. Ich habe Schluss gemacht. Es tut weh – ihm und mir. Aber es ist für uns beide besser. Heute morgen habe ich meine Sachen ins Auto gepackt.“

Sie schwieg, versuchte gefasst zu bleiben, war jedoch den Tränen nahe. Er setzte sich neben sie, legte den Arm um sie. „Wir reden drüber“, sagte er schließlich, „aber nicht heute“.

Er richtete ihr das Bett im ehema­ligen Zimmer seines Sohnes her. Wie früher seiner Tochter gab er ihr einen liebe­vollen Gutenachtkuss. Als auch er im Bett lag, konnte er lange nicht einschlafen. Er ließ sich seinen Berliner Auftritt nochmal durch den Kopf gehen, hing seiner Traurigkeit über die Ablehnung seines Manuskripts und das Aussteigen Schneiders aus dem Uni-Projekt nach, dachte an die unglück­liche Katha, die jetzt sicher Tränen vergoss.

Am nächsten Morgen bereitete er für sie und sich das Frühstück vor. Mit verheulten Augen und leerem Gesicht kam sie dazu. Sie trank kaum etwas, aß nichts. Ein Gespräch kam nicht zustande. Sie müsse zurück nach Mettmann. „Danke für Dein Verständnis. Aber da muss ich allein durch.“ Beim Abschied gab er ihr einen Hausschlüssel.

Das Jahr ging seinem Ende entgegen. Von Katha hatte er seit der tränen­reichen Nacht nichts mehr gehört. Frau Michalski kündigte zum Jahresende. Sie ziehe nun doch zu ihrem Mann nach Berlin. Da er ihr ja erzählt habe, nicht mehr so viel arbeiten zu wollen und ein guter Koch geworden sei, falle ihr der Abschied nicht so schwer. Er lud sie zu einem Abschieds­essen ins Redüttchen ein.

Silvester 1999. Hirschberg war allein. Er hatte lustlos ein wenig zu Abend gegessen und zappte durch die Fernseh­pro­gramme. Schließlich entschloss er sich, mal wieder einen Spaziergang am Rhein entlang zu machen.

Er ging strom­auf­wärts. Niemand begegnete ihm. Schließlich kehrte er um. Er strebte zurück in die warme Stube. Erste Raketen zischten in den Nacht­himmel und setzten nach mächtigem Knall ihren Farbregen aus. Gleich war es so weit: Der als globales Ereignis heraus­ge­stellte Jahres­wechsel in das Jahr 2000! Jetzt wollte Hirschberg doch nicht geradewegs nach Hause. Ihm war einge­fallen, lange nicht mehr das Grab seiner Frau besucht zu haben. Am Friedhof, der nachts geschlossen war, wusste er zwischen dem Zaun und einer angren­zenden Mauer eine Lücke. Die benutzte er schon mal, wenn er den Weg vom Grab nach Hause abkürzen wollte.

Zuhause würde zwar gleich das Telefon klingeln und er wider Erwarten nicht zu Hause sein. Seine Schwester würde ihm ein gutes neues Jahr wünschen wollen, auch seine Tochter. Katha? Ihm war nicht nach Telefo­nieren zumute. Die Erinnerung an seine Frau zog ihn zum Friedhof.

Um Hirschberg herum bahnte sich mehr und mehr das Spektakel zur Jahrtau­send­wende an. Feier­freudige Gruppen traten aus den Häusern. In Vorgärten und auf Terrassen wurden Raketen gezündet. Frauen gingen noch mal ins Haus und kamen in einen Mantel gehüllt zurück. Man stand in Gruppen zusammen, ein Glas Sekt in der Hand, Paare küssten sich, schmusten. Musik strömte aus offenen Türen, Stimmen­gewirr, Lachen. Manche kehrten nach wenigen Augen­blicken ins Haus zurück, weil es ihnen zu kalt war.

Jugend­liche warfen Knaller. Männer hatten ganze Raketen-Batterien aufgebaut und gefielen sich vor den zusam­men­ste­henden Frauen als Feuer­werks­meister. Unter A- und O‑Rufen der Bewun­derung regnete es Farben­pracht in den unter­schied­lichsten Formen. Es roch nach Pulver­dampf. Kleine grau-weiße Schwaden zogen über die Häuser davon.

Hirschberg bevor­zugte mehr und mehr die dunklen Straßen. Er wollte keine verwun­derten oder mitlei­digen Blicke auf sich ziehen. Dennoch konnte er nicht ganz vermeiden, an der einen oder anderen Gruppe vorbeizugehen.

So kam es, dass er eine etwas größere Gruppe vor einer Kneipe zu passieren hatte. Beim Näher­kommen beobachtete er, wie ein offenbar schon angetrun­kener Hüne die Gruppe unter­hielt. Breite Schultern, Stier­nacken, Wampe, Bluthoch­druck. Bis auf den Hosenbund unter der Wampe hatte er alles gelockert, was ihn hätte einzwängen können. Die Smoking­fliege hing offen über dem aufge­knöpften Hemd, die Ärmel etwas hochge­krempelt, keine Jacke.

Der Berserker grölte „So ein Tag, so wunder­schön wie heute“. Als er Hirschberg sah, wie dieser vorbei­hu­schen wollte, hielt er inne und sagte zu seiner Gruppe gewandt: „Na seht mal diesen Nacht­falter!“ Hirschberg wollte entwi­schen, doch der Bulle stellte sich ihm mit erhobenen Händen, in der einen ein leeres Glas, in den Weg.

„Hierge­blieben!“ herrschte er ihn an. „Was schleichst du hier herum? Du Nacht­schatten!“ Er sah Hirschberg ins Gesicht und fuhr fort: „Väterchen, dir ist wohl nicht zum Feiern? Wie? Das werden wir gleich ändern. He! Bring mal einer ein Glas und eine neue Flasche! Ich bin auch schon wieder trocken.“ Hirschberg wollte vorbei­tauchen, aber der Koloss hielt ihn am Ärmel fest. „Sieh mal, hier sind alles nette Leute. Trink mit uns auf das neue Jahrhundert! Lach ein bisschen! Sei kein Frosch!“

Glas und Flasche wurden gebracht. Hirschberg fauchte: „Lassen Sie mich los!“ – „Ich will dir doch nur Gutes!“ Der Schnapshüne ließ sich einschenken. Die anderen umringten die Beiden. Hirschberg zitterte am ganzen Leib. Eine der Frauen erkannte seine Not und sagte zu dem Ungeheuer: „Lass ihn!“ Hirschberg spürte, wie der Griff sich etwas lockerte. Er riss sich los und entschlüpfte. „Armleuchter!“, hörte er hinter sich.

Hirschberg fror. Damit ihm wärmer würde, begann er zu laufen. Außer Atem kam er zum Friedhof. Er setzte sich auf die Umrandung des Grabes, das dem seiner Frau gegenüber lag. Er hatte Tränen in den Augen. Nach einer Weile erhob er sich wieder, stellte er sich vor das Grab seiner geliebten Frau und betete.

Auf dem Heimweg schreckte ihn die Vorstellung der Einsamkeit in dem leeren Haus. War das sein Zuhause? War diese Einsamkeit sein Zuhause? Wo gehörte er hin? Wer gehörte zu ihm? Zu wem gehörte er? Ein Gefühl des Ausge­sto­ßen­seins überfiel ihn. Zu was war er nütze? Er bewegte sich doch nur noch auf ausge­tre­tenen Pfaden, war eher Zuschauer als Teilnehmer des Lebens. Ziellos ging er durch die Straßen.

Er stieß auf die Gastwirt­schaft, in der er früher zu Mittag aß, als er noch nicht kochen gelernt hatte. Gerade öffnete sich die Tür und heraus kam eine Gruppe älterer Leute. Ein warmer Hauch umwehte ihn, er ging hinein.


Jahres­rück­blick der Schildbürger

Alle Gesetze wurden aufgehoben.
Jetzt kann keiner mehr dagegen verstoßen.

Alle Wälder wurden abgeholzt.
Die Brand­stifter sind ratlos.

Alle Straßen wurden gesperrt.
Jetzt leben wir wieder unfallfrei.

Die Pille wurde verboten.
Wir haben wieder mehr Kinder.

Alle Atomkraft­werke wurden abgeschaltet.
Jetzt kann es keinen Gau mehr geben.

Kein Bau mehr von Flughäfen und Bahnhöfen.
Es herrscht Frieden im Land.

Die Uhrzeit wurde abgeschafft.
Keiner leidet mehr unter Stress.


Erste Stunden 2000

… Aufdringlichkeit zuwider … der Zustand seligen Vergessens … die Frauen
wollen’s exklusiv … ist doch nur Egoismus … stirbt die Menschheit aus … 

Vor einigen Jahren hatte eine griechische Familie die Wirtschaft übernommen. Seitdem hieß sie nicht mehr „Zum goldenen Anker“, sondern „Akropolis“. Einfache Küche, aufmerksame Bedienung. Alexis, der Sohn des Inhabers, richtete den Tisch her, an dem vermutlich die Gruppe saß, die gerade hinaus­ge­gangen war. Hirschberg wurde begrüßt. In der Gaststube saßen noch ein junges Paar und eine gemischte Gruppe. Am Tisch neben der Küche saß der um einiges ältere Bruder von Alexis, der Koch und der Vater der Familie. Bei ihm seine Frau und die jüngste Tochter, ein Teenager. Hirschberg wählte einen Tisch, von dem aus er den Raum überblicken konnte.

Alexis kam zu ihm, begrüßte ihn nochmal und meinte, man habe ihn lange nicht mehr gesehen. Etwas erstaunt fragte er: „Sie wollen das neue Jahrtausend bei uns beginnen?“ „Ich habe Hunger.“ Alexis schaute in Richtung seines Bruders, sagte „Einen Augen­blick, bitte!“ und ging zu seinem Bruder hinüber. Kurzer Wortwechsel, wieder bei Hirschberg: „Was soll es sein?“ „Ein Käsebrot und ein Bier.“ „Machen wir.“

Auf Hirsch­bergs Neben­tisch stand ein halbvolles großes Bierglas, abgestan­denes Bier. Der Aschen­becher war voller Kippen. Die Toilet­tentür ging auf und ein Mann mittleren Alters, der nicht gerade einen frischen Eindruck machte, kam raus, ging zum Nachbar­tisch, sah Hirschberg, nahm das Bierglas und setzte sich an Hirsch­bergs Tisch mit der Bemerkung „Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich ihnen Gesell­schaft leiste.“ Hirschberg war die Aufdring­lichkeit zuwider, aber er wollte keinen Aufstand machen.

Der Mann stank nach Alkohol und Zigaretten. „Stört es Sie, wenn ich rauche?“, fragte er. Er hatte schon die Packung in der Hand und begann, sich eine Zigarette heraus­zu­fingern. Hirschberg energisch: „Das würde mich sehr stören, und ich würde Sie bitten, an einen anderen Tisch zu gehen.“ Der Mann steckte mit einem Achsel­zucken die Zigarette wieder zurück.

Eine Weile saßen sich Hirschberg und der ungebetene Tischgast stumm gegenüber. Verstoh­lenes gegen­sei­tiges Mustern.

„Sind Sie schon mal versetzt worden?“, fragte schließlich der aufdring­liche Typ.

„Wie meinen Sie das? In der Schule bin ich immer versetzt worden.“

„Nein, so meine ich das nicht. Hat Sie schon mal einer sitzen lassen? Eine Frau?“

„Einmal. Damit war die Beziehung beendet.“

„Das ist gut. Sie sind konse­quent. Ich lasse mich dann immer wieder rumkriegen, obwohl die Ausreden alle gelogen sind.“

„Woher können Sie das wissen?“

„Das spürt man doch. Manche haben es auch nachher zugegeben.“

Hirsch­bergs Blick ging immer wieder zur Küchentür. Endlich ging sie auf und Alexis kam mit Käsebrot und Bier. Wie immer schob Hirschberg die Zwiebel­ringe vom Käse. Er mochte keine Zwiebelringe.

Er stellte seinem Tisch­ge­nossen die Frage „Was haben Sie denn für gute Vorsätze für das neue Jahr gefasst?“

„Gegen Vorsätze, die man nicht fasst, kann man auch nicht verstoßen. Nein, keine guten Vorsätze. Die halten doch höchstens ein paar Wochen. Warum soll ich mir ein schlechtes Gewissen machen? Warum solche Zwänge? Nicht mehr trinken! Ich brauche den Alkohol, wenigstens ein bisschen. Wie sollte ich sonst den Zustand seligen Vergessens finden?“

Hirschberg sah in wässerige blaue Augen. Er fragte streng: „Was wollen Sie vergessen?“

„Die Frauen wollen immer Exklu­si­vität.“ Das war keine Antwort, zeigte aber an, woher der Kummer kam. Immer dasselbe: Bezie­hungs­kisten. Jetzt wurde Hirschberg direkt: „Wohnen Sie in Bonn?“

„Ja, hier in Mehlem.“
„Aber aus der Gegend hier sind Sie nicht.“

„Ich stamme aus Hannover. Übrigens: Achim Brendel.“ Er erhob sich andeu­tungs­weise und hielt Hirschberg die Hand hin. Der machte keine Geste des Aufstehens, sondern reichte nur lax seine Hand rüber und sagte „Hirschberg“.

Brendel: „Ich musste unter Menschen. Waren nette Leute hier; sehr lustig. Eben sind sie weg. Die haben sich alle vorge­nommen, dieses Jahr nicht mehr zu rauchen. Drei Mal habe ich das auch schon versucht. Zwecklos. Ich kenne niemanden, der es auf Dauer geschafft hätte. Sie? Wie war doch der Name?“

„Hirschberg, nicht –bach, nicht –wald, sondern –berg, Hirschberg.“

„Kennen Sie einen, der es geschafft hat?“

Hirschberg blickte auf, sah in das Vollmond­ge­sicht ihm gegenüber. Er sagte: „Ja, ich kenne sogar mehrere.“ „Ich kenne keinen. Alle sind rückfällig geworden.“

„Die meisten wollen ja gar nicht ernsthaft. Ich vermute, Sie auch nicht. Sonst würden Sie sich das Aufhören nicht nur vornehmen, sondern konkrete Maßnahmen ergreifen, beispiels­weise eine Entzie­hungskur machen. Sie wollen nicht und tarnen sich mit der Rolle des Versagers.“

„Ich bin nicht süchtig. Ich bin weder nikotin-süchtig noch alkohol-abhängig. Ja, ich trinke manchmal einen über den Durst. Aber Alkoho­liker bin ich deshalb nicht.“ Er nahm sein Glas, trank aus und bedeutete Alexis, dass er ein neues Glas Bier haben möchte.

„Sich zu etwas zwingen, tun Sie ungern?“

„Warum sollte ich das? Ich bin ein freier Mann. Und ich will das Leben genießen.“

„Nur die Frauen wollen’s exklusiv.“

„Das habe ich eben gesagt, nicht wahr? Sie passen aber gut auf.“

„Was Sie damit meinen, verstehe ich aller­dings nicht.“ Hirschberg war mit dem Essen fertig und schob seinen Teller zur Seite. Sein Gegenüber: „Sind Sie verheiratet?“

„Gewesen.“

„Und jetzt leben Sie allein?“

„Meine Frau ist gestorben.“

„Meine Frau hat sich von mir scheiden lassen. Ich war auf Außen­dienst und hab’ da eine andere nette Person kennen­ge­lernt – das hat sie gemerkt und mir Terror gemacht. Sie wollte es exklusiv haben. Verstehen Sie jetzt?“

„Sie meinen, Ehefrauen sollten großzügig sein.“

„Ich kann eifer­süchtige Frauen nicht ausstehen. Das ist doch nur Egoismus. Warum soll ich denn nur einen Menschen lieben können!“

„Von all den Menschen, die Sie lieben, war heute Abend aber niemand in Ihrer Nähe. Sonst wären Sie nicht hierher unter Menschen geflüchtet.“

Der etwas wabbelig fette Mann mit sträh­nigen blonden Haaren, korrekt auf der rechten Seite gescheitelt, fuhr mit der Hand durch die Frisur, die dadurch etwas in Unordnung geriet. Er machte eine ratlose Miene. Er seufzte: „Ja, meine Freundin und ich, wir haben uns gestern leider gestritten. Wir konnten uns nicht einigen, wohin wir in dieser Nacht gehen, wo wir Silvester feiern sollten.“

„Ach ja! Und das war dann der Grund, getrennte Wege zu gehen.“

„In der letzten Zeit habe ich immer um des lieben Friedens willen klein beigegeben.“

„Die Frauen sind eben nicht mehr so, wie Frauen mal waren. Die wollen heute mindestens mitreden, lieber noch bestimmen, was gemacht wird. Früher gab es klare Verhält­nisse: Der Mann hatte das Sagen und las seiner Frau die Wünsche von den Lippen ab. Das waren gute Ehen.“

Brendel übernahm Hirsch­bergs lebens­klugen Tonfall: „Es kann immer nur einer bestimmen. Wenn eine Frau das nicht einsieht und immer das entschei­dende Wort haben will, muss man sie verlassen. Eine Zeit lang kann man ihr Recht geben, aber nicht auf Dauer.“

„Haben Sie Ihre erste Frau geliebt?“

„In den ersten Jahren über alles. Aber das kühlt ja ab. Und dann sieht man, dass andere Frauen auch etwas zu bieten haben.“

„Von diesem Kribbel-Glück der ersten Jahre kann man nie genug bekommen.“

„Es gibt so viele tolle Frauen!“

„Leider werden auch die älter.“

„Da sind wir Männer besser dran: Viele junge Frauen stehen auf erfahrene ältere Männer.“

Mit solch schalen Weisheiten plätscherte das Gespräch dahin. Hirschberg war hin und her gerissen: Sollte er Schluss machen und nach Hause gehen oder mit Ironie einfach weiter­plänkeln? Er mochte sich nicht entscheiden.

Das Paar in der hinteren Ecke hatte ausgiebig mitein­ander geschmust, jetzt gingen die beiden. Die Gruppe an dem Tisch schräg gegenüber saß noch in angeregter Runde, aber auch hier deutete sich das Ende an: Die Hälfte der Gläser war leer, dennoch wurde nicht mehr nachbe­stellt. Die Griechen-Familie saß am Tisch neben dem Tresen. Der Koch hatte Schürze und Mütze abgelegt. Feier­abend. Es wurde Wein getrunken und munter erzählt. Durch den Gäste­eingang kam ein junges Paar dazu, es war ein weiterer Sohn des Famili­en­ober­haupts mit seiner deutschen Freundin. Hirschberg kannte ihn, weil auch er hin und wieder bediente. Er rief Hirschberg „Ein gutes neues Jahr!“ zu.

Während Hirschberg noch bei seinen Beobach­tungen war, begann Brendel erneut zu reden. Er hatte Erzähl­drang und brachte jetzt seine Lebens­ge­schichte. Er musste sie los werden. Hirschberg ließ sich aufs Zuhören ein. Es stellte sich heraus, dass dieser Achim am heutigen Selbst­ver­ständnis der Frauen, zu denen er eine Beziehung hatte, immer wieder gescheitert war. Er war wohl in der Vorstellung groß geworden, dass ein Mann einen Beruf erlernt und dann eine Familie ernährt. Dafür bekommt er geordnete häusliche Verhält­nisse und die Befrie­digung seiner Liebesbedürfnisse.

Doch dann machte er ganz andere Erfah­rungen. Als erstes wollte seine Frau ihre Berufs­tä­tigkeit nicht aufgeben. „Zunächst sprach sie nur von vorerst. Als ich nach einigen Monaten nachfragte, wie lange denn noch, erklärte sie wieder, vorerst nicht. Sie wolle noch etwas Berufs­er­fahrung sammeln, sie wolle ihre Ausbildung nicht umsonst gemacht haben. Ich blieb hartnäckig und fragte nach einem halben Jahr erneut. Nein, sie könne sich nicht vorstellen, den ganzen Tag allein im Haus zu sein und auf mich mit dem Essen zu warten. Sie wolle unter Menschen sein. Aber wir hätten doch besprochen, Kinder haben zu wollen. Nein, noch nicht, später. Wir führten eine Ehe unter dem Vorbehalt der Worte ‚vorerst’ und ‚später’.“

Brendel war ganz ernsthaft geworden. Jetzt sprach ein um seine Lebens­er­war­tungen gebrachter Mann. Er berichtete von seiner Ehe als Feierabend‑, Wochenend- und Ferien­ge­mein­schaft, die solange eine Wonne gewesen sei, wie Leiden­schaft im Spiel war. Aber mehr und mehr habe man sich gestritten. Schließlich über die nichtigsten Dinge, wie zum Beispiel darüber, wer die Mülltonne auf die Straße stelle. Sie hätten sich am Anfang nach jeder Strei­terei immer wieder wunderbar versöhnt. Aber das habe sich abgenutzt. Ihm sei mehr und mehr klar geworden, dass er eigentlich eine andere Vorstellung von Ehe hatte wie seine Frau. Das habe ihn bedrückt. Die Beziehung sei erkaltet. Jeder sei mehr und mehr auch in der Freizeit eigene Wege gegangen. Er habe gelitten.

Eines Tages – Betriebs­ausflug – habe ihn eine Kollegin angesprochen. Sie seien ins Gespräch gekommen, und er habe ihr schließlich andeu­tungs­weise von seiner unglück­lichen Ehe erzählt. Die Kollegin habe sich sehr verständ­nisvoll gezeigt. Ihm habe das gut getan. Endlich war da jemand, mit dem er über seine Probleme sprechen konnte. Seine Frau habe durch einen dummen Zufall von der Beziehung erfahren und ihm eine Szene gemacht. Da damals noch Treue, also Exklu­si­vität, zu seinen Eheprin­zipien gehört habe, wäre es für ihn selbst­ver­ständlich gewesen, den Kontakt mit der Kollegin auf das rein Dienst­liche zu beschränken.

Seine Frau habe das indes bezweifelt. Ihrer­seits habe sie sich mehr und mehr auf ihre Karriere konzen­triert. Mit Erfolg. Sie sei ins Management aufge­stiegen. Sie habe mehr Geld verdient als er. Aller­dings mit der Konse­quenz, dass für ihre Ehe immer weniger Zeit blieb. Als er nochmals das Thema „Kinder“ zur Sprache gebracht habe, habe sie ihm erklärt, das könne sie sich nicht mehr vorstellen – höchstens mit Kinder­mädchen und Haushalts­hilfe, aber dafür verdiene er ja zu wenig. Da habe er endgültig gewusst, dass er die falsche Frau gehei­ratet habe. Als er von seiner Firma das Angebot eines Außen­dienst­postens bekommen habe, hätte er zugegriffen. Hirschberg: „Ende der Exklusivität.“

Brendel: „Meine Frau hat sich dann einen Hund angeschafft. Und einen Rechts­anwalt hat sie mit unserer Scheidung beauf­tragt. Der hat ihr als erstes geraten, sich eine eigene Wohnung zu nehmen.“

„Waren Sie mit der Scheidung einverstanden?“

„Unsere Ehe war nicht zu retten. Wir hatten uns ja bereits auseinandergelebt.“

„Haben Sie eine neue Beziehung gesucht oder hatten Sie die Nase voll von Frauen?“

„Ich habe meine wieder­ge­wonnene Freiheit genossen, ich habe aufge­atmet, ich konnte wieder sein, der ich war. Nicht dauernd aufpassen müssen, ob ein Fettnäpfchen herum­stand; nicht nachdenken müssen, ob mir ein falsches Wort heraus gerutscht war; nicht mehr abchecken müssen, ob eine Geste oder Handlung als verletzend hätte verstanden werden können; keine Ausreden und Alibis mehr erfinden müssen, nur um Ausein­an­der­set­zungen aus dem Wege zu gehen. Ich hatte endlich meine Ruhe.“

„Das muss ja die Hölle gewesen sein.“

„Man fühlt sich unwohl, falsch verstanden, auch verletzt, hilflos, ratlos, verlassen, einsam. Dann wieder Phasen des Hoffens auf eine Besserung oder einen Neuanfang. Nachher kommt einem erst zu Bewusstsein, wie man sich verkrümmt hat.“

„Wollten Sie wieder heiraten, falls Ihnen die richtige Frau über den Weg liefe?“

„Es lief keine. Jeden­falls keine, mit der ich noch mal eine Ehe riskiert hätte. Alle hatten ihre liebens­werten Seiten, aber eben auch andere, weniger erträg­liche Eigen­schaften und Gewohnheiten.“

„Und keine wollte ein Kind von Ihnen?“

„Doch. Aber unter diesen Umständen wollte ich nicht.“

„Welchen Umständen?“

„Der Mensch kann viele Menschen lieben. Sogar gleich­zeitig. Bei mir war wirklich Ende der Exklu­si­vität. Aber da passen meiner Ansicht nach keine Kinder rein.“

„Bei Ihrer Art von Liebe stirbt die Menschheit aber aus.“

„Wir haben doch Überbevölkerung.“

„Das deutsche Volk schrumpft.“

„Wie wollen Sie das verhindern?“

Kinder der Zukunft

… Ehegesetze abschaffen … Zeugung Sache des Staates … Erbgut natürlich nur
vom Feinsten … Bundesanstalt für Bevölkerungsreproduktion …

Jetzt musste Hirschberg hinter die Tür „Männer“. Als er zurückkam, gab er dem Gespräch eine neue Wendung. Dieses Herum­rühren in Privat­an­ge­le­gen­heiten schmeckte ihm nicht. Wofür gab es Psychotherapeuten?

Hirschberg: „Da es so ist, wie Sie es beschrieben haben, und es nicht nur für Sie so ist, sondern für viele, sollten wir, das heißt unsere Gesell­schaft, konse­quent sein: Alle Ehege­setze abschaffen, jegliche Famili­en­po­litik einstellen, die Menschen sich paaren lassen, wie sie wollen, ohne irgend­welche Vorschriften – die meisten machen das ja sowieso –, keinerlei Exklu­si­vität mehr – Sie merken, mir gefällt das Wort.“

Brendel ging auf Hirsch­bergs ironi­schen Kurs ein: „Das wäre ein tolles Wahlprogramm!“

Hirschberg: „Vor allem bei Frauen würde es verfangen. Kein Zurück an die Kochtöpfe, zum Säugen und zum Windel­wechseln. Nur noch ein K: Karriere. Gleiche Karrie­re­chancen für alle, besonders für Frauen. Zusam­men­leben mit wem und wie lange, mit wie vielen und wo und unter welchen Umständen – das alles nur noch wie es beliebt. Endlich sollte man die Realität akzep­tieren und nicht dauernd eine Famili­en­idylle der Vergan­genheit beschwören. Moderne Frauen in einer modernen Welt – ohne Küche, ohne Kinder, ohne Kirche.“

„An Ihnen ist aber ein Wahlkämpfer verlorengegangen!“

„Das Ganze hat nur einen Haken: Wo kommt die Folge­ge­neration her. Denn mit der Unsterb­lichkeit in ewiger Jugend ist es noch nicht so weit.“

„Da muss der Staat für sorgen.“

Hirschberg schul­ter­klopfend: „Sie haben recht. Anders geht es nicht.“

„Die Mütter lassen ihre Kinder gleich im Krankenhaus, von wo der Staat sie übernimmt.“

„Das ist mir nicht konse­quent genug. Warum die Frauen noch mit den neun Monaten belasten? Das macht sie nur unförmig, anfällig und unzugänglich. Außerdem beein­trächtigt es die Karriere.“

Brendel, ganz Staatsmann: „Richtig. Die Zeugung ist Sache des Staates. Er steuert den Bestand des Volkes. Eine Repro­duk­ti­ons­an­stalt wird errichtet. Das kann man doch nicht Privat­ein­rich­tungen oder gar Sekten überlassen!“

„Sehr gut! Dann hätten wir das Problem mit dem Aussterben gelöst: Es gäbe immer genug Deutsche mit Erbgut natürlich nur vom Feinsten – wenn die Beamten in der Bundes­an­stalt für Bevöl­ke­rungs­re­pro­duktion keine Fehler machen.“

„Du sagst es!“ Jetzt hatte Brendel Hirschberg geduzt. Der regis­trierte das zwar, ließ sich aber nichts anmerken. Bei nächster Gelegenheit würde er Achim sagen. Brendel weiter: „Männer und Frauen geben in ihren besten Jahren ihr Erbgut beim Staat ab, sagen wir beim örtlichen Gen-Amt der Bundes­an­stalt für Bevöl­ke­rungs­re­pro­duktion. Anschließend werden sie in ihren Fortpflan­zungs­fä­hig­keiten außer Kraft gesetzt.“

„Das ist jetzt konse­quent, Achim! Jetzt muss nur noch die Lücke vor dem Kinder­garten durch staat­liche Betreu­ungs­ein­rich­tungen geschlossen werden. Wie das die DDR ja schon vorge­macht hat. So bekommen wir endlich das ganze Frauen­po­tential unserer Gesell­schaft in die Wirtschaft. Keine Fehlin­ves­ti­tionen mehr in Berufs­aus­bil­dungen, die dann in Haushalt und Mutter­schaft vergammeln.“

Brendel hob sein Glas und prostete Hirschberg zu. Er sah, dass Hirsch­bergs Glas leer war, und wollte schon bei Alexis bestellen, doch Hirschberg winkte ab: Nein, er wolle nichts mehr trinken. Dann stieg er wieder ins Thema ein: „Genau das wäre es: Der Staat baut Samen­bänke auf, erstellt bestes geneti­sches Material, arran­giert erstklassige Zeugung, zieht in allem tüchtige Babys auf – die ersten drei Jahre sind ja bekanntlich die entschei­denden Lernjahre – anschließend Hort, Kinder­garten, Schul­ein­rich­tungen, Univer­si­täten, Erwachsene, freie Menschen – frei von jeglichen Beziehungsnöten.“

Hirschberg hatte sich warm geredet: „Damit erreicht die Menschheit in ihrer Geschichte eine noch nie dagewesene Qualität. Was seit Adam und Eva nur qualvoll und risiko­reich ging, die Frauen über Jahrtau­sende benach­tei­ligte, das geht jetzt problemlos. Dank moderner Wissen­schaft und moderner Staats­kunst. Ist dir das klar, Achim? In Zukunft gibt es keinen Grund mehr für Ödipus-Dramen. Das Inzest-Tabu hat keine Grundlage mehr. Es gibt keine Verwandt­schaft mehr. Nicht mehr Väter und Töchter, Mütter und Söhne, Schwestern und Brüder, Onkel, Tanten, Großväter, Nichten, Enkel – die ganze Mischpoke ist Schnee von gestern. Keine Gewis­sens­bisse mehr. Endlich freie und unbelas­tende Liebe. Wenn das kein Quanten­sprung in der Mensch­heits­ge­schichte ist!“

Hirschberg brach in lautes Lachen aus. Er sah, wie Brendel sein Glas austrank, und signa­li­sierte nunmehr seiner­seits Alexis, dass er noch zwei Glas Bier bringen solle.

Hirschberg: „Das System wird sich ständig verbessern und verfeinern. Die Welt wird die Deutschen nicht wieder­erkennen. Ein neues deutsches Volk, das mit den Schat­ten­seiten seiner Vergan­genheit nichts mehr zu tun hat, geläutert ist durch seine Weiter­ent­wicklung, konse­quent auf die bessere Zukunft ausge­richtet. Wie viele Deutsche, in welchem Alter, welchen Geschlechts, welcher Charak­ter­ei­gen­schaften und welchen Intel­li­genz­grades – all das legen die Fachleute der Bundes­an­stalt für Bevöl­ke­rungs­re­pro­duktion nach Bedarf und wissen­schaft­lichen Erkennt­nissen fest.“

Achim wurde plötzlich nachdenklich: „Aber wenn darüber Partei­en­streit ausbricht?“

„Der wird aufgrund der neuen Menschen, die ja dann auch die Parteien bilden, wegmanipuliert.“

„Dann wird’s aber anderer­seits langweilig.“

„Was denn nun: Lange­weile oder Streit?“

„Ich weiß nicht; vielleicht beides – wie in einer Familie.“

„Die haben wir gerade abgeschafft.“

„Wie in einer Partnerschaft.“

Hirschberg kamen neue Bedenken: „Aber wir könnten andere Probleme bekommen: Wenn durch eine Panne, sagen wir in der Samenbank, etwas passiert, beispiels­weise Gen-Defekte auftreten, und die unent­deckt bleiben, was dann? Wenn ich mir das so ausdenke – nicht ganz ungefährlich unsere Zukunftsidee.“

„Ohne perfekte Kontrolle geht es nicht.“

„Stimmt. Bei staat­lichen Kontrollen habe ich indes immer ein ungutes Gefühl. Wir müssten möglichst schnell den korrup­ti­ons­freien Menschen hinbekommen.“

„Wir brauchen ein perfektes Qualitätssicherungssystem.“

„Das gibt es nicht. Es gibt immer wieder Rückruf­ak­tionen. Stell dir vor, es müssten ganze Genera­tionen in die Kliniken zurück­ge­rufen werden wegen eines Defekts!“

Brendel stand unver­mittelt auf und ging zur Toilette. Hirschberg schmun­zelte in sich hinein, hatte er sich doch mit seinen Phantasien ein wenig ausleben können. Wieder am Tisch, erklärte Brendel, er müsse jetzt nach Hause. Er zahlte und war im Nu weg.

Hirschberg war froh über diesen schnellen Abgang. Er hatte schon vor einer Weile überlegt, wie er die Situation beenden könne. Auf sein Handzeichen hin kam Alexis vom Famili­en­tisch. Hirschberg zahlte, er war der letzte Gast. Alexis fragte, während er das Geld einsteckte: „Wollen Sie sich nicht noch etwas zu uns an den Tisch setzen?“ – „Das ist sehr liebens­würdig, doch ich bin müde, ich muss nach Hause.“ Hirschberg dachte: Eine Familie, die zusam­menhält, das ist die einzige menschen­ge­rechte Art von Generationenverbund.

Zuhause angekommen, ließ sich Hirschberg auf sein Bett fallen. Kein Ausziehen, kein Zähne­putzen, kein Bettauf­schlagen. So nieder­ge­schlagen war er noch nie. Auf dem Heimweg war ihm durch den Kopf gegangen: Zu Ende gedachte sexuelle Emanzi­pation und zu Ende gedachte Gleich­schaltung der Geschlechter führt in die elternlose und damit in die kinderlose Gesellschaft.

Der Staat, der noch nicht einmal seinen Haushalt dauerhaft in Ordnung halten konnte, der nur aus Katastrophen heraus zu einer gewissen Reform­fä­higkeit fand, der nie vor Korruption gefeit war, den Demagogen jederzeit okkupieren konnten – wie sollte der das Aussterben der ihn tragenden Gesell­schaft verhindern können!

Weder die Wissen­schaftler noch die Politiker konnten je ein Paradies schaffen. Wer das dennoch glaubte und deshalb die Gesell­schaft in diese Richtung trieb, bereitete allen­falls dem Glück des Augen­blicks den Weg, dem unaus­weichlich der Kater folgte. Hirschberg fiel in bleiernen Schlaf.

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