Es folgen fünf Gesätze mit jeweils zehn „Gegrüßet seist du Maria“, vorangestellt ein „Vater unser“.
(Gesätz? Bezeichnung für die Abfolge von Liedstrophen zur Zeit des Minnesangs, der Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert. Zu der Zeit entstand das uns überlieferte Rosenkranzgebet als Liebeslied an Maria, die Mutter Gottes)
Erstes Gesätz
Vater unser (2)
Vater unser im Himmel
Jesus hat uns gelehrt, zu Gott, unserem Vater, zu beten, uns mit unseren Sorgen und Nöten an ihn zu wenden. Aber wir dürfen ihm auch unsere Freude zeigen und ihm Dank sagen. Er kennt uns durch und durch, ist ein fürsorglicher Vater, der um unsere Bedürfnisse weiß, der uns mit vielen Gaben beschenkt hat, der es uns jedoch nicht abnimmt, an uns zu arbeiten, uns zu entfalten.
geheiligt werde dein Name
Von der weltbestimmenden Macht „Gott“ wissen wir nur den Namen; mehr können wir nicht erfassen. Gott gegenüber müssen wir demütig sein, uns eingestehen, dass wir unvollkommen sind – insbesondere unsere Unwissenheit müssen wir eingestehen. Wir müssen uns eingestehen, dass wir uns irren und Fehler machen, dass wir sündigen:
- aus Fahrlässigkeit,
- aus Schwäche,
- aus Selbstherrlichkeit,
- weil wir vorsätzlich wider besseres Wissen handeln,
- weil wir unterlassen, was wir zu tun hätten,
- weil wir auf Kosten anderer Menschen leben,
- als Mittäter von Machthabern, die gegen die Menschenrechte verstoßen, Gottes Gebote missachten.
dein Reich komme
Die Reiche dieser Welt:
Wer unter uns Führungsqualitäten zeigt, hat schnell eine Anhängerschaft, die mit ihm an der Spitze ihre Erwartungen an das Leben sich erfüllen will. Anhänger sind immer eine Versuchung. Denn sie wollen ihre Erwartungen, denen sie selbst nicht genügen können, von einem unvollkommenen Menschen erfüllt sehen, der sie jedoch auch nicht erfüllen kann. Das ist das Phänomen der Idole und ihrer Fans.
Gefolgschaftssysteme sind autoritäre Systeme, die nach „Befehl und Gehorsam“ funktionieren. Es gedeihen Fanatismus und Selbstaufgabe. Die demagogische Rede und Gewalt sind die Mittel, sich in die Herrschaftsposition eines solchen Systems zu bringen. Demagogen versprechen, wonach Menschen sich sehnen: Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Wohlstand, Liebe; haben sie die Macht, treten sie das alles mit Füßen.
dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden
Schon in der Schule habe ich die Erfahrung mit mir gemacht, dass ich nicht im Vertrauen auf den Lehrer mir etwas aneignen kann, sondern nur das, was ich erkannt und durchschaut, erprobt und angewendet habe. Eigentlich kann ich nur lernen, was ich mir selbst beibringe, mit meinem Tempo, mit selbst entwickelten Methoden, mit dem eigenen Herausfinden von Richtig und Falsch.
Dabei nutze ich durchaus die Erkenntnisse und Erfahrungen anderer. Ich muss nicht alles neu erfinden. Suchen und finden, untersuchen und durchdenken. Erproben und dann auf mich und meine Situation anpassen. Mir ist bewusst, dass alles dennoch Stückwerk ist, dass ich mich irre und Fehler mache. Deshalb muss ich mich ständig verbessern. Ich sehe mein Leben als einen fortwährenden Selbstverbesserungsprozess.
unser tägliches Brot gib uns heute
Meine Frau hat in den Nachkriegsjahren und im Sozialismus erfahren, was Überleben in Notzeiten bedeutet und weiß, was es für Eltern heißt, in solchen Zeiten eine Familie durchzubringen. Ich kenne Kriegs- und Nachkriegszeiten. Wir beide wissen, dass Leben im Wohlstand keine Selbstverständlichkeit ist. Wir haben eine Lebenseinstellung mitbekommen, die Sparsamkeit kennt.
vergib uns unsere Schuld
Die Schuld, um deren Vergebung wir bitten, heißt: Gott ignorieren, sich gegen ihn auflehnen, sich an seine Stelle setzen. Um nicht schuldig zu werden – immer wieder aufs Neue – müssen wir uns unentwegt auf Gott hin orientieren, unser Un- und Falschwissen anerkennen, demütig sein.
Gott hat uns nicht orientierungslos in die Welt gesetzt. Wir haben vielfältige Wahrnehmungsmöglichkeiten, sind mit fünf Sinnen ausgestattet. Uns ist Verstand gegeben, um unsere Wahrnehmungen zu verarbeiten, Erfahrungen zu sammeln und daraus dann Schlussfolgerungen zu ziehen.
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
Wir sind alle Sünder; wir sitzen alle im Glashaus; keiner dürfte den ersten Stein werfen – aber wir alle werfen mit Steinen. Uns fällt an unserem Nächsten immer etwas auf, das wir nicht mögen. Es gibt nur eine Ausnahme: Verliebte. Aber die Zeiten des Verliebtseins heben unsere Fehler und Irrtümer nicht auf.
Jeder Mensch ist „durchwachsen“, hat Einstellungen und Verhaltensweisen, die wir an ihm mögen und andere, die wir nur schwer ertragen können. Auf dieses Ertragenkönnen kommt es an. Denn das Nicht-ertragen-können ist der Ausgangspunkt für viel Unheil in der Welt.
Wir neigen zu der Einstellung, den Splitter im Auge des anderen zu sehen, aber nicht den Balken im eigenen Auge. Davor hast du uns, Herr, gewarnt. Diese Warnung sollte uns immer präsent sein, um nicht in Selbstgefälligkeit die eigenen Schwächen zu übersehen und mit dem Blick auf die Schwächen der anderen uns über sie zu erheben.
und führe uns nicht in Versuchung
Neugier, Wissens- und Erlebnishunger sind in unserer Entwicklung wichtig. Nur so können wir uns die Welt erschließen und lebenstüchtig werden. Das geht aber nicht ohne Risiko. Und auch nicht ohne Mut. Um weder übermütig noch leichtsinnig in Gefahren hineinzuschlittern, müssen wir lernen, sie rechtzeitig zu erkennen.
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Die Denkfreiheit des Menschen gibt ihm die Möglichkeit, eigenmächtig und selbstherrlich Vorstellungen von der Welt zu entwickeln, die der von dir, Herr, geschaffenen Wirklichkeit widersprechen. Um diesen Widerspruch zu vertuschen, wirst du geleugnet, für tot erklärt, außer Acht gelassen, totgeschwiegen.
Weil dann aber – in der Konsequenz solchen Denkens – mit dem Tod alles aus ist, es kein Jenseits gibt, dein Reich nicht existiert, sondern eine Erfindung von Menschen ist, muss diese Welt zum Paradies gemacht werden – das geht nur mit Gewalt. Das Vorgaukeln einer paradiesischen Zukunft dient als Vorwand für Böses.
Amen
Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade
Du hast dich gehorsam in die Rolle der Gottesgebärerin gefügt, was nur möglich war „voller Gnade“. Du hast ein Kind geboren, dessen Identität für dich wie für uns nicht fassbar war und ist.
der Herr ist mit dir
Aber Gott hat sich in deine Obhut als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener gegeben. Du durftest ihm Mutter sein – voll der Gnade und weil er mit dir war.
du bist gebenedeit unter den Frauen
Du bist nicht als Verkünderin des Glaubens in die Weltgeschichte eingetreten, sondern als die Frau, die den Erlöser der Menschheit, den Bringer der Frohen Botschaft geboren hat.
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes: Jesus
Dein Sohn hat sich in unsere Vorstellungsmöglichkeiten eingepasst; seine Geburt wird als großes Fest gefeiert: Weihnachten.
Auf das Fest der Freude über die Geburt Jesu, folgt am Karfreitag die Trauer über sein Leiden und seine Hinrichtung:
Einschub: der gefoltert und hingerichtet wurde – zur Vergebung unserer Sünden
An dieser Stelle des ersten und der weiteren neun zu betenden „Gegrüßet seist du Maria“ rufe ich mir die Verstorbenen unserer Familie und verstorbene Freunde ins Bewusstsein: Meine Mutter, meinen Vater, meine Großmutter; die Eltern meiner Frau; meinen Schwager; Onkel und Tanten; Nichten; Vettern und Cousinen, Freunde.
heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder
Wir leben vielfach im Widerspruch zu Gottes Wahrheit und Willen, weil wir aus Selbstherrlichkeit Gott ausblenden.
jetzt und in unserem weiteren Leben
Was kann ich tun? Was muss ich tun – auch wenn es schwer, langwierig und schmerzhaft ist?
Hilf mir in der Stunde meines Todes, endgültig los zu lassen, damit ich mich in deine Arme fallen lassen kann, im Vertrauen darauf, nicht in endloses Dunkel zu fallen, sondern in ewiges Licht aufzusteigen.
Amen
Spontane Gedanken mache ich mir zu den jetzt folgenden, neun Mal zu betenden „Gegrüßet seist du Maria“: nach dem Einschub (vor der Hinwendung „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder“). Ich rufe Erinnerungen an die verstorbenen Familienangehörigen und Freunde wach.
Abschluss des ersten Gesätzes:
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist. Wie es war am Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit!
Ehre – ein heute wenig gebräuchlicher Ausdruck, der in der Vergangenheit immer wieder missbraucht wurde. Dir, Herr, die Ehre geben, heißt: meine Unvollkommenheit akzeptieren und dich in deiner Vollkommenheit vorbehaltlos anerkennen.