9.
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Partnerschaften

… Kinder noch irgendwie dazwischen … gegenüber jeder Berufsarbeit
höherwertig … selbstbestimmt und gleichberechtigt …

Einer von Hirsch­bergs Kunden führte zur Zeit eine neue, sogenannte Firmen­kultur ein, die er mit seiner Beratung begleitete. Wenn er jetzt eine längere Reise plante, musste er dafür sorgen, dass seine Abwesenheit das Projekt nicht beein­träch­tigte. In Arbeit war die Vorbe­reitung einer Mitar­bei­ter­be­fragung. Er würde mit der Projekt­leitung absprechen, diese während seiner Reise durchzuführen.

Diesen Auftrag­geber hatte Hirschberg nach einem Vortrag bei einem Unter­neh­mer­verband kennen­ge­lernt. Darge­stellt hatte er das Unter­nehmen der Zukunft, das aufgrund seiner Kreati­vität und Flexi­bi­lität auch im globalen Wettbewerb nicht unter­gehen würde. Das sei keine Frage der Größen­ordnung, sondern der unter­neh­me­ri­schen Einstellung aller Firmen­mit­glieder. Voraus­setzung sei, dass nicht nur die Kapital­ei­gen­tümer, Geschäfts­führer und Leitenden Angestellten unter­neh­me­risch dächten und handelten, sondern jeder einzelne Mitar­beiter. Nur dann sei unablässige Kreati­vität verbunden mit situa­ti­ons­ge­rechter Flexi­bi­lität die alles beherr­schende Arbeits­ein­stellung. So sei ein Unter­nehmen den Heraus­for­de­rungen des weltweiten Wettbe­werbs gewachsen. Zu einer solchen Arbeits­ein­stellung und zu der Fähigkeit, sie fortwährend in produk­tives Handeln umzusetzen, käme es, wenn erstens jeder Mitar­beiter eine konti­nu­ier­liche Selbst­ver­bes­serung betreibe und zweitens ein ständiges Mannschafts­training stattfinde.

Das sei wie bei einer Fußball­mann­schaft: Jeder einzelne Mitar­beiter halte sich durch seine persön­liche Lebens­weise und sein tägliches indivi­du­elles Training fit und steigere seine Leistungs­fä­higkeit. Das sei indes nur die halbe Anstrengung, hinzu­komme das Mannschafts­training, damit Missver­ständ­nisse und Fehlver­halten in der Zusam­men­arbeit vermieden würden. In der Fußbal­ler­sprache: möglichst wenige Fehlpässe.

Während Hirschberg die einzelnen Fragen­kom­plexe zusam­men­stellte, klingelte das Telefon: Hannelore meldete sich zurück von ihrer USA-Reise. Ob sie an einem der nächsten Tage zu ihm kommen könne. „Na klar!“

Er ging in die Küche, um sich das Mittag­essen zu machen. Beim Essen gingen seine Gedanken zurück zu einem Gespräch, das er mit seiner Tochter hatte, bevor sie in die Verei­nigten Staaten flog. Zusammen mit Bob hatte sie nicht fliegen können, da sie wegen einer Seminar­arbeit nicht wegkam, während er einen Termin bei seinem Professor drüben hatte. Das Gespräch zwischen Vater und Tochter ging über Ehe und Familie, ein Thema, das die beiden so ausführlich noch nie mitein­ander behandelt hatten.

Hannelore fragte den Vater: „Hast du unserer Mutter oft Geschenke gemacht?“

Hirschberg: „Wenn du Blumen und Schmuck meinst, nein.“ „Warum nicht?“

„Das schien mir zu billig.“

„Du hättest ihr damit zeigen können, dass du sie liebst.“

„Blumen verwelken. Schmuck lenkt ab.“

„Das sehe ich anders. Außerdem hatte sie Schmuck.“

„Das waren Erbstücke von ihrer Mutter und Großmutter.“

„… die ich jetzt trage.“

„Manches davon steht dir sehr gut.“

„Und was hast du ihr statt Schmuck und Blumen geschenkt?“

„Mich!“

„Schönes Geschenk.“

„Dafür habe ich sie bekommen.“

„Das schließt doch nicht aus, dass man sich gegen­seitig beschenkt.“

„In unserer Ehe wäre es lächerlich gewesen. Hätte ich bis zu ihrem Geburtstag warten sollen, um ihr eine Uhr zu schenken. Die Uhr wurde gekauft, wenn sie diese nötig hatte oder haben wollte – so schön und wertvoll, wie sie sich’s wünschte.“

„Aber die Überra­schung, die Freude!“

„Die leuch­tenden Augen, die Dankbarkeit, das herzliche Umarmen! Ja, das alles haben wir nicht auf Weihnachten, Muttertage, Geburtstage und andere Festtage beschränkt – wir haben uns jeden Tag damit beschenkt.“

„Das klingt so idealistisch.“

„Ist aber sehr realis­tisch. Von welchem Geld kaufe ich denn die Geschenke? Von meinem Einkommen. Ja, aber da sie die Ausgaben bestimmt hat, war’s vielleicht ja auch von dem, was sie nicht ausge­geben hat. Wer beschenkt da wen? Oder spielen wir Weihnachtsmann für Erwachsene? Ich kenne eine ganze Reihe geschei­terter Ehen, die allesamt nicht daran gescheitert sind, dass sich die beiden nicht genügend beschenkt hätten. Geschenke sind oft Heuchelei. Um sich selbst nicht einbringen zu müssen, schenkt man halt etwas. Je teurer, um so größer die Heuchelei. Man hat es ja. Mogel­pa­ckungen, um sich davon­stehlen zu können. Und dann gefällt es dem Partner nicht einmal. Wie bringe ich ihm nur bei, dass ich es nicht mag. War ja lieb gemeint, aber warum hat er mich nicht gefragt. All das haben wir uns gespart.“

„Wie unroman­tisch! Keine Vorfreude, keine stillen Erwar­tungen. Gekauft wird, wenn nötig.“

„Keine falschen Erwar­tungen. Keine heimliche Enttäu­schung. Keine Umtausch­ak­tionen. Kein Loskaufen. Kein Kopfzer­brechen, wo sie doch schon alles hat. Keine Verschwendung.“

„Da können wir Kinder ja von Glück reden, dass wir an unseren Geburts­tagen und an Weihnachten von euch beschenkt worden sind.“

„An Geburts­tagen haben deine Mutter und ich uns hin und wieder auch etwas geschenkt, beispiels­weise eine Reise, damit wir mal wieder ganz allein Ehepaar sein konnten. Was ich sagen will: Als Erwach­sener möchte ich nicht mehr wie ein Kind beschenkt werden. Und Kinder merken sehr wohl, ob der Vater mit großar­tigen Geschenken sich nur freikaufen will von dem schlechten Gewissen, zu wenig Zeit für sie zu haben.“

„Und: Hattest du genug Zeit für uns?“

„Für mich galt: Nicht mehr Außen­termine als notwendig. Jeden Abend nach Möglichkeit zuhause sein.“

„Ich kann mich erinnern, dass du auch schon mal eine ganze Woche lang weg warst. Die Mutter hat dann gesagt, das müsste sein, damit wir genügend Geld zum Leben hätten.“

„Wenn du bei einem Kunden in der Nähe von München arbeitest, kannst du abends nicht bei deiner Familie in Mehlem sein.“

„Hat eure Ehe unter solchen Abwesen­heiten gelitten?“

„Nein, es war ja nicht die Regel. Worauf es ankommt: Man muss ganz konkret fürein­ander da sein wollen. Das heißt, wir haben nicht als Single neben­ein­ander gelebt, wir sind nicht beide unserem Beruf nachge­gangen, wir haben nicht beide unsere unter­schied­lichen Hobbys gepflegt und wir haben nicht unsere Kinder da irgendwie noch zwischen gepackt. Wir haben nicht auf unserer Freiheit und auf unseren Rechten bestanden.“

„Du meinst, unsere Mutter habe nicht auf ihren Freiheiten und Rechten bestanden.“

„Wir beide nicht. Wo sich tradi­tio­nelle Vorstel­lungen der Rollen­ver­teilung nach unserer gemein­samen Überzeugung als geeignet und vorteilhaft darstellten, haben wir sie übernommen oder sind dabei geblieben.“

„Deine Frau hat aber ihren Beruf aufge­geben. Hat sich von dir abhängig gemacht.“

„Wenn das kein Geschenk an Zuneigung und Vertrauen ist!“

„Aber wehe es geht schief!“

„Sie war so selbst­be­wusst, dass sie da nie eine Gefahr gesehen hat.“

„Vielleicht war sie auch nur naiv.“

„Nein, sie war als selbständige Person so selbst­be­wusst, dass sie ihre Ehe nicht von vornherein unter den Vorbehalt des Schei­terns stellte. Wir haben uns nicht nur als Liebes­ge­mein­schaft, sondern auch als Lebens­ge­mein­schaft verstanden. Ganz pragma­tisch. Wir haben uns die Frage gestellt, wer von uns voraus­sichtlich das meiste Geld verdienen könnte. Aufgrund der gesell­schaft­lichen Gegeben­heiten und meiner Ausbildung war es naheliegend, dass ich eher und besser bezahlte Arbeit finden würde. Außerdem war uns klar: einen Haushalt zu führen und Kinder großzu­ziehen, ist eine jeder Berufs­arbeit gleich­wertige Arbeit – gleich­gültig wer diese Arbeit jeweils tut. Beide wollten wir uns nach Möglichkeit an der Arbeit des anderen betei­ligen. Wenn du so willst: Tradi­tio­nelle Arbeits­teilung, aber aus prakti­scher Überlegung heraus.“

„Das klingt trotz deiner Argumen­tation nach vorigem Jahrhundert.“

„Jedes Paar, das sich dauerhaft aufein­ander einlassen, ein gemein­sames Leben führen will, muss seine Aufga­ben­ver­teilung finden, unabhängig vom Zeitgeist und ideolo­gi­schen Vorgaben. Ehe muss täglich neu erfunden werden.“

„Hört sich gut an, scheint mir aber nur Dialektik gegen die Emanzi­pation der Frau zu sein. Habt ihr Scheidung ausgeschlossen?“

„Das kann man nicht. Aber wir haben uns versprochen, dass wir alles tun würden, es nicht dahin kommen zu lassen. Wir hatten den Grundsatz: Jedes Missver­ständnis und jede Unstim­migkeit, die einer von uns oder wir beide empfinden, muss vor dem Einschlafen im Gespräch aufgelöst werden. Manche Nächte waren nur schwer durch­zu­stehen. In anderen gab es nur wenig oder gar keinem Schlaf. Doch es hat sich immer gelohnt.“

„Das hört sich für mich alles doch sehr konser­vativ an. Ob nur der Ehemann oder nur die Ehefrau oder beide für den Lebens­un­terhalt der Familie sorgen – Arbeit­geber verlangen heute volles Engagement. Wer Karriere machen will, muss mobil und jederzeit verfügbar sein. Man verbringt mehr Zeit im Job als in Ehe und Familie. Das braucht eine andere Art von Ehe und Familie.“

„Oder eine andere Arbeitswelt, die Familie zulässt! Die moderne Arbeitswelt ist ehe- und familienfeindlich.“

„Scheitern deshalb so viele Ehen?“

„Wenn beide ihren Lebenssinn ausschließlich in ihrem Beruf sehen – ja!“

„Und was ist die Alternative?“

„Lebenssinn vor allem in Partner­schaft, Ehe und Familie erkennen. Wer heiratet, will doch von da an mit seinem Partner auf gemeinsame Lebens­reise gehen. Gerade in schnel­le­bigen Zeiten mit ständigen Verän­de­rungen macht eine Ehe, wie deine Mutter und ich sie verstanden haben, gegen­seitig stark und anpassungsfähig.“

„Da müssen sich aber die beiden Richtigen finden.“

„Das ist sicher in einer so aufge­lösten Gesell­schaft, wie wir sie heute haben, schwie­riger als früher. Unsere Vorfahren hatten wesentlich mehr äußere Anhalts­punkte, um die Perspek­tiven einer Partner­schaft abzuschätzen.“

„Und eine Menge von Nachteilen für die Frauen.“

„Es gab auch schon früher liebe­volle Männer.“

„Solange die Frauen nicht muckten.“

„Heute mucken sie auf. Und was hat es ihnen gebracht?“

„Freiheit, Selbst­be­stimmung, Gleichberechtigung.“

„Und verkorkste Ehen.“

„Weil die Männer selbst­be­wusste Frauen nicht ertragen können.“

„Aber ein Weichling käme für dich nicht infrage.“

„Gibt es denn nichts anderes als Unter- oder Überordnung?“

„Wenn man jede Partner­schaft zu einem Geschlech­ter­kampf macht.“

Hannelore nahm ihr Weinglas in die Hand, sah nachdenklich hinein und trank schließlich einen Schluck. Dann sah sie ihren Vater an: „Warum ist das denn alles so kompliziert?“

„Früher war es sicherlich nicht so kompli­ziert, weil vieles als Sitte und Brauch vorge­geben war. Heute ist es kompli­ziert, weil so gut wie alles offen ist – besonders für die Frauen: frei, selbst­be­stimmt und gleichberechtigt.“

Sie hob nochmal hervor: „Frei, selbst­be­stimmt und gleichberechtigt!“

Er setzte den Schluss­punkt: „Das lassen wir mal so stehen.“

Sie brachen ihr Gespräch ab. Während Hirschberg in sein Büro ging, um nachzu­sehen, ob E‑Mails für ihn da seien, bereitete Hannelore das Abend­essen vor. Als er dazu kam, um ihr zu helfen, dachte er: Abend­essen herrichten geht ja noch, aber wenn sie regel­mäßig kochen müsste, dazu einkaufen und die weiteren Hausar­beiten erledigen, dann hätte sie Schwie­rig­keiten. Töchter lernten heute von ihren Müttern keine Hausarbeit mehr. Viele Mütter hatten es selber schon nicht mehr gelernt, hatten sich nur ein Minimal­pro­gramm angeeignet, um Mann und Kinder zu sättigen. Wenn es etwas mehr sein sollte, steckte der Mann die Scheck­karte ein und man ging ‚aus essen’. Die Jahrtau­sende alte Tradition der Haushalts­führung als Aufgabe der Frau war sang- und klanglos unter­ge­gangen. Während des Abend­essens hingen beide ihren Gedanken nach und schwiegen.

Ihr Gespräch über Ehe nahm Hirschberg nach dem Abend­essen noch einmal auf. „Viele junge Leute überlassen es mehr oder weniger dem Zufall, auf wen sie sich als Partner einlassen. Haupt­sache ist ihnen, dass Gefühle fürein­ander da sind. Viele lehnen es sogar ab, mit Verstand eine Beziehung einzugehen.“

„Ohne das Gefühl, den anderen zu mögen, geht es doch gar nicht. Alles andere wäre Berechnung.“

„Aber du solltest checken, warum dich ein anderer Mensch anzieht, weshalb du dich zu ihm hinge­zogen fühlst, warum du dauernd an ihn denkst, Gespräche und Situa­tionen mit ihm dir immer wieder in den Sinn kommen. Verliebtsein heißt doch nicht, alles Störende solange übersehen, bis es weh tut.“

„Also ist der ganze Unter­schied zwischen Partnerwahl heute und Partnerwahl früher der, dass man heute selbst daran schuld ist, wenn es daneben geht.“

„Leben früher war brutal, einfach und kurz. Für Ehen gab es Festle­gungen, die von den jungen Leuten nur wenig beein­flusst werden konnten. Der Zweck war das Überleben der Familie, der Sippe, des Stammes, des Volkes, die Sicherung der Genera­tio­nen­folge. Liebe war Zugabe, nicht Voraussetzung.“

„So sieht der Papst das heute noch.“

„Die Kirche hat klare Vorstel­lungen. Und die sind bei Ehe und Familie notwendig, wenn eine Gesell­schaft sich zukunfts­fähig organi­sieren will. Aller­dings kann ich mir das auch anders vorstellen als die Kirche. Ich glaube beispiels­weise nicht, dass die Einehe das einzig mögliche und moralisch allein vertretbare Ehemodell ist. Die Einehe hat sich nur im Sinne der gesell­schaft­lichen Zielset­zungen als besonders praktisch weil besonders anpas­sungs­fähig erwiesen. Das Modell ‚ein Mann mit mehreren Frauen’ gibt es ja auch.“

„Einen Mann mit mehreren Frauen kann ich mir nicht vorstellen.“

„Das war doch die beste Möglichkeit, in relativ kurzer Zeit ein großes starkes und damit überle­bens­fä­higes Volk hervor­zu­bringen, das sich seinen Feinden gegenüber behaupten konnte. Siehe Altes Testament!“

„Das ist heute aber nicht mehr unser Problem.“

„Die Größe eines Volkes hat auch heute noch Bedeutung.“

„Wir haben Überbevölkerung.“

„Die Zahl der zur Verfügung stehenden Soldaten ist nach wie vor wichtig. In manchen Fällen genügt schon das Bedro­hungs­po­tential, um anderen Völkern seinen Willen aufzuzwingen.“

„Willst du sagen, die Fähigkeit zur Kriegs­führung ist nach wie vor entscheidend?“

„Es gibt keine Welt ohne Feind­schaften. Nur starke Gesell­schaften können sich ihrer Feinde erwehren. Das Überleben einer Gesell­schaft hängt nicht nur von einer florie­renden Wirtschaft ab, sondern in noch viel höherem Maß von stabilen Ehen und Familien.“

Andere Frage: „Kann ein Mensch mehrere Menschen gleich­zeitig lieben?“

„Gott liebt alle Menschen.“ „Was willst du damit sagen?“

„Für mich liegt da der Schlüssel: Wir können lieben, weil wir Gott ebenbildlich sind; wir können aber nur unvoll­kommen lieben, weil wir nicht Gott sind. So lieben wollen, als gäbe es keinen Gott, endet in der Einsamkeit, in der Kälte eines Todes, der uns in unserer Unvoll­kom­menheit vereist. Hölle ist nicht heiß, sondern kalt. Heulen und Zähne­klappern. Unsere unvoll­kommene Liebe kommt erst in der Verbindung mit der vollkom­menen Liebe Gottes zur Erfüllung unserer tiefsten Sehnsucht. Diese Liebes­ein­stellung sollte man allen Menschen gegenüber haben.“

„Jetzt greifst du zu hoch für mich.“

„Ein Mensch kann mehrere oder gar viele Menschen gleich­zeitig lieben, wenn du folgendes unter Liebe verstehst: Geduld, Güte, Vertrauen, Hoffnung. ‚Wer liebt, der ereifert sich nicht, er prahlt nicht und spielt sich nicht auf. Wer liebt, der verhält sich nicht taktlos, er sucht nicht den eigenen Vorteil und lässt sich nicht zum Zorn erregen. Wer liebt, der trägt keinem etwas nach; es freut ihn nicht, wenn einer Fehler macht, sondern wenn er das Rechte tut. Wer liebt, der gibt niemals jemanden auf, in allem vertraut er und hofft er für ihn; alles erträgt er mit großer Geduld.’ Der Apostel Paulus hat das geschrieben.“

„Ich habe es in einer Braut­messe gehört.“

„In einer Ehe kann man, so glaube ich, zumindest zeitweise in einer derart umfas­senden Form von Liebe leben. Aber das geht nur, wenn die beiden ihre Ehe wie ein Juwel pflegen. Dann wird die Unvoll­kom­menheit des Partners vielleicht sogar dauerhaft erträglich. Alle Menschen so ertragen zu können, ist ein großer Anspruch. Aber ich glaube, anders kommen wir aus dem Teufels­kreis der Welt nicht heraus. Wer Terro­rismus mit militä­ri­schen Mitteln bekämpft, wird selbst zum Terro­risten und provo­ziert neuen Terro­rismus – größer und schreck­licher. Das ist die Wirklichkeit von heute im Heiligen Land.“

„Du machst mir Angst.“

„Vor diesen Ereig­nissen kann man sich nicht in einer Kuschelecke verstecken.“

„Ist es dann nicht besser, sich in einer so miesen Welt allein durch­zu­schlagen und keine Kinder zu haben?“

„Wir reden doch gerade davon, wie man einer solch miesen Welt entge­gen­wirken kann. Der egois­tische Rückzug auf sich selbst gibt alles verloren, macht aus Liebe Selbst­be­frie­digung.“[/vc_column_text]

Satire

Als das Baby seine Mutter verge­waltigt hatte,
erschlug es die Schlampe, rief das Jugendamt an
und verlangte neue Eltern.

Vor Gericht forderte der Anwalt des Babys einen
Freispruch und die Verur­teilung des als Nebenkläger
auftre­tenden Freundes der Mutter.

Die Staats­an­wälte beantragten wegen
beson­derer Gefähr­lichkeit des Babys lebenslänglich
mit anschlie­ßender Sicherheitsverwahrung.

Die Vertre­terin des Jugend­amtes berichtete
von einem völlig intakten Famili­en­leben, bei dem
keinerlei Auffäl­lig­keiten erkennbar waren.

Die Hebamme schwärmte geradezu von
dem Pracht­bengel, der voller Kraft und Energie
kerngesund zur Welt gekommen sei.

Der hinzu­ge­zogene Psychologe attestierte
dem Baby einen außer­ge­wöhn­lichen IQ und wohl
überlegtes Handeln.

Der Richter erkannte auf Schuldunfähigkeit
in einem besonders schweren Fall und verhängte
eine Bewäh­rungs­strafe bis zum Lebensende.

„Welche Chance besteht denn?“

„Liebe leben. Aber nicht nur roman­tisch aus dem Bauch heraus.“

„Du weißt genauso gut wie ich, dass die meisten Menschen keine Kopfmen­schen sind. In Sachen Liebe sogar alles andere als Kopfmenschen.“

„Stimmt. Und deshalb sind Konven­tionen für eine Gesell­schaft überle­bens­wichtig. Wenn die Spiel­regeln im Namen von Befreiung abgeschafft werden, müssen sich die einzelnen Menschen selber Regeln schaffen – was die Mehrheit überfordert.“

„Was denn nun? Neues Mittelalter?“

„Solche Entwick­lungen sind nicht beein­flussbar. Nicht einmal mit der Macht­fülle eines absoluten Herrschers.“

„Den haben wir zum Glück nicht. Aber wieso lässt sich die Unvoll­kom­menheit der Menschen nicht dadurch erträglich machen, dass man sich jederzeit von Unerträg­lich­keiten lösen kann? Warum soll ich Unvoll­kom­menheit ertragen?“

„Angenommen: Ich fühle mich zu dir hinge­zogen. Ich umwerbe dich, gewinne dich, wir heiraten. Nach einiger Zeit sehe ich bei dir auch einige Unzuläng­lich­keiten, beispiels­weise deine Unfähigkeit, Ordnung zu halten, deine Neigung, Zeit zu vertrödeln, dein Vorurteil, alle Arbeit im Haushalt sei minder­wertig, deine Eifer­sucht, dein vorlautes Halbwissen, deine stets laute Stimme. Soll ich das alles in Liebe ertragen oder soll ich nach einer anderen Frau Ausschau halten, in deren Gegenwart es bei mir wieder kribbelt, und mit der abhauen?“

„Heiraten sollten nur Menschen, die auch die Schwächen ihres Partners sich bewusst gemacht haben und sie ertragen können.“

„Dann sind wir uns einig.“

„Und dann kommt eines Tages bei ihm die Wampe.“

„Und bei ihr kommen die Falten.“

„Du hast eben von dem Modell ‚ein Mann ist mit mehreren Frauen verhei­ratet’ gesprochen. Für den Mann ist das doch eine prima Regelung, mit gezielter und gut überlegter Auswahl der Frauen die Unzuläng­lich­keiten der einzelnen Partne­rinnen zu kompen­sieren. Bezeichnend ist, dass es dieses Modell nur in von Männern dominierten Gesell­schaften gibt. Für Frauen müsste es gleiche Kompen­sa­ti­ons­mög­lich­keiten geben.“

„Eine Frau ist mit mehreren Männern verhei­ratet? Die arme Frau! Wenn sie von allen geliebt wird, ist sie doch nur noch schwanger.“

„Das kann sie verhüten.“

„Eine matri­ar­cha­lische Gesell­schaft – warum nicht?“

„Na endlich haben wir ein zukunfts­fä­higes Modell.“

„Die Männer teilen sich die Hausarbeit, neben ihrem Job versteht sich.“

„Die Frau sorgt dafür, dass die Jungs spuren.“

„Aber was passiert, wenn sie dick und fett und unansehnlich wird? Und die Jungs deshalb nicht mehr mit ihr schlafen wollen?“

„Na ja, sie sollte schon dafür sorgen, dass sie attraktiv bleibt. Aber auch Männer werden dick und fett und unansehnlich.“

„Jetzt spinnen wir wohl beide.“

„Aber ich verstehe wenigstens, was du meinst.“

„Ich könnte mir eher ein Patri­archat vorstellen.“

„Du wärest sicher ein guter Patriarch.“

„Würde mir gefallen.“

„Aber wir leben hier und nicht im Orient. Und die Frauen von heute bekommst du in kein Patriarchat.“

„Und die Männer nicht in ein Matriarchat.“

„Es nimmt halt seinen Lauf, wie du gesagt hast.“

„Jeder gesellt sich mit jedem, solange es erträglich ist. Neuer Partner, neues Spiel, neues Glück; dazwi­schen ein paar Kinder. Wer bei Angebot und Nachfrage von Partner­schaft nichts zu bieten hat, dem bleibt nur noch die Wahl zwischen Einsamkeit oder Versklavung. Das Ergebnis von Beliebigkeit.“

„Nicht analy­sieren, das macht traurig! Spinnen, das weckt Phantasie und gibt Hoffnung!“ So hatte Hannelore das Gespräch, das sie vor einigen Wochen mitein­ander hatten, beendet.

An dieses Gespräch mit seiner Tochter hatte sich Hirschberg in der Folgezeit öfters erinnert. Ihm war das eine oder andere dazu noch einge­fallen. Aber er würde von sich aus das Thema bei ihrem jetzt bevor­ste­henden Besuch nicht mehr anschneiden. Sie hatte sicher eine Menge über ihre USA-Reise zu erzählen.

Heiratstermin

… unkom­pli­zierter und tatkräf­tiger Mann … konnte sich intel­lek­tuell behaupten
… Durch­bruch zum Erwach­sensein … der Vater in Gefühlsnöten …

Hannelore kam in bester Stimmung und brachte Kuchen mit. Sie wusste, welche Kuchen ihr Vater mochte. Also hatte sie für ihn Obsttorte und Käsekuchen gekauft, für sich eine Nussschnitte und ein Stück Zitro­nen­kuchen. Auch wusste sie, dass ihr Vater keinen Kaffee trank und deshalb nie welchen im Haus hatte. Da sie selbst sich angewöhnt hatte, mit Bob Kaffee zu trinken, hatte sie für sich Kaffee gekauft.

Beide waren voller Erzähl­drang, aber zwischen Tür und Angel, zwischen Küchen­an­richte und Sitzgar­nitur wollte keiner mit dem Reden anfangen. Daher blieb es zunächst bei Fragen wie „War der Flug angenehm?“ und „Warst du Silvester allein?“, „Wo ist Bob jetzt?“. Als alles auf dem Couch­tisch stand und sie sich nieder­ge­lassen hatten, sie im Sessel und er auf dem Sofa gegenüber, ging es los. Hannelore begann. Ohne Umschweife teilte sie ihrem Vater das sie beglü­ckende Ereignis mit: „Wir haben uns verlobt.“

„Herzlichen Glück­wunsch! Und wann wird geheiratet?“

„Im April oder Mai. Das wollten wir mit dir abstimmen.“

„Hier oder in Los Angeles?“

„Wir dachten, es sei besser in L.A. als hier. Bobs Familie ist ein großer Clan; die würden einen Jumbo brauchen, um alle gemeinsam hierher zu kommen. Oder bestehst du darauf, dass die Hochzeit am Ort der Braut gefeiert wird?“

„Ihr entscheidet. In kleinem Rahmen hätten wir das sicher auch hier organi­sieren können, aber so ist das auch gut. Aller­dings bin ich im April in Brasilien.“ Hannelore sah ihn erstaunt und fragend an: „Brasilien?“

Jetzt rückte er mit seiner Neuigkeit raus: „Dein Bruder hat sich gemeldet, aber nicht von den Philip­pinen, sondern aus Rio.“

„Was macht denn der in Rio?“

„Keine Ahnung. Deshalb will ich ja hinfliegen. Immerhin habe ich diesmal eine Adresse. Ich warte darauf, dass er sich per E‑Mail oder Telefon meldet.“

„Und auf den Philip­pinen hat er alles abgebrochen, Frau mit Kind sitzen lassen oder was?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht sind die mit ihm in Rio.“

„Dann kannst du ja von Rio direkt nach L.A. kommen und den Thomas mitbringen. Das wäre doch ein Superding!“

„Ich werde es versuchen, wäre wirklich eine tolle Sache: Hirschberg mit Kindern in Los Angeles.“

„Ich schreibe ihm.“

Nachdem die Headlines raus waren, erzählten sie sich nun die Einzel­heiten. Mit Fragen lenkte Hirschberg immer wieder zu Bobs Familie. Er versuchte, dabei nicht penetrant zu wirken. Auch vermied er die Syste­matik, mit der er bei Firmen-Inter­­views vorging. Was er herausfand: Es handelte sich wohl um eine typische Einwan­de­rer­fa­milie in vierter Generation. Man hielt zusammen, hatte es zu etwas gebracht, war irisch-katholisch.

Ihn freute besonders, dass Hannelore offenbar auf Anhieb ein gutes Verhältnis zu ihrer künftigen Schwie­ger­mutter gewonnen hatte. So wie sie von ihr sprach, war sie eine sehr warmherzige und gebildete Frau aus einer Anwalts­fa­milie. Während ihres Studiums, sie wollte Lehrerin werden, war sie in Frank­reich und Italien. Nicht in Deutschland. Ihr Studium hatte sie nach der Heirat mit Bill Kliger aufge­geben. „Wozu?“ hätte sie auf ihre Frage, ob sie denn zu Ende studiert habe, geant­wortet. Hirschberg wollte fragen: „Und du? Wirst du auch dein Studium aufgeben, wenn ihr gehei­ratet habt?“. Aber er fragte nicht. Seine Meinung kannte sie. Mit Sicherheit hatte sie sich die Frage „Weiter­stu­dieren?“ schon gestellt oder sogar mit Bob besprochen. Er würde es erfahren, wenn es von den beiden entschieden war. Da wollte er nicht voreilig reinreden.

Statt dessen fragte er nach Bobs Vater. Der sei ein unkom­pli­zierter und tatkräf­tiger Mann. Schon von seiner Erscheinung her flöße er Respekt ein. Aber er gebe sich nicht dominant, könne sich durchaus zurück­halten und sei ein aufmerk­samer Zuhörer.

Während seiner Militärzeit sei er in Deutschland gewesen. Aber viel wisse er nicht über die Bundes­re­publik. Ob er studiert habe, wollte Hirschberg wissen. Nein, er sei ein Selfmademan, was Bob an ihm bewundere, auch wenn er vieles anders sehe als sein Vater. Die beiden hätten ein tolles Verhältnis zueinander.

Hirsch­bergs Vermutung: eine eher konser­vative Familie. Man hatte sich das Zusam­men­ge­hö­rig­keits­gefühl bewahrt, das für viele Einwan­derer zum Überleben notwendig war. Man war gewohnt, sich selbst zu helfen, nicht auf den Staat zu warten. Probleme wurden angepackt und gelöst. Man hatte ein gesundes Selbst­be­wusstsein. All das gefiel ihm und er beglück­wünschte seine Tochter, in so eine Familie einzu­hei­raten. Hoffentlich ist sie stark genug, sich nicht nur intel­lek­tuell zu behaupten, dachte er.

Nachdem Hannelore ausführlich über die Kligers erzählt hatte, immer wieder durch die Fragen des Vaters angeregt, hielt sie es für angebracht, dass er nunmehr über sich und seine Situation berichte. Vor allem inter­es­sierte sie sein Verhältnis zu Katha. Sie war ihr bisher nur einmal begegnet. Hirschberg hatte von Kathas und Günters Besuch bei ihm in der Eifel erzählt. Ansonsten hatte sie den Eindruck, dass er das Thema vermied. Aber sie wohnte jetzt hier bei ihm in diesem Haus. Was lief da ab? Ihre Tante, Vaters Schwester, hatte von ihr wissen wollen, wer diese neue Sekre­tärin sei. Aber sie wusste ja nichts. Mit „Wie geht es Katha?“ versuchte sie einen unver­fäng­lichen Einstieg.

Hirschberg nahm die Frage als Gelegenheit, Kathas Lebens­si­tuation ein wenig zu schildern. Er nannte ihre Schwie­rig­keiten mit Männern wegen ihrer Schönheit, ihre beruf­liche Orien­tie­rungs­lo­sigkeit, ihr Engagement als Tennis­trai­nerin und Turnier­or­ga­ni­sa­torin. Dann kam er auf sich und seinen Besuch bei seiner Schwester zu sprechen, wie die ihn mit ihren Unter­stel­lungen geärgert hatte. Hannelore hörte aufmerksam zu, ohne dass sie das, was sie eigentlich wissen wollte, vergaß. Erst als er eine Weile schwieg, fragte sie: „Und was für Gefühle hast du Katha gegenüber?“

Er gestand, dass er in seinen Gefühlen ihr gegenüber nicht mehr ganz frei sei – und auch das ärgere ihn. Sie lachte hell auf. Er schwieg erneut. Er wollte sich nicht in Phrasen oder ablen­kende Worte flüchten. Sie merkte das, stand auf, setzte sich zu ihm und umarmte ihn. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie in ihm nicht mehr ihren Vater, sondern einen Mann, der bedürftig war, nicht das ständige Vorbild an Vernunft und Lebens­er­fahrung, sondern einen vertrauten Mann, mit dem man nicht nur Argumente, sondern auch Gefühle austau­schen konnte. Sie empfand das als erhebenden Moment, beglü­ckend, wie den endgül­tigen Durch­bruch zum Erwach­sensein, nicht mehr Kind und Tochter, sondern Frau auf gleicher Stufe, ebenbürtig. Und ein kleiner Triumph war auch dabei: Der Vater in Gefühlsnöten.

Beim Frühstück kam Hannelore noch einmal auf Katha zu sprechen. Sie bedauere, dass sie nicht da sei. Hirschberg erläu­terte, dass sie in ihrem Tennis­zentrum ein Turnier zu organi­sieren habe und deshalb auch dort übernachte. Schließlich noch ein paar Worte über den Hochzeits­termin im Mai. Beim Abschied hatte Hirschberg den Eindruck, dass sie ihn nach diesem Besuch mit anderen Augen ansah.

Andere Welt

… Rio, Boston, Los Angeles … unsichtbar begleiten … was sie an 
dir erotisch finden … unser aller Verführbarkeit …

Schon in der folgenden Woche erhielt Hirschberg von Hannelore den Hochzeits­termin. Er begann, seine Reise­pläne zu konkre­ti­sieren. Er holte sich Flugver­bin­dungen nach Rio aus dem Internet, stimmte sich mit seinem Sohn ab, der ihm inzwi­schen die E‑Mail-Adresse eines Freundes angegeben hatte. Sobald er ein eigenes Telefon habe, werde er ihm die Nummer durch­geben. Doch irgendwie hatte der Vater den Eindruck, der Sohn sei von der Idee, ihn zu besuchen, nicht allzu begeistert. Nicht, dass Thomas abgelehnt oder einen späteren Zeitpunkt vorge­schlagen oder verhin­dernde Ausreden vorge­bracht hätte. Aber es war keinerlei Freude zu erkennen, weder in seinen Worten noch in seiner Stimme.

„Klar kannst du mich besuchen. Wir werden das hier arran­gieren. Erwarte aber nicht zu viel; denn wir sind hier alle sehr beschäftigt“, hatte er gesagt. „Zwei Wochen? In Ordnung.“ Weniger wäre für Rio witzlos. Und in zwei Wochen könne man auch nur einen ersten Eindruck gewinnen. Er tut so, dachte Hirschberg, als käme ich, um mir Rio anzusehen und nicht wegen ihm. Doch er ließ sich nichts anmerken und plante weiter: L.A. Dabei kam ihm der Gedanke, noch einen Besuch in Boston zwischen­zu­schieben – die Einladung dazu hatte er schon lange. „Wenn Sie in den Staaten sind, besuchen Sie mich!“ hatte ihm Gardner, Sozio­­logie-Professor in Harvard, zum wieder­holten Mal gesagt.

Vor Jahren hatte ihn Hirschberg auf einem der Sommer­se­minare, die der Professor regel­mäßig in Deutschland hielt, kennen­ge­lernt. Jetzt war er emeri­tiert, aber hin und wieder publi­zierte er noch, schrieb er Artikel, von denen er Hirschberg eine Kopie schickte. Gelegentlich korre­spon­dierten sie. Dann kam regel­mäßig die Frage: „Und wann besuchen Sie mich?“ Dem Mann zu begegnen, war immer beein­dru­ckend gewesen. Warum ihn nicht besuchen? Also fragte er an. „Aber selbst­ver­ständlich! Kommen Sie!“ Auch der Termin war kein Problem. Und das Hotel könne er sich sparen, er habe ein Gäste­zimmer. Rio, Boston, Los Angeles. Langsam packte ihn Reisefieber.

Katha wohnte jetzt wieder bei Hirschberg und arbeitete neben ihrem Studium in seinem Büro. Hirschberg hatte aufgrund des langen Gesprächs über Schönheit seine Einstellung zu ihr geändert. Er war nicht mehr unvor­ein­ge­nommen. Das war bedau­erlich, aber zurück in die ursprüng­liche Unbefan­genheit konnte er nicht. Er beobachtete sie inten­siver als je zuvor. Beim Teekochen, beim Tisch­decken, beim Brotschneiden, wie sie sich bewegte, wie sie die Sachen in die Hand nahm, wie sie aß, trank, zuhörte, redete. Schönheit ist Teil der Person. So wollte Katha gesehen werden: als Person, nicht als Covergirl.

Sie ließ sich nicht anmerken, seine Blicke zu spüren. Sie nahm sich vor, nicht zu verkrampfen, sondern ganz locker zu bleiben. Sie sagte sich „Er liebt dich.“ Ihn ließ das Thema nicht los: Schöne Frauen.

Viele schöne Frauen verselb­stän­digten ihre Attrak­ti­vität. Sie machten sich zu einem Angebot, vermark­teten ihr Äußeres, machten sich käuflich und ließen ihre Person hinter ihrem Prospekt verschwinden. Die Medien taten ein Übriges. Sie lenkten die Aufmerk­samkeit unablässig auf junge, attraktive Menschen. Eine ganze Branche eroti­sierte die Gesell­schaft, pumpte sie voll mit entspre­chenden Zeitschriften, Videos, Filmen, Büchern, Inter­net­seiten, Fernseh­sen­dungen, Läden und Versand­handel. Sie sugge­rierten den Menschen ausgie­bigen und belie­bigen Sex als zeitge­mäßes Verhalten.

Mit verlan­genden und gierigen Männer­augen gesehen: Was nahm sich Katha eigentlich heraus! Die Natur hatte sie begeh­renswert ausge­stattet, aber sie verwei­gerte sich. Katha wurde ihm plötzlich zum Wechselbild: Mal verschwand die Schönheit hinter ihrer Person, mal die Person hinter ihrer Schönheit. Er bemühte sich, sie so zu sehen, wie sie gesehen werden wollte.

Die Zeit verging wie im Fluge. In drei Wochen würde er zu seiner Ameri­ka­reise aufbrechen. Alle Kontakte waren gemacht, die Termine abgesprochen. Er machte sich Check­listen, zeigte sie Katha mit der Bitte zu prüfen, ob er etwas vergessen habe. Der Koffer war vom Speicher geholt. Sachen, die er mitnehmen wollte und nicht in Gebrauch hatte, lagen bereits auf dem Koffer. Er überlegte, welche Gastge­schenke infrage kämen. Schließlich entschied er sich: Für Thomas ein Famili­enfoto aus Kinder­tagen, vergrößert und einge­rahmt; für den Professor sein letztes Buch mit Widmung. Aber was sollte er dem Brautpaar schenken? Katha brachte ihn auf eine Idee: einen Kompass, einen alten Schiffs­kompass. Er bat seinen Freund Gerd Berger, den Kompass für ihn zu besorgen; der wusste als Segler, wo man so etwas bekam.

Die Woche vor der Abreise stand bevor. Katha versuchte, ihre Furcht hinter einem scherzhaft ausge­spro­chenen Vorwurf zu verstecken: „Du bist grausam, du lässt mich jetzt vier Wochen lang allein.“

Hirschberg: „Ich würde dich gerne mitnehmen.“

Katha: „Nach Hollywood?“

Er ging nicht darauf ein, sondern provo­zierte: „Nutz doch die Zeit und such dir einen neuen Freund! Sieh dich an der Uni um! Bei Hannelore habe ich geglaubt, die findet nie einen Mann – und jetzt fliege ich zu ihrer Hochzeit.“

„Wo soll ich denn einen Mann finden? An der Uni musst du dauernd beißen, um die Typen auf Distanz zu halten.“

„Wenn du die Burschen immer nur wegbeißt, kannst du keinen näher kennenlernen.“

„Wenn ich einen habe näher kommen lassen, war das jedes Mal ein Reinfall. Die meinen alle, das Kennen­lernen fange im Bett an.“

„Geh doch von dir aus auf einen zu, der dir gefällt. Ist doch für Frauen heute kein Problem.“

„Das kleine freund­liche Dickerchen im Seminar? Der hat eine Freundin, die auch im Seminar ist. Er will ihr dauernd zeigen, wie klug er ist. Oder der gut ausse­hende Sportsmann, der immer mit dem Fahrrad kommt und sich nie von seinem Helm trennt? Dann ist da noch einer mit stechendem Blick …“

„Sprich den Radfahrer doch mal an, setz dich neben ihn! Irgend­einen Anknüp­fungs­punkt wird es schon geben.“

„Ich habe mich über ihn erkundigt. Er ist schwul.“

„Hast du etwas gegen Schwule?“

„Soll ich ihn umdrehen?“

„In deinem Tennis­un­ter­nehmen ist auch niemand, der akzep­tabel für dich ist?“

„Was heißt akzep­tabel? Vom Äußeren her gibt es durchaus Männer, die ich attraktiv finde. Aber ich will ja nicht den Wettbewerb des bestaus­se­henden Paares gewinnen. Mein Problem ist, dass mir ständig die falschen Männer nachstellen. Das lief sogar, als ich noch mit Günter zusammen war. Da nahmen die überhaupt keine Rücksicht drauf. Bei manchen hatte ich den Eindruck, dass sie es geradezu darauf anlegten auszu­pro­bieren, ob wir denn nicht ausein­ander zu bringen seien.“

„Und Günter? Hat er um dich gekämpft? Oder war er auch da zu weich?“

„Er kann nicht kämpfen. Ich habe die Kerls weggefaucht.“

„Und du bist bei keinem Kerl schwach geworden, sondern bist treu geblieben?“

„Günter hatte den Vorteil, dass ich ihn schon lange kenne. Ich konnte mich von Anfang an geben, wie ich bin, ohne Vorsichts­maß­nahmen. Bei den anderen kennst du nicht die Vorge­schichte. Das wird dann schnell zu einem Abenteuer.“

„Vielleicht hättest du es mit ihm durch­halten sollen. Kannst du zu ihm zurück?“

„Er hat eine neue Freundin.“

Hirschberg dachte an seine Zeit als Jungge­selle zurück: „Ich hatte den Grundsatz: Lieber sein Leben allein leben, als sich unglücklich verhei­raten. Kannst du allein leben?“

Katha: „Tue ich doch. Nur mein Leben lang will ich das nicht. Wenn sich die Kerle doch nicht nur wie Auerhähne oder Hengste verhalten würden. Entweder wollen sie mir mit allem möglichen Getue imponieren, oder sie gehen provo­zierend auf mich los, oder sie heucheln Unter­wür­figkeit, oder sie spielen den vollendeten Kavalier, oder sie halten sich für unwider­steh­liche Liebhaber.“

Sehnsüchtig

Im Chatroom begegnen sich Adamek und Eva. Sie erkennen sich an ihrer Einsamkeit. Sie spinnen klebrige Fäden zuein­ander mit angst­be­setzten Tropfen. Unter ihren enttäuschten Sehnsüchten keimt neue Lust. Bilder und Worte verwandeln die Fäden zu Zündschnüren. 

Leiden­schaft bricht auf im Cyber­space. Kein Verbot. Keine Schlange. Kein Apfelbaum. Die Funken der Phantasie setzen die virtuelle Welt in Flammen. Das Verlangen nach glück­se­liger Endlosigkeit.

„Siehst du das nicht ein wenig einseitig? Männer sind von Natur aus Jäger und Sammler. Deshalb sind sie doch nicht alle Sexualneurotiker.“

„Wenn du mich mal einen Monat lang unsichtbar begleiten könntest, du wärst davon überzeugt.“

„Und den einen oder anderen erst einmal ins Bett nehmen und dann sehen, ob mehr dahinter steckt – auch keine Lösung? Entschul­digung. Ich denke gerne in Wider­sprüchen, um auf Lösungen zu kommen.“

„Da hast du aber gerade noch die Kurve bekommen.“

„Schwierige Situation. Da hat Gott dich beschenkt und du hast nur Ärger damit.“

„Es ist widerlich. Männer – übrigens auch Frauen – zeigen an dir krank­haftes Interesse, das nicht deiner Person gilt, sondern nur dem, was sie an dir erotisch finden. Schlimm ist vor allem, dass die sich mittler­weile für normale, für moderne Menschen halten. Die sehen voller Arroganz auf jeden herunter, der ihr Spiel nicht mitspielt, tun ihn ab als verklemmt und unfrei.“

„Nach deren Logik ist der Süchtige ein freier Mensch, weil er sich seiner Lust ungezwungen hingibt, seiner Sucht frönt. Der Drogen­ab­hängige ist danach ein freier Mensch und derjenige, der den Verführern wider­steht, das ist der verklemmte Unfreie, der Abartige, den man nur bedauern kann. Ist das nicht eine verkehrte Welt?“

„Widerlich. Also: Was rätst du mir?“

„Willst du wirklich einen Rat?“

„Ich bitte dich darum.“

„Du solltest dir ein Milieu suchen, wo man dir nicht nachstellt.“

„Was meinst du damit?“

„In Hollywood würdest du nicht auffallen.“

„Sagte ich doch: nach Hollywood!“

Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Doch sie kam von den Gedanken an die sie verfol­genden Männer nicht los: „Mehrere Typen haben mich schon monatelang bedrängt: Sie wollten unbedingt ein Kind von mir.“ „Neuro­tiker. Die Frau als Beet im Garten Eden, in das der Mann genüsslich sät.“

„Das sind zwar nur einzelne, aber sehr lästige Neuro­tiker. Die Mehrzahl will nur ‚genüsslich’, aber bitte ohne Folgen. Dass das ohne Folgen läuft, halten sie für die Aufgabe der Frau.“

„Hast du denn keinen Spaß an Sexualität?“

„Wenn du liebst, ist es etwas Wunderbares.“

„Du hast geliebt?“

„Günter.“

„Liebst du dich selbst?“

„Ja.“

„Lässt du es dich fühlen?“

„Von Zeit zu Zeit muss ich bei mir selbst sein.“

„Und kein schlechtes Gewissen dabei?“

„Nein. Es ist kein Ersatz, sondern eine Selbstvergewisserung.“

„Aber nur mit einem Partner wird es zu großar­tigem Erleben.“

„Ich habe keinen Partner.“

Katha sah traurig vor sich hin. Hirschberg versuchte, sie zu trösten. Beim gemein­samen Mittag­essen sagte Hirschberg versonnen vor sich hin: „Die Berufswahl ist der entschei­dende Punkt.“ Katha löste sich ihrer­seits aus ihren Gedanken und sah ihn fragend an. Er fuhr fort: „Ideal wäre es, wenn beide einen Beruf hätten, den sie gemeinsam und zuhause ausüben können. Dann wäre schon einmal eines gewähr­leistet: Sie können das Leben mitein­ander teilen, sie leben in einer gemein­samen Welt.“

Sie stieg ein: „Manche Partner sehen es aber als Teil ihrer Selbstän­digkeit, in der Arbeit nichts mit dem anderen zu tun zu haben.“ „Dann wollen die keine Ehe, sondern eine Feier­abend­part­ner­schaft.“ „Ohne Kinder.“ „Manche auch mit. Die verwechseln Ehe und Familie mit einem Kaufhaus, in dem man sich seine Wünsche nach Lust und Laune erfüllt. Und der Staat soll dafür sorgen, das alles wunsch­gemäß funktio­niert: Kinder­krippen, Kinder­gärten, Ganztags­schulen, Ferien­be­treuung und so weiter. Leider gibt es Politiker, die unablässig an der Illusion eines solchen staat­lichen Kaufhauses für Kinder-Dienst­leis­tungen arbeiten.“ „Bist du etwa gegen solche Hilfestellungen?“

„Was sollte ich dagegen haben? Nur das Problem wird nicht gelöst. Politiker als Glücks­bringer, die ihren Wählern jeden Wunsch erfüllen, ruinieren den Staat. Und das gilt erst recht, wenn sie den Menschen Ehe- und Famili­en­freuden nach dem Kaufhaus­prinzip verschaffen wollen.“

Katha schwieg. Sie empfand das alles als ein großes Dilemma und wollte sich nicht damit befassen. Anders Hirschberg. Er sah das Dilemma und war der Meinung, der Staat müsse sich weit mehr zurück­halten, als er es tat. Für die Folgen persön­lichen Fehlver­haltens dürfe nicht die Allge­meinheit herhalten müssen. Ihm kam noch ein Gedanke, den er gegenüber Katha loswerden wollte: „Treue ist mittler­weile schon ein unbekanntes Wort. Für viele Zeitge­nossen wird das Leben erst durch mehrere Partner, die man so im Laufe der Zeit hat, inter­essant. An die Möglichkeit einer Beziehung, die ein Leben lang dauert, glauben immer weniger Leute. Das ist für die außerirdisch.“

Katha: „Ich halte sehr viel von Treue.“

„Für das Glück einer Ehe ist Treue entscheidend. Aber jede Ehe hat ihre Krisen – und ist deshalb anfällig. Jeder ist, wie gesagt, verführbar. Und weil wir verführbar sind, ist jede Beziehung grund­sätzlich durch Untreue gefährdet. Dessen muss man sich bewusst sein. Sonst ist man in den Krisen­zeiten einer Beziehung eine leichte Beute der Verführer. Zwar heißt es, man solle nicht seines Nächsten Weib begehren…“

„Wer hält sich noch an dieses Gebot?“

„Soll ich dich verführen?“

„Nein! Hilfe! Bitte nicht!“

Sie läuft weg. Er hinter ihr her.

„Du wirst mir nicht entgehen.“

„Du Biest!“

„Du verfüh­re­rische Schlange!“

„Du ekeliger Frosch!“

„Du durch­triebene Hexe!“

„Du arroganter Klugscheißer!“

„Du wider­liche Kratzbürste!“

„Du …!“

Sie fallen sich in die Arme.

Der Tag der Abreise stand bevor. In den letzten Nächten hatte Hirschberg kaum noch Schlaf gefunden. Dauernd fiel ihm noch etwas ein, das er vielleicht doch noch einmal checken sollte. Er ärgerte sich, dass seine Gelas­senheit ihm abhanden gekommen war, er trotz aller Erfah­rungen nicht in der Lage war, in Ruhe seine Vorbe­rei­tungen zu Ende zu bringen, routi­niert und ohne beson­deren Zeitaufwand. Diese ständigen Zweifel: Hast du auch an das gedacht? Was könntest du noch vergessen haben? Wie einem Kind stand er sich selbst gegenüber: Wissend, was alles passieren kann, fiel ihm dauernd etwas ein, auf das er noch achten sollte. Beispiel: Seine teure Funkarm­banduhr könnte für Räuber inter­essant sein. War es da vielleicht ratsam, noch eine Billiguhr zu kaufen, und die an den Arm zu nehmen, während die Funkuhr im Handgepäck blieb?

Schließlich fiel ihm tatsächlich etwas sehr Wichtiges ein, das er bisher nicht bedacht hatte. Er hatte Katha noch nicht gezeigt, wie das Haus gegen Einbrecher gesichert wurde. Das war ein ausge­tüf­teltes Programm, das er im Laufe der Zeit entwi­ckelt hatte. Keine Elektronik, sondern lauter mecha­nische Sperren. Das musste er ihr unbedingt noch zeigen.

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