Das war doch ein Liebesbrief! Hirschberg fühlte sich mindestens 30 Jahre jünger. Er schob die Gefühle zurück: „An die Arbeit! Du alter Gockel!“, ermahnte er sich und ging nach oben in sein Büro. Am ehemaligen Arbeitsplatz von Frau Michalski konnte er es sich jedoch nicht verkneifen, sich dort Katha vorzustellen.
Am späten Nachmittag rief seine Tochter aus Los Angeles an. Sie hatte diesen Anruf schon angekündigt. Ihre Stimme war voller Begeisterung. Der Aufenthalt in New York sei großartig gewesen und die Besprechungen an der Columbia University ein voller Erfolg. Bobs Eltern hätten sie hier in L. A. mit offenen Armen empfangen. Sie sei überglücklich. Es gäbe viel zu erzählen, wenn sie das nächste Mal zu ihm käme.
Die Tochter so glücklich zu wissen, war für den Vater eine große Freude. Die Beziehung zu dem jungen Amerikaner hatte sich mehr und mehr vertieft. Die beiden waren ineinander verliebt, ohne dadurch den Boden unter den Füßen zu verlieren. Bob plante den zügigen Abschluss seines Studiums. Sein Deutschlandjahr ging im Sommer zu Ende. Zurück in New York wollte er zum nächst möglichen Termin sein Examen machen. Sie überlegte, ob sie mit ihm in die Staaten wechseln und dort ihr Studium fortsetzen sollte. Eine längere Trennung voneinander wollten sie nicht. Gar nicht so einfach in diesen vom Berufserfolg bestimmten Zeiten, Lebenswege zusammenzuführen. Aber da würde er sich nicht einmischen; das mussten die beiden selber regeln.
Sein Sohn – Hirschberg hatte gehofft, er würde sich in diesen Tagen melden. Aber nichts tat sich. Seit dem Brief im vorigen Jahr kein Lebenszeichen mehr. Der Brief hatte dem Vater die Hoffnung gegeben, der Sohn hätte endlich sein Glück gefunden. Zwar in der Ferne, aber immerhin nach vielen Enttäuschungen und seelischen Verletzungen. Hirschbergs Bemühungen, seinerseits Kontakt zu Thomas herzustellen, waren allesamt fehlgeschlagen – wie schon einmal, als der Sohn verschollen war. Wieder machte sich der Vater Sorgen, und die Freude über das Glück der Tochter wich der Trauer um den verlorenen Sohn.
Vor allem die Ungewissheit machte ihm zu schaffen. Hatte der Junge nun eine neue Heimat gefunden oder war zum wiederholten Mal etwas schief gelaufen? Er hatte nach Deutschland kommen wollen. Das klang so, als wäre er gewillt, hier endlich seine Verhältnisse zu ordnen: zu seiner Exfrau, zu seiner Tochter. Doch er kam nicht, war wieder unerreichbar. Schon mehrfach war Hirschberg der Gedanke gekommen, sich ins Flugzeug zu setzen und den Sohn zu suchen. Doch solche Aktionen waren wohl eher im Film erfolgreich als im wirklichen Leben. Er nahm sich vor, noch eine Weile zu warten, dann aber mit gründlichen und ausdauernden Nachforschungen zu beginnen. Der Junge konnte ja nicht vom Erdboden verschwunden sein. Oder war ihm etwas passiert?
Katha kam pünktlich um 9 Uhr zu ihrem Schnuppertag. Dezent, aber elegant gekleidet; keine Jeans und Tennisschuhe, sondern ein dunkelblaues Kostüm und dazu passende Schuhe mit halbhohen Absätzen. Kein Schmuck. Wenig Schminke. Die Haare hochgesteckt. Die Frau hatte Geschmack, wusste, was in welcher Situation angebracht war.
Hirschberg erklärte die hauptsächlichen Bürovorgänge. Also: Wie sie sich bei Anrufen melden solle; was schriftlich festzuhalten sei; wo sie was finde; welches Brief-Layout wann verwendet würde und einiges mehr. Dann nannte er ihr die Hauptkunden und beschrieb deren Aufträge. Sie bat um eine Pause, um sich Notizen machen zu können. Dabei kamen ihr noch einige Fragen. Sie nahm die Sache sehr ernst. Hirschberg war begeistert, zeigte das aber nicht, sondern blieb seinerseits – wie sagten seine Neffen und Nichten – ganz cool.
Zum Mittagessen lud er sie in ein renommiertes Godesberger Restaurant ein, in dem Politiker, hohe Beamte und Lobbyisten zu verkehren pflegten. Sozusagen ein Geschäftsessen. Einige der Gäste waren Hirschberg bekannt. Den einen oder anderen grüßte er. Am Tisch erzählte er Katha leise, wer was war. Später nannte er ihr einige seiner Vorhaben für dieses Jahr. Sie stellte Fragen. Bevor sie gingen, informierte er sie, dass er am Nachmittag zu einem Termin nach Köln fahre. Wenn sein Neffe Joachim bis dahin nicht da gewesen sei, möge sie ihm den Umschlag geben, der auf seinem Schreibtisch liege. Das seien Familiendokumente für seine Schwester, die er nicht mit der Post schicken wolle. Joachim sei heute in Bonn bei einem Kunden.
Beim Verlassen des Lokals blieb Hirschberg an einem der Tische stehen, einer der Herren erhob sich und begrüßte ihn per Handschlag. Sie wechselten ein paar Worte Small Talk. Katha lernte an diesem Tag einen ganz anderen Hirschberg kennen.
Als Joachim um 4 Uhr noch nicht gekommen war, machte sich Hirschberg auf den Weg nach Köln. Er käme erst spät zurück. Sie brauche nicht auf ihn zu warten. Sie könne Schluss machen, sobald der Neffe da war.
Rheinfahrt mit dem Zug
… keine Schwäche zeigen … beobachtete sein Gegenüber … Südafrikaner
europäischer Herkunft … der Landschaft aufgezwungen …
Das Besuchswochenende bei seiner Schwester stand bevor. Er hatte beschlossen, mit dem Zug zu fahren. Zu dieser Jahreszeit bevorzugte er die Bahn, weil er das Wetterrisiko bei längeren Autofahrten im Winter mittlerweile scheute. Man wusste nie, was einen beispielsweise im Westerwald erwartete. Katha, die zu einem weiteren Schnuppertag im Haus war, hatte angeboten, ihn zum Bahnhof zu fahren. Seine Schwester hatte arrangiert, dass Joachim ihn in Frankfurt abholte. So würde die Reise angenehm werden.
Missmutig saß er dennoch mit Katha beim Frühstück. Er hatte schlecht geschlafen. Mitten in der Nacht war er wach geworden, hellwach, und hatte bis gegen morgen nicht mehr einschlafen können. Eigentlich hatte er gar keine Lust nach Frankfurt zu fahren. Einen Moment überlegte er, einfach abzusagen. Ihm war kalt und vielleicht hatte er ja eine Grippe im Leib. Er fror immer, wenn eine Krankheit im Anzug war. Katha war mit einer leichten Erkältung gekommen. Vielleicht hatte sie ihn angesteckt.
Voller Stolz erzählte sie ihm von ihrem erfolgreich abgelaufenen Turnier am Wochenende. Zwar gab es einige unvorhergesehene Probleme, die wurden aber von ihr ohne größeren Ärger gelöst. Als Anerkennung zahlte ihr der Chef sogar einen Bonus. Hirschberg tat so, als höre er interessiert zu. Doch Katha merkte, dass er abwesend war und schlechte Laune hatte. Abrupt brach sie ihre Erzählung ab, wartete einen Moment und sagte dann:
„Du hast keine Lust zu fahren.“
„Überhaupt keine.“
„Und was tust du?“
„Ich fahre natürlich.“
Nein, er wolle keine Schwäche zeigen, er wolle nicht launenhaft erscheinen. Katha hielt sich mit Reden nunmehr zurück, fragte nur, ob sie etwas für ihn tun könne. Wann er zurückkomme. Schade, dann sei sie wahrscheinlich nicht da, so dass sie ihn nicht abholen könne.
Hirschberg hatte einen Fensterplatz an der Rheinseite des Zuges. Er versuchte zu schlafen, vergeblich. Sich auf etwas konzentrieren, die Zeitung lesen, die er sich am Bahnhof gekauft hatte, mochte er auch nicht. Außer ihm war niemand im Abteil. Der Schaffner kam, entwertete die Fahrkarte und fragte, ob er einen Wunsch hätte. Er hatte keinen. Er starrte in das trübe Weißgrau, durch das der Zug unbeirrbar und zielsicher hindurch fuhr.
In Koblenz stieg ein junger Mann zu. Das machte Hirschbergs Absicht hinfällig, die Vorhänge zuzuziehen, den Sitz gegenüber zu sich heranzuziehen und die Beine darauf hochzulegen. Der neue Fahrgast zog seinen Daunenmantel aus, stemmte seine beiden Koffer auf die Gepäckablage und ließ sich auf dem anderen Fensterplatz nieder.
Draußen lichteten sich die Wolken, das andere Flussufer wurde sichtbar, die Sonne kam hin und wieder durch. Die Landschaft war winterlich. Die Weinberge lagen unter einer dünnen Schneeschicht. Da er im ersten Zugwaggon mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß, konnte er im großen Rheinbogen vor Boppard die Wagen am Ende des dahin rauschenden Lindwurms sehen. Ja, sie gehörten zu diesem Zug, auch wenn es im ersten Moment so aussah, als könnte es ein anderer Zug sein. Auf dem Rhein schoben sich tief im Wasser liegende Lastschiffe mit Bugwelle voraus stromaufwärts, holländische Flaggen, auch schweizerische, einmal eine deutsche. Bisweilen stand auf der Frachtabdeckung ein Personenwagen, der fahrbare Untersatz für den Landgang. Gelegentlich hastete ein hoch im Wasser liegendes, also leeres Frachtschiff stromabwärts. Der Himmel klarte auf, die Rheinidylle mit Burgen und malerischen Städtchen erstrahlte.
Hirschberg beobachtete sein Gegenüber. Der junge Mann, kräftig gebaut, sonnengebräunt und blond, sah mit der Entzückung eines Touristen aus dem Zugfenster, orientierte sich anhand eines Prospekts, den er aus der Brusttasche gezogen hatte. „Sie fahren zum ersten Mal diese Strecke?“, sprach er ihn an. „Ja, zum ersten Mal, very nice!“ Sie kamen ins Gespräch. Er war Bure, aus Kappstadt. Hirschberg erläuterte ihm die vorbeiziehenden Sehenswürdigkeiten, nannte ihm Namen wie Boppard, Burg Maus, St. Goar; bei der Loreley wurde er etwas ausführlicher. Schließlich die Pfalz bei Kaub. Hirschberg erzählte von Blücher, der hier den Rhein in der Neujahrsnacht 1813/14 mit seinen Truppen Richtung Westen überquerte. Bei Waterloo, südlich von Brüssel, besiegte er später zusammen mit Wellington Napoleon. Aber das interessierte den Südafrikaner europäischer Herkunft weniger. Er hatte Verwandte besucht, in Holland und in der Eifel. Jetzt war er auf der Heimreise; ab Frankfurt mit der Lufthansa.Die schöne Aussicht auf den Rhein und seine Landschaft mit Jahrhunderte alter Kultur wurde mitunter jäh unterbrochen: Gegenzüge brausten dazwischen. Ihre Druckwelle brachte die Gangtüre zum Scheppern, der Lärm erstickte jedes Wort. Von Zeit zu Zeit verschluckte ein Tunnel den Zug. Das ruhige Vor-sich-hin-Summen verwandelte sich in ein dröhnendes Heulen. Im fahlen Licht der Zugbeleuchtung stiegen an den Tunnelwänden weiße Streifen auf und ab.
Bingen mit dem Mäuseturm lag hinter ihnen. Auf der anderen Seite lagen im Licht der flachen Wintersonne die Berge des Rheingaus. Auch jetzt hätte Hirschberg das eine oder andere noch erzählen können, beispielsweise über den Johannisberg oder das Kloster Eberbach, aber er wollte sich nicht aufdrängen. Die Römerzeit war schon lange vorbei und Karl der Große lange tot. Als sie den Rhein Richtung Frankfurt überquert hatten, schnitt er ein ganz anderes Thema an: Die künftige Hochgeschwindigkeitsstrecke von Köln nach Frankfurt. Fahrzeit der Züge 76 Minuten. Bis zu 300 km pro Stunde schnell. Seit vier Jahren war die Strecke im Bau. Die Inbetriebnahme war für 2002 geplant. Die Kosten dieses verkehrstechnischen Fortschritts waren mit 12 Milliarden D‑Mark veranschlagt. Eine Fahrt wie heute den Rhein entlang würde in Zukunft so etwas wie die Fahrt mit einer Museumseisenbahn sein, Nostalgie, Urlaubsvergnügen.
Hirschbergs Mitreisender fragte, ob er ihn zu einer Tasse Kaffee in den Speisewagen einladen dürfe. Er lehnte dankend ab. Es gefiel ihm mehr, wieder allein im Abteil sein zu können. Er hatte genug geredet.
Mit dem Zug zu fahren, war die richtige Entscheidung gewesen. Nicht nur wegen schlechten Wetters, das ihn hätte erwischen können, sondern auch wegen der vielen Einschränkungen auf der A3, die vorgenommen worden waren, um die neue ICE-Strecke entlang der Autobahn zu bauen. Die Trasse war der Sieg der Bagger über die Landschaft. Hügel und Berge wurden tief eingeschnitten oder durchtunnelt, Täler überbrückt. Wurden früher Autobahnen und Bahnstrecken der Landschaft angepasst, so wurden sie heute der Landschaft aufgezwungen. Als Naturliebhaber konnte man das bedauern und beklagen, aber der Mensch machte sich eben die Erde untertan – unaufhaltsam, immer brutaler.
Aus solch schnellen Zügen noch die Landschaft wahrzunehmen – das war nicht möglich. Er war mal von Mannheim nach Stuttgart in einem Vorläufer dieser dahin schießenden Personentransporter gefahren: geräumig, komfortabel, ähnlich wie im Flugzeug. Aber im Flugzeug fühlte er sich mehr naturverbunden als in diesen Geschwindigkeitsmaschinen. Im Flugzeug nahm man die Geschwindigkeit nicht wahr; man hatte den Eindruck, in großem Abstand über das Land dahinzugleiten, man spürte die umgebende Luft. Besonders wenn es durch Turbulenzen ging, war klar, dass die Naturgewalt herrschte und nicht der Mensch. Man erlebte Sonnenauf- und Sonnenuntergänge. Fliegen war naturangepasste Technik, keine aufgezwungene.
In den modernen Zügen tat das Begleitpersonal so, als seien sie Stewards, Stewardessen – aber sie waren es nicht, vermochten es nicht zu sein. Wer sich an frühere, hoheitliche Zeiten des Bahnfahrens erinnern konnte, sah in ihnen immer noch den Fahrkartenkontrolleur, den Schaffner, dem man jetzt zusätzlich das Kellnern zur Aufgabe gemacht hatte, dem man versucht hatte klarzumachen, dass die Bahn ein Service-Unternehmen sei.
Um das Fahren durch die Tunnel zu einem modernen Kunsterlebnis zu machen, hatten Designer schon Ideen. Das hatte er neulich auf einer Vernissage von einem Kunstmakler erfahren. Nach einer Analyse der Wahrnehmungsfähigkeiten des menschlichen Auges bei hohen Geschwindigkeiten hatte man herausgefunden – so erzählte er –, wie man Formen und Farben, Objekte und Reliefs, Lichtinstallationen und Scheinwerfer auf eine Wand auftragen beziehungsweise an der Wand anbringen muss, damit der vorbeisausende Fahrgast ein stehendes Bild oder einen Film sieht. Hirschberg verstand nicht so ganz, was ihm sein Gesprächspartner bei Sekt, Saft und Häppchen enthusiastisch darzustellen versuchte, aber der Mann war vom Fach.
Als Händler beriet er namhafte Unternehmen beim Einkauf von Kunstwerken für ihre repräsentativen Räumlichkeiten, betreute im Auftrag von Sponsoren junge Künstler und organisierte Kunst-Events. Die seit Jahren ansteigenden Besucherzahlen in den Museen hatte er genau im Kopf und konnte deshalb mit der Feststellung verblüffen, dass mittlerweile weitaus mehr Menschen ins Museum als ins Fußballstadion gehen. Bahnfahren als Kunsterlebnis – damit sei die Bahn die Reiseattraktion der Zukunft. Hirschberg machte wohl ein etwas ungläubiges Gesicht. Mit einem freundlich-mitleidigen Lächeln wandte sich der Kunstfachmann von ihm ab, er ließ er ihn einfach stehen.
Frankfurt war erreicht. Der Südafrikaner war rechtzeitig aus dem Speisewagen zurückgekommen und hatte sich artig verabschiedet. Auf dem Bahnsteig hielt Hirschberg nach Joachim Ausschau. Plötzlich stand Margret, seine Frau, vor ihm. Joachim sei verhindert, deshalb habe sie es übernommen, ihn abzuholen. Auf der Fahrt nach Königstein wurde nicht viel gesprochen. Er merkte, dass sie sich auf den Verkehr konzentrierte, und hielt sich zurück. Erst als sie aus Frankfurt heraus waren, fragte er nach den Kindern, um das Schweigen nicht peinlich werden zu lassen. Denen gehe es gut; die liebten ihre Großmutter heiß und innig; sie, die Mutter, müsse aufpassen, dass sie nicht allzu sehr verwöhnt würden.
Geschwister
… aus seiner Haut nicht herauskam … viel zu viel Angriffsfläche … geriet in
Wallung … zehn Jahre jüngerer Onkel … nicht mehr der kleine Bruder …
Die Begrüßung durch seine Schwester war geschwisterlich herzlich, aber nicht innig. Man kannte sich schließlich von Kindesbeinen an, stammte aus dem gleichen Nest, ging aber unterschiedliche Lebenswege und war in so manchem unterschiedlicher Meinung, wie etwa bei Hirschbergs letztem Besuch, als sie sich über Unternehmensführung unterhielten.
Warum sie ihn um diesen Besuch jetzt gebeten hatte, wusste er nicht. Führte sie etwas im Schilde? Wollte sie ihn mit etwas überraschen? Was hatte sie vor? Er würde es bald erfahren. Zunächst vorsichtiger, abtastender Umgang miteinander. Atmosphäre aufbauen. Wie es mit der Gesundheit sei? Auch bekannte wunde Punkte wurden mit harmlos netter Stimme angespielt. Ob Hannelore denn bald Examen mache? Hirschberg fragte sich: Weiß sie noch nichts von der Bekanntschaft mit Bob? Er verriet nichts.
Mittagessen, Nachmittagskaffee. Und dann kam es: Joachim und seiner Firma gehe es im Moment nicht so gut. Seinen Hauptkunden habe er verloren. Das sei sicher nur eine Durststrecke, und bald werde er den Verlust wohl wieder ausgeglichen haben. Hirschberg hörte zu, enthielt sich jeden Kommentars, obwohl ihm einiges auf der Zunge lag. Schließlich machte sie eine Pause, sah ihn an und sagte: „Ich muss ihm unter die Arme greifen.“
Jetzt ahnte Hirschberg, worum es ging: „Du willst deinen Teil aus unserem Depot.“
„Genau das. Was glaubst du, wie viel das ist?“
„Schwer zu sagen.“
„Wegen der schwankenden Kurse. Ungefähr?“
„Zwischen fünfzig- und sechzigtausend vielleicht.“
„Wie lange brauchst du?“
„Wie eilig ist es?“
„So schnell wie möglich.“
„Brennt es?“
„Die Bank sitzt ihm im Nacken.“
„Ich werde sofort, wenn ich zurück bin, mit unserem Betreuer sprechen.“
Hirschberg stellte keine weiteren Fragen. Wenn die Mutter der Meinung war, es sei lediglich ein vorübergehendes finanzielles Problem ihres Sohnes, dann wollte er sie nicht hindern, das zu tun, was sie für angebracht hielt. Er war anderer Meinung als sie, hatte den Neffen intensiv beraten, jedoch feststellen müssen, dass ihr Sohn aus seiner Haut nicht herauskam, seine Gewohnheiten nicht zu ändern vermochte, an seinen Anschauungen krampfhaft festhielt. Mit seiner Schwester wollte er darüber nicht in Streit geraten. Er hielt sich deshalb zurück.
Das Depot zu teilen, war kein Problem. Die Frage war nur, ob der Zeitpunkt dazu günstig war. Es handelte sich um die Ersparnisse der Eltern Hirschberg, die diese hinterlassen und die der Sohn für sich und seine Schwester hatte vermehren können. Nun erhielt also der Neffe hälftig den ‚Notgroschen’, wie die Eltern ihr Gespartes genannt hatten. Ob die Schwester erwartete, dass er seine Hälfte dazu gäbe – statt unangebrachter Ratschläge? Ihm tat es um das Geld seiner Schwester leid, von dem er glaubte, dass es Joachims Firma nicht retten würde. Aber vielleicht irrte er sich ja. Er hielt den Mund. Seine Schwester schlug vor, ein wenig an die frische Luft zu gehen.
Draußen war es knackig kalt. Das Tempo, mit dem seine Schwester ging, war für ihn zu langsam, so dass er fror. Er bekam eisig kalte Füße und war froh, als sie wieder zurück ins warme Haus kamen. Der Abend verlief harmonisch. Sie zeigte ihm Dias von ihren letzten Reisen. Er stellte die eine oder andere Frage, war anfangs interessiert, später amüsiert über den unermüdlichen Eifer, mit dem ihm alles dargestellt wurde, und schließlich – es nahm kein Ende – gelangweilt.
Am nächsten Vormittag – es war sonniges Winterwetter – fragte Hirschberg seine Schwester, ob sie es übel nähme, wenn er eine Wanderung mit schnellem Schritt allein unternähme. Nein, wäre sie nicht. Mittagessen. Ob Joachim denn nicht mal auf einen Sprung reinschaue, ließ er fallen. Nein, der habe zu tun. Deshalb werde morgen früh auch nicht er, sondern wieder Margret ihn zum Bahnhof bringen. Der Junge ging ihm offenbar aus dem Weg. Er könne mit der S‑Bahn fahren, bot Hirschberg an. Nein, nein, das komme nicht infrage.
Das Besuchsprogramm bei Hirschbergs Schwester lief weiter: Nachmittagskaffee, Abendessen. Schön, dass er gekommen sei. So habe man sich mal wieder austauschen können, sagte sie. Wie er denn ohne Frau Michalski klar komme? Er komme klar, ließ der Bruder zurückhaltend wissen. Sie habe ja von Joachim sicherlich schon gehört, dass er derzeit so etwas wie eine Aushilfe habe.
„Soll sie die Arbeit von Frau Michalski denn nicht übernehmen?“
Hirschberg spielte die Angelegenheit herunter: „Das ist wahrscheinlich nur vorübergehend.“
„Aber sie ist schon da.“
„Sie hat bisher nichts anderes gefunden.“
„Jung und sehr hübsch, so hat Joachim sie beschrieben.“
„Soll ich mir eine hässliche alte Fettel ins Büro setzen?“
„Kann sie denn was?“
Diese Verhörfragen mochte Hirschberg überhaupt nicht.
„Sie studiert noch.“
„Was denn?“
„Ich glaube Germanistik.“
„Weißt du das nicht?“
Seine Schwester ging ihm auf den Nerv.
Er wehrte sich: „Ich bin nicht so neugierig wie du.“
Sie ignorierte den Hieb.
„Hast du eine Annonce aufgegeben? Willst du nicht allein im Büro sein?“
„Weder noch.“
„Aber du hast sie doch gesucht.
„Sie ist mir zugelaufen.“
„Hunde laufen einem zu, nicht Menschen. Kennst du sie näher?“
„Was heißt näher? Wir sind uns begegnet, und dann ergab sich, dass sie einen Job suchte.“
„Was heißt begegnet? Auf der Straße oder wo? Sei doch nicht so einsilbig!“
Das Gespräch wurde ihm immer unangenehmer. Er hätte es gerne abgebrochen. Aber er hatte ja eigentlich nichts zu verbergen. Seine Schwester führte ein eintöniges Leben und suchte daher am Leben anderer teilzunehmen. Daraus konnte man ihr keinen Vorwurf machen. Aber die Art, wie sie einen ausfragte, das war ihm zuwider. Dennoch: Er entschloss sich, ihr entgegenzukommen. Er erzählte, wie er Katha in Palma kennengelernt und in Köln wiedergetroffen hatte. So hoffte er, sie zufrieden stellen zu können. Aber weit gefehlt.
„Was sagen denn die Nachbarn? Die haben doch sicher auch schon etwas gemerkt?“
„Ich weiß nicht, was sie sagen. Und mir ist es auch egal.“
„Urlaubsbekanntschaft. Das schmeichelt dir wohl! Worauf hat sie es denn abgesehen?“
„Natürlich auf mein Vermögen. Worauf denn sonst?“
Er wollte sich in Ironie flüchten.
„Klar, was sollte eine so junge Frau und dazu noch attraktiv an einem Mann, der fast ihr Großvater sein könnte, auch sonst finden? Gehst du denn mit ihr auch in die Disko?“
„So jung ist sie nun auch wieder nicht. Außerdem mag sie keine Diskos. Sie hat Gefallen an gediegenen älteren Herrn mit Lebenserfahrung. Spricht doch nicht gegen sie? Oder?“
„Entschuldige, aber ich muss lachen. Was will sie denn von dir? Die spielt doch nur mit dir. Die hat doch mit Sicherheit einen Freund – und du darfst ein bisschen Papa sein. Vielleicht ist sie oder war sie schon mal verheiratet. Weißt du mehr über sie oder nur das, was sie dir erzählt hat?“
„Ich habe sie nicht ausspionieren lassen.“
„Die könnte doch leicht ein Doppelleben führen. Vielleicht hat sie mehrere Adressen.“
„Du liest zu viel Kriminalromane.“
„Heute ist doch alles möglich. Fühlst du dich zu ihr hingezogen? Bist du ihr verfallen?“
„Sie heißt nicht Marlene Dietrich.“
„Aber irgend etwas muss dir doch an der Frau liegen, wenn du nach der Begegnung in Palma die Bekanntschaft fortgesetzt hast und sie jetzt als Sekretärin einstellst.“
Er hätte ihr nichts erzählen sollen. Jetzt hatte sie viel zu viel Angriffsfläche und war wie ein Jagdhund auf der Fährte. Er schwieg.
Sie insistierte: „Mach dich doch nicht lächerlich. Die probiert, ob sie dich vereinnahmen kann, dann nimmt sie dich aus und auf einmal ist sie wie vom Erdboden verschwunden. Ich staune über deine Vertrauensseligkeit. Von schönen Frauen muss man sich fernhalten! War das nicht einmal ein Grundsatz von dir? Ich meine, mich daran zu erinnern.“
„Du kennst sie nicht und doch unterstellst du ihr lauter böse Absichten. Nur weil Joachim dir erzählt hat, sie sei eine schöne Frau.“
„Er war begeistert von ihr. Er habe noch nie eine so schöne Frau gesehen. Und dir sei, meinte er, wohl alles zuzutrauen. Hat sie mit dir geschlafen?“
Hirschberg geriet in Wallung. Was äußerst selten geschah, er wurde laut: „Und wenn, geht dich das etwas an?“ Sein zorniger Blick verriet ihr: Jetzt hatte sie ihn aus der Fassung gebracht. Sie legte scheinheilig nach: „Du hast recht, das ist deine Sache. Aber Alter schützt vor Torheit nicht. Davor würde ich dich als deine Schwester gerne bewahren. Außerdem: Was sollen deine Nichten und Neffen, deine Großnichten und Großneffen, meine Enkelkinder sagen, wenn du als Opa mit so einem jungen Ding auftauchst? Wie soll ich denen das erklären? Womöglich wird die noch schwanger von dir, da kämen doch Familienverhältnisse zustande, die keiner nachvollziehen kann. Ein zehn Jahre jüngerer Onkel oder eine Babytante würden geboren. Mach dich und uns doch nicht vor aller Welt lächerlich!“
Jetzt hatte sie die Fassung verloren, während er seine ob dieser Absurditäten wiederfand. Von oben herab: „Du machst dich lächerlich, nicht ich. Es gibt keinen Grund zur Sorge, in keiner Weise. Und wenn doch – Alter schützt vor Torheit nicht, hast du gesagt –, dann werde ich mich von dir und deiner Familie zurückziehen. Allzu viel Kontakt besteht ja ohnehin nicht.“
Sie lenkte ein: „Versteh mich nicht falsch! Ich meine keineswegs, dass du unbedingt Witwer bleiben musst, aber bei dieser Katha – so heißt sie doch – scheinen mir alle Voraussetzungen zu fehlen, im Gegenteil, solche Menschen sind gefährlich – und du lässt dich drauf ein. Katha – was ist das überhaupt für ein Name?“
Er mit einem provozierenden Unterton: „Sie hat den wunderschönen Namen Katharina. Der ist dann irgendwann von irgendwem zu Katha verkürzt worden. Nicht zu Käthe und nicht zu Kati.“
„Ich höre da eher Katastrophe.“
„Wer sie kennenlernt, kommt auf andere Ideen. Jeder Argwohn löst sich da schnell auf.“
„Bei mir löst sich da gar nichts auf. Ich finde es ungeheuerlich, wie leichtsinnig du dich in deinem Alter in Gefahr begibst.“
„Ich bin noch nicht tot.“
„Aber du spielst mit dem Feuer. Wer mit dem Feuer spielt, kommt darin um.“
„Soll ich sie wieder vor die Tür setzen? Vielleicht braucht sie einen wie mich, weil ihre Schönheit ein Problem, ein Hindernis für sie ist, weil sie ständig den Verdacht hat, die Männer lieben nicht sie, sondern nur ihr Äußeres.“
„Ach du meine Güte! Jetzt kommt die Mitleidsmasche. Helfersyndrom heißt das, glaube ich. Willst du den Heiratsvermittler für sie spielen oder wie soll ich das verstehen?“
„Ich kann ihr keinen Mann besorgen, aber ich kann ihr einen Job bieten, damit sie kein Freiwild ist.“
„Hat sie denn keine Eltern?“
„Die leben getrennt.“
„Ach, das auch noch. Soll sie doch zu ihrem Vater gehen.“
„Zu dem hat sie kein gutes Verhältnis. Außerdem ist der dauernd im Ausland.“
„Das arme Kind, ausgeliefert dieser bösen Welt, wenn sie mein Bruderherz nicht beschützt. Nein, was bist du einfältig!“
Hirschberg gab auf: „Ich gehe schlafen. Ich werde tun, was ich für richtig halte. Und du hältst dich bitte raus. Vielleicht mache ich Fehler, vielleicht habe ich schon einen Fehler gemacht. Aber ich bin erwachsen und nicht mehr der kleine Bruder. Unser Depot lasse ich nächste Woche teilen, da kann dir also nichts verloren gehen. Gute Nacht!“ Im Abgang hörte er noch ein kleinlaut klingendes „Gute Nacht!“ ihrerseits.
Der nächste Tag war so ein Wintertag, an dem es gar nicht richtig hell wird. Schneeregen aus dichten tief hängenden Wolken. Das war das Wetter, das Hirschberg froh sein ließ, im Zug und nicht im Auto zu sitzen. Am Morgen beim Frühstück hatte seine Schwester sich bei ihm entschuldigt. Sie habe ihm nicht zu nahe treten wollen, sie mache sich halt schnell Sorgen. Dafür könne sie nichts. Sie habe eben viel gesehen und gehört und wisse daher, was alles passieren könne, wenn man nicht aufpasse. Er hatte abgewunken und gemeint, wegen ihm brauche sie sich keine Sorgen zu machen.
Heikles Gespräch
… Segen oder als Fluch … als Person annehmen … kann Schönheit nicht
ertragen … Vorahnung von Vollkommenheit …
Müdigkeit überkam Hirschberg auf der Heimfahrt von Frankfurt. Seine Zeitung war ihm schon zweimal aus den Händen geglitten. Er schaltete die Leselampe aus, zog sich seinen Mantel übers Gesicht und schloss die Augen. In der Nacht hatte er kaum geschlafen. Ihm war durch den Kopf gegangen, wie es wäre, wenn seine Schwester doch nicht ganz unrecht hätte. Er glaubte zwar, sich in Katha nicht zu täuschen, aber niemand konnte einem anderen in den Kopf oder ins Herz sehen. Kannte er sie wirklich? Hatte er sie ausreichend beobachten können, um zu sehen, wie sie sich wann verhielt? Nein. Was war, wenn sie unter Druck geriet? Was er über ihren bisherigen Lebensweg aus ihren Erzählungen wusste, ließ nicht gerade auf Zielstrebigkeit schließen. Spielte sie nicht unbewusst ihre Schönheit aus, indem sie sehr genau beobachtete, wie andere auf sie reagierten.
Fragen über Fragen kamen ihm in den Kopf. Wo waren die Fallstricke? Was war noch alles im Verborgenen? Müsste er nicht doch mehr aufpassen? Wie könnte er sich schützen? Um kein Risiko einzugehen, müsste er sie in der Tat wegschicken. Wenn er den jetzigen Zustand länger beibehielt, würde das aber immer schwieriger werden. Denn – das musste er sich eingestehen – er mochte sie. Was für ein Schmerz würde es sein, wenn sie ihn verließ, einfach wieder auszog? Weil sie auf einen Mann ihrer Generation traf, in den sie sich verliebte und mit dem sie zusammenzog? Das wäre doch der natürliche Lauf der Welt, und er würde ihr nicht einmal böse sein können. Wahrscheinlich würde sie sagen: Wir bleiben gute Freunde. Dann würde sie mit ihrem Freund schmusen und nicht verstehen, dass er sich abwandte und traurig war, statt sich mit ihr zu freuen.
Nach unruhigem und kaum erholsamem Schlaf wurde er schließlich wieder wach. Um sich zu orientieren, wo der Zug mittlerweile war, schaute er hinaus in die nasskalt eingewehte Landschaft. Die Schilder der Bahnstationen waren schneebehaftet. Erst als sie durch einen etwas größeren Bahnhof fuhren, erkannte er den Ort: Andernach. Jetzt nicht mehr einschlafen! Denn bis Bonn war es nicht mehr weit. Er las noch etwas in der Zeitung, machte sich in Godesberg aussteigfertig, ging zum Ausgang, nahm am Bonner Bahnhof ein Taxi und war froh, als er wieder zuhause war. Seine Schwester hatte ihn wohl nur eingeladen, um ihm Vorhaltungen wegen Katha zu machen. Die Sache mit dem Depot hätten sie auch am Telefon regeln können.
Der nächste Tag war ihr dritter und letzter Schnuppertag. Sie kam wieder am Abend.
„Wie war die Reise?“, fragte sie.
„Ohne Probleme.“
„Du warst sicher froh, dich für den Zug entschieden zu haben.“
„Bei dem Wetter heute ganz sicher.“
„Und wie war es bei deiner Schwester?“
„Ich glaube, sie kommt mit dem Alleinsein nicht gut zurecht.“
Er schwieg und sie spürte: Er war zum Reden nicht aufgelegt. Also schwieg auch sie. Beim gemeinsamen Abendessen blieb es bei „Kannst du mir mal den Käse reichen?“ oder auch nur ein Hindeuten auf das, was man haben wollte. „Danke“ und „Bitte“. Mehr nicht. Er erschrak über sich, als er feststellte, sie nicht mehr unbefangen ansehen zu können. Die Situation verkrampfte. Denn seine Hemmung teilte sich ihr mit. Sie beobachtete ihn fortwährend. Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. So hatte sie ihn noch nicht erlebt. Da musste ihm eine Laus über die Leber gelaufen sein. Hatte das mit ihr zu tun? Sollte sie ihn ansprechen? Oder abwarten? Wäre er morgen wieder der, den sie kannte? War bei seiner Schwester etwas vorgefallen, über das er nicht reden wollte? Sie entschied sich fürs Abwarten. Ohnehin würde sie bald auf ihr Zimmer gehen.
Nach dem Abräumen war sie schon dabei, sich zurückzuziehen. Sie wollte gerade sagen, dass sie noch etwas lesen und dann ins Bett gehen wolle und ihm eine „Gute Nacht“ wünsche, da sagte Hirschberg etwas, das er nie hatte sagen wollen, das er nie hatte zum Thema machen wollen, das er eigentlich als Tabu behandeln wollte. Er hörte sich sagen: „Dass du eine schöne Frau bist, weißt du.“
Sie drehte den Kopf zu ihm, sah ihn forschend an – und schwieg. Er: „Empfindest du das als Segen oder als Fluch?“
Sie fragte sich: Worauf will er hinaus? Es war genau dieses Thema, das sie nicht ausstehen konnte. Aber Männer konnten offenbar nicht anders, als darauf anzuspielen. Mit Komplimenten aller Art. Aber dabei blieb es natürlich nicht. Da hatte sie schon viel erlebt. Manche versuchten ihre Annäherung dümmlich und plump, andere mit großem Raffinement, wieder andere ehrlich und unverblümt, noch andere mit unendlicher Ausdauer, einige hinterhältig, einige erpresserisch. Zuwider war ihr das alles.
Jetzt dachte sie: Warum muss er das ansprechen? Warum kann er nicht darüber hinwegsehen? Bisher war das kein Thema. Keinerlei Kompliment in diese Richtung. Hatte er sich bisher nur zurückgehalten? Er war als Mann wohl noch nicht so alt, dass er jenseits von gut und böse lebte. Konnte auch er sie nicht vorbehaltlos als Person annehmen? Hatte sie sich falschen Hoffnungen hingegeben? Immerhin seine Fragestellung „Segen oder Fluch“ verriet, dass er die Zweischneidigkeit ihrer äußeren Erscheinung sah. Hatte er mit seiner Schwester über sie gesprochen?
Sie lehnte sich an die Tür, durch die sie eben noch entschwinden wollte, blickte ihn mit weiten herausfordernden Augen an, nicht gewillt, ihm zu antworten. Über sein Gesicht huschte ein verlegenes Lächeln. Er nahm seinen Blick von ihr und mehr in sich hineinsehend: „Ich habe nicht vor, dir zu nahe zu treten. Aber es ist nun mal so, dass zwischen Männern und Frauen das Äußere eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Wir sind keine Geister, sondern aus Fleisch und Blut. Da ich in früheren Jahren eine Weile im Film- und Fernsehmilieu gearbeitet habe, weiß ich, dass Schönheit Probleme mit sich bringt.“
Unwirsch nahm sie ihn an: „Ich glaube nicht, dass mir dieses Milieu gefallen würde.“
Hirschberg ging auf ihren Einwurf nicht ein. Statt dessen ging er in Vorlage, wie er es immer tat, wenn er merkte, dass ein Thema seinem Gesprächspartner Unbehagen bereitete. Er erzählte ein Beispiel.
„Meine Schwiegermutter hatte eine Schwester und einen Bruder. Beides stattliche Menschen. Den Bruder habe ich noch kennengelernt, von der Schwester habe ich nur Fotos gesehen. Sie galt als Schönheit. Man erzählte, dass ihr die Männer zu Füßen lagen. Geheiratet hat sie keinen. Sie konnte sich nicht entscheiden. Wie hätte sie das auch? Drei Mal hat sie sich auf einen Verehrer eingelassen. Jedes Mal wurde sie enttäuscht, empfand sie sich getäuscht. Danach verstellte ihr Misstrauen jedem Mann den Zugang zu ihr. Annäherung war nicht mehr möglich.“
Katha kam zurück zum Küchentisch und setzte sich. Hirschberg ging auf und ab, während er weitererzählte.
„Ihr erster Verehrer war nicht in der Lage, sie auch nur annähernd als Person zu begreifen. Er war besessen von ihrer Schönheit und wollte sie besitzen. Als ihr das bewusst wurde, schlug sie ihm hart auf die Finger, wann immer er ihr zu nahe kam. Da zog er sich zurück. Der zweite Verehrer, den sie annahm, war seinerseits wohl auch eine anziehende Erscheinung. Er war es vermutlich gewöhnt, dass die Frauen seinem Werben erlagen. Als die schöne Schwester das nicht sogleich tat, erwachte der Jäger in ihm. Als er sie schließlich bekommen hatte, wurde er schon bald seiner Beute überdrüssig und suchte sich eine neue Frau seiner Begierde.“
„Worauf willst du hinaus?“
„Ich wette, du hast ähnliche Erfahrungen wie die Schwester meiner Schwiegermutter gemacht.“
„Und warum müssen wir darüber reden?“
„Weil es uns beiden hilft, wenn wir dieses Thema nicht unausgesprochen lassen.“
„Was für ein Problem hast du damit?“
„Es steht zwischen uns. Du siehst in mir einen älteren Mann, hältst mich aber, so denke ich, nicht für einen Greis. Ich mag dich, schätze dich, glaube dich auch schon ein wenig zu kennen, bin aber sehr unsicher, ob ich dein Äußeres ignorieren kann, ignorieren muss – um keine Empfindlichkeiten zu wecken. Als Person möchte ich dich besser kennenlernen; dein Äußeres gehört dazu. Meine Frage ist, wie du selbst damit umgehst: Segen oder Fluch?“
Noch einmal wehrte sie sich und sagte patzig: „Ich habe exakt 90 – 60 – 90.“
„Ich merke, du magst das Thema nicht.“
„Das ist kein schönes Thema. Genauso wenig wie die Geschichte, die du erzählt hast. Aber da ich, da wir davon betroffen sind und du es jetzt hochgespielt hast – reden wir darüber. Wäre meine Mutter nicht – ich hätte in der Tat ein Problem damit, ich wüsste nicht, wohin ich geraten wäre. Was willst du wissen?“
„Es muss kein unschönes Thema sein. Denk an die vielen großartigen Darstellungen von Liebe und Schönheit in der Literatur!“
„Die in der Regel als Tragödie enden.“
„Sieh es nicht so düster!“
„Wie ist denn die Geschichte mit der Schwester deiner Schwiegermutter ausgegangen?“
„Du hast recht: traurig. Sie hat es noch ein drittes Mal zugelassen, dass ein Mann ihr nahe kam. Er war ihr geradezu hörig wie der Professor der Dietrich im Blauen Engel. Sie glaubte, wenn sie das Sagen habe, könne sie auch den Verlauf der Beziehung steuern. Doch an einem Waschlappen hatte sie dann auf Dauer doch keinen Gefallen. Sie stieß ihn als charakterlos von sich, blieb allein, vereinsamte, verfiel dem Alkohol und hat eines Tages alle Gashähne ihres Küchenherdes aufgedreht.“
Nach einer Pause sagte Hirschberg: „Die Wirklichkeit ist banal, gemein, hinterhältig und grausam.“ Und dann: „Die Welt kann Schönheit nicht ertragen. Sie wird missbraucht.
Schönheit ist aber auch eine Vorahnung von Vollkommenheit. Wir sehnen uns danach. Wenn wir sie erkennen, geht uns das Herz auf, erfasst uns unbändige Freude. In allen Marienerscheinungen ist von einer schönen Frau die Rede.“
Er setzte sich jetzt auch an den Küchentisch, ihr gegenüber, und fuhr fort. „Andererseits: Eine auf äußere Maße reduzierte Schönheit ist teuflisch. Ohne Liebe ist Schönheit kalt. Pornographie macht mich nicht an, sondern macht mir eine Gänsehaut.“
„Bei den lüsternen Blicken, die mich täglich treffen, erfriere ich fast.“ Sie blickte vor sich hin. Dann, den Blick fest auf ihn gerichtet: „Jetzt mache ich dir ein Geständnis: Bei dir war mir bisher nicht kalt. Missbrauche das bitte nicht!“
„Ich habe auch eine Bitte: Wann immer ich dir zu nahe kommen sollte, sag es mir oder lass es mich merken. Du musst mir ja nicht gleich auf die Finger schlagen. Oder noch besser: Mach du den ersten Schritt! Bisher glaube ich, hatten wir da kein Problem. Es wäre herrlich, wenn es so bliebe.“
„So weit ich das kann – ich will es versuchen. Ich gebe dir eine Erlaubnis: Du darfst das Thema aufgreifen, wenn du merkst, dass uns das hilft. Dann habe ich auch einen Vater, mit dem ich darüber reden kann.“
„Ich habe beobachtet, dass vielen schönen Frauen die Fähigkeit zu lieben abhanden gekommen ist.“
„Durch die Männer!“
„Und die Öffentlichkeit, in die sie sich ziehen lassen oder in die sie von sich aus drängen. Andererseits habe ich beobachtet, dass hässliche Menschen überaus liebesfähig sind und dadurch geradezu schön werden. Schöne Seelen überstrahlen das Hässliche. Wie herrlich muss es sein, wenn Liebe und Schönheit in einer Person zusammenfinden! Liebe überwindet die gemeine Welt. Schönheit ist ihr Vorbote, schenkt uns Vorfreude.“
„Vorfreude worauf?“
„Auf das, was uns im Jenseits erwartet. Das ist wie mit der Gerechtigkeit. Wir sehnen uns danach. Aber in dieser Welt gibt es sie nur annäherungsweise. Für die kommende Welt ist sie uns jedoch versprochen.“
„Du glaubst das?“
„Wie sonst lässt sich all die Ungerechtigkeit ertragen? Alle Paradiesmacher, die das ändern wollten, ob mit oder ohne Gewalt, sind gescheitert. Was Menschen Menschen antun, muss dich zum Wahnsinn treiben, wenn es kein letztes Gericht gibt. Dann wäre jedes Verbrechen erlaubt, um sich ein schönes Leben zu machen. Der genussreiche Augenblick zählt, wenn nach dem Tod alles aus ist. Dann sollten wir beide heute noch Sex miteinander haben.“
Katha: „Erzähl mir von deiner Film- und Fernsehzeit!“ Hirschberg: „Ich erzähle dir, wo und wann ich schönen Menschen begegnet bin – und weshalb ich nie eine schöne Frau heiraten wollte.“ Sie blickte ihn erwartungsvoll an.
„Es waren oft nur flüchtige Begegnungen. Meistens auf Reisen. Manchmal kam das Exotische noch dazu. Etwa in Colombo bei einer Drehreise. Wir waren abends zu einer Gartenparty eingeladen. Neben mir am Tisch saß eine bildschöne Singalesin in der landesüblichen prächtigen Frauentracht. Ich sprach sie auf Englisch an. Zunächst kein Problem, aber dann fielen mir doch nicht alle Vokabeln auf Anhieb ein. Da meinte sie, wir könnten uns auch auf Deutsch unterhalten. Herauskam, dass sie beim Sender Freies Berlin eine Ausbildung zur Filmcutterin machte. Ihr Vater, Rechtsanwalt in Colombo, hatte gute Kontakte nach Deutschland. In Berlin habe ich sie dann beim Sender wiedergetroffen. In engen Jeans. Sie war mit einem Kameramann liiert, aber es gingen schon die Wetten, wer sie als erster zur Untreue verführen würde.“
„Ist denn jede Frau verführbar?“
„Wer permanent in Versuchung geführt wird, hat kaum eine Chance, dem zu widerstehen. So stark ist keine Frau. Und sie war es auch nicht.“
„Mich hat noch keiner gegen meinen Willen …“
„Dann bist du eben besonders stark.“
„Nein, ich bin gut im Weglaufen.“
„Aber ein Mann, der mit dir verheiratet ist, wird nicht gerne immer wieder mit dir weglaufen wollen. Er wird gegen seine Konkurrenten kämpfen wollen. Irgendwann verliert er.“
„Keine Chance? Weder allein, noch als Paar?“
„Als ich in München an diesem Institut für Film und Fernsehen, ein Vorläufer der heutigen Filmhochschulen, studierte, arbeiteten wir mit einer Schauspielschule zusammen, um die Rollen in unseren Übungsprojekten zu besetzen. Eine ernüchternde Erfahrung dabei war: Ohne Schminke und Licht sind viele Leinwandmenschen keineswegs die schönen Menschen, als die sie vermarktet werden, Ruhm erlangen und verehrt werden. Schönheit wird zu einem großen Teil gemacht.“
Hirschberg weiter: „Manche der vermeintlichen Schönheiten haben eine unreine Haut, andere kaputte Haare, wieder andere Falten im Gesicht. Ich habe zugesehen, wie Maskenbildner und Kameramänner mit ihren Beleuchtern das alles wegretuschiert, unsichtbar gemacht haben. Worauf es ankommt: Ein ausdrucksfähiger Typ muss da sein, vom Gesicht her, von der Figur her. Und dann kommt es auf die Schauspielkunst an. Diese Erfahrungen möchte ich nicht missen. In meinen Fernsehdokumentationen ging es mir jedoch darum, in Menschen ungeschminkt das Charakteristische zu erkennen und erkennbar zu machen.“
„Warum machst du heute keine Sendungen mehr?“
„Um auf Dauer ein guter Dokumentarfilmer zu sein, darfst du nichts anderes machen. Ich hätte alles andere aufgeben müssen. Meine Leidenschaft war aber nicht so groß, dass ich das tun wollte. Andere Aufträge haben mich dann so beansprucht, dass ich eines Tages aus dem Geschäft war. Der Markt war damals noch sehr eng und wurde öffentlich-rechtlich bestimmt. Hattest du schon mal den Wunsch, Schauspielerin zu werden?“
„Nein. Ich kann nur ich sein. Ich hatte mal ein Angebot, in einem Fernsehspiel mitzumachen. Aber es stellte sich schnell heraus, dass der Typ zunächst etwas anderes von mir wollte.“
„Und da bist du weggelaufen.“
„Ich will unverstellt, unverkrampft und vor allem unbelästigt leben – doch das machen mir die Männer schwer. Manchmal komme ich mir wie Freiwild vor. Als du eben mit dem Thema begonnen hast, zog sich in mir alles zusammen. Kannst du das verstehen?“
„Hast du denn nie im Schutz einer Clique gelebt?“
„Ich bin kein Cliquenmensch. Ich weiß nicht warum.“
„Weil du zu früh wegläufst.“
„Wie soll ich mich sonst retten.“
Hirschberg: „Jeder hat unter den Reaktionen seiner Umwelt auf sein Äußeres zu leiden, ob schön, weniger schön oder hässlich. Der eine leidet unter Aufdringlichkeiten, der andere unter Missachtung oder Geringschätzung. Das kann einen Menschen zeitlebens beherrschen. Manch kleinwüchsiger Mann läuft sein Leben lang nur auf seinen Fußspitzen oder hohen Hacken herum und glaubt, er müsse unentwegt große Taten vollbringen. Kleine Frauen sind in der Regel nur auf hohen Absätzen unterwegs, egal was gerade in Mode ist. Wann hast du realisiert, dass du anderen auffällst?“
Katha: „In den letzten beiden Schuljahren verhielten sich zwei Lehrer sonderbar. Bei dem einen konnte ich mir alles erlauben, der andere hat mich immer runtergemacht. Er ließ Bemerkungen los wie ‚Du glaubst wohl, du brauchtest dich nicht anzustrengen’ oder deutlicher ‚Da hilft dir auch dein Aussehen nichts’. Eine der Lehrerinnen hat mich wie Luft behandelt.“
„Wann bist du in die Pubertät gekommen?“
„Spät. Die anderen Mädchen in der Klasse waren mir alle voraus. Aber das hat mich nicht gestört. Im Tennisclub hatte ich meine Erfolge und in der Schule leistungsmäßig keine Probleme.“
„Und wann begannen die Gespräche mit deiner Mutter?“
„Nachdem ich zum ersten Mal meine Tage hatte. Sie hat mich prima aufgeklärt. Und seitdem spreche ich mit ihr über alles, was mir Schwierigkeiten macht.“
„Sei froh drum. Aber einen Mann für dich finden, kann sie auch nicht.“
„Aber sie kann mich beraten.“
„Was hat sie denn zu Günter gesagt?“
„Sie hat gemeint, er sei ein bisschen weich. Und so ist es ja auch.“
„Was hat sie zu mir gesagt?“
„Sie kennt dich doch gar nicht. Außerdem meidest du doch schöne Frauen, wie ich jetzt weiß.“
„Im Laufe der Jahre habe ich mir aber noch einen anderen Grundsatz zu eigen gemacht: Nie nie sagen.“
„Du trickst dich wohl gerne selber aus.“
„Ausnahmen bestätigen nur die Richtigkeit einer Regel. Was glaubst du, weshalb ich dich bei mir aufgenommen habe!“
„Du Schuft! Komm mir nur nicht zu nahe, sonst kriegst du meine Krallen zu spüren!“
„Ich dachte, du läufst weg!“
Sie stand auf, er auch, sie ging zu ihm um den Tisch, sagte leise „Danke dir!“, gab ihm einen Kuss und ging.
Einen Moment stand er wie benommen da. Dann erfasste ihn ein ganz klarer Gedanke: Nein, seine Schwester hatte Unrecht. Das Mädchen war nicht falsch, sondern von Grund auf ehrlich. Er vertraute ihr.
Brief aus Rio
… ein nordamerikanischer Freund … wird seinen Sohn besuchen … wie sie
aufgeblüht war … bestand ein Vakuum … nüchtern und sachlich …
Mittags kam mit der Post der schon lange ersehnte Brief von seinem Sohn. Was Hirschberg jedoch völlig überraschte, war die angegebene Adresse: Rio de Janeiro. Sein Sohn in Rio? Thomas schrieb: