Vater unser (1)
Vater unser im Himmel
Wir dürfen zu Gott, der unsere Vorstellungskraft übersteigt, beten wie zu einem Vater. Dieser Vater lebt nicht in der von Raum und Zeit eingegrenzten Welt, er lebt in der raum- und zeitlosen Welt; dort, wo alle unsere Sehnsüchte erfüllt werden.
geheiligt werde dein Name
Heiligen heißt:
- inne halten bei der Sorge ums Überleben,
- sein Verhältnis als Geschöpf zu seinem Schöpfer reflektieren,
- das Bewusstsein stärken, dass wir nicht die Herren der Schöpfung sind,
- zu der Lebensperspektive finden, dass Gott weltbestimmend ist.
Der Sonntag ist der Tag des Innehaltens.
dein Reich komme
Das ist unsere große Hoffnung! Unser sehnlichster Wunsch! Die Erlösung von allem Bösen! Von allen Übeln, von allem Leid! Dann haben unsere Sorgen ein Ende!
Aufgrund seiner Reden und Wundertaten wollten die Juden Jesus zu ihrem Anführer machen, er sollte mit ihnen ein hiesiges Reich errichten. Jesus hat sich dem entzogen. Das Reich Gottes ist nicht diesseitig. Es hat eine allumfassende Dimension, die wir mit unserem Denken nicht erfassen können.
dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden
Viele Menschen glauben zu wissen, was der Wille Gottes ist; entsprechend wollen sie die anderen Menschen beeinflussen; da gehe ich vorsichtshalber auf Distanz; ich bin kein Gefolgschaftsmensch.
Von mir weiß ich: Ich muss tun, wovon ich überzeugt bin. Wenn man versucht, mich zu vereinnahmen, ziehe ich mich zurück. Ich kann erst etwas annehmen, wenn ich es eingesehen habe. Dann kann ich auch folgen, bin jedoch immer wieder kritisch, auch mir selbst gegenüber. Zwar haben die Milieuzwänge im Leben abgenommen, aber die Beeinflussung durch die Medien ist gewaltig.
unser tägliches Brot gib uns heute
Gott weiß, was wir zu unserem Leben hier brauchen. Mit der Bitte um „unser tägliches Brot“ machen wir unser Überlebensverständnis deutlich. Das darf zunächst wohl ganz konkret sein: täglich genug zum Essen und Trinken haben. In meiner Kindheit habe ich Notzeiten kennengelernt. Erst jetzt kann ich ermessen, was meine Eltern in dieser Zeit für unser Überleben geleistet haben.
vergib uns unsere Schuld
Unser Wissen ist lückenhaft und unvollkommen. Daher denken, reden und handeln wir in Vorstellungen, die allenfalls annäherungsweise der Wirklichkeit entsprechen. Die Nebel der Unwissenheit verhüllen uns die Wahrheit. Aus unserer nur schemenhaften Orientierung ergeben sich Fehleinschätzungen und Irrwege.
Schuldig vor Gott werden wir, wenn wir die Gegebenheiten unserer Existenz nicht akzeptieren, so tun, als wüssten wir alles und wären irrtumsfrei. Der angemaßte Absolutheitsanspruch – denken, reden und handeln wie Gott – ist schuldhaft, weil wir ständig erfahren, dass es nicht so ist – uns aber darüber hinwegsetzen.
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
Nur Gott beurteilt uns Menschen gerecht, wir sind dazu unfähig. Unsere Bitte, uns zu vergeben, ist nur dann berechtigt, wenn wir unsererseits unseren Mitmenschen ihre Schuld uns gegenüber vergeben. Es gibt kein zweierlei Maß in Fragen der Gerechtigkeit. Schuldzuweisungen sind Ausdruck von Selbstgerechtigkeit. Vergeben eröffnet die Chance, sich zu verbessern und sich liebevoll Gott und den Mitmenschen zuzuwenden.
und führe uns nicht in Versuchung
Diese Bitte bete ich seit je her mit besonderem Nachdruck. Denn mir ist bewusst, dass es Situationen gibt, aus denen man nicht mehr heil rauskommt. Das sind vor allem die „schiefen Ebenen“: Man erkennt die Gefahr zu spät.
sondern erlöse uns von dem Bösen
Das Böse ist in der Welt; auch wenn es von denen geleugnet wird, die mit ihrer Ideologie und Herrschaft oder in grenzenloser Naivität paradiesische Verhältnisse schaffen wollen. Nochmal: Die Welt ist unvollkommen und vorläufig; sie ist in Raum und Zeit gefasst; sie ist geprägt von Werden und Vergehen, dem Tod unterworfen.
Amen