Wie ich versuche, die Gebote Gottes als
meine Lebenswirklichkeit zu verstehen
Die Welt ist gekennzeichnet durch Anfang und Ende, durch ständig neu entstehendes Leben und durch vergehendes Leben. Geburt und Tod. Wir Menschen sind diesem Werden und Enden unentrinnbar unterworfen. Wir haben uns nicht selbst geschaffen. Und in keinem Moment unseres Lebens können wir unseren Tod ausschließen.
Auch wenn wir das Sterben in die Krankenhäuser und Pflegestationen verlegt haben, die Toten den Bestattungsunternehmern überlassen und als junge Menschen unseren Tod noch in weiter Ferne sehen – wir können ihn nicht verbannen, er trifft nicht immer nur die anderen. Der Tod umfängt uns als jederzeit möglich.
Es gibt Menschen, deren Beruf es ist, sich mit Todesfällen zu beschäftigen. Arbeitsteilung und Spezialisierung haben aus der Beschäftigung mit Todesfällen einen „Job“ gemacht, der nur zu leisten ist, wenn man sich emotional nicht mit den Einzelfällen beschäftigt, sondern ausschließlich fachlich.
Die Ausgrenzung des Todes aus dem Alltag, seine Überweisung an Spezialdienste haben dazu geführt, dass viele Menschen mit der Wirklichkeit des Todes und erst recht des Tötens nicht mehr zurecht kommen. Soldaten aus unserer Gesellschaft, die in den Kriegsgebieten von heute ihren Dienst tun, haben Probleme mit dem Tod.
Manche Soldaten sind nach ihrem Kriegseinsatz psychisch gestört. Sie brauchen Hilfe, sind aber oft unfähig, sie anzunehmen – wenn denn überhaupt jemand da ist, der helfen kann. Die Realität des Todes wirft uns heute schnell aus der Bahn, setzt uns unter Schock. Daher ist es ratsam, sich mit dem Tod auseinander zu setzen, bevor er einen trifft.
An zwei Stellen des Alten Testaments wird gleichlautend das Gebot „Nicht töten“ als Gebot Gottes aufgeführt. Das fünfte Gebot lautet:
Du sollst nicht morden. > Buch Exodus
Du sollst nicht morden, … > Buch Deuteronomium
Der Tod als Kennzeichen der Welt
Immer wieder begegne ich Menschen, die sagen, an Gott nicht glauben zu können, weil er so viel Elend und Leid zulasse. Und dann erzählen sie von den Schicksalen in ihrer Familie, von dem, was sie in der Welt gesehen und erlebt haben, nennen schreckliche Zahlen. Das Geschöpf sagt zu seinem Schöpfer: Schaffe mir das Paradies, dann glaube ich an Dich.
Solche Situationen machen mich tief betroffen. Es wäre unangemessen und käme auch nicht an, würde ich versuchen zu argumentieren. Ich werde still. Vielleicht zeige ich meine Anteilnahme in Gesten, biete konkrete Hilfe an. Mit behutsam gewählten Worten versuche ich, Trost zu spenden. Jesus Christus hat Folter und einen grausamen Tod auf sich genommen.
Mir selbst sage ich: Leiden kann ich aus meiner unzulänglichen Perspektive als Mensch weder verstehen noch beurteilen – ich kann mich nur Gott anvertrauen und auf „sein Reich“ hoffen. Beten und liebevolle Hinwendung zu den Menschen, die leiden. Ja, es gibt furchtbares Leiden. Wir müssen es annehmen, so wie es Jesus uns vorgelebt hat.
Die Hoffnung auf das „Reich Gottes“
nimmt dem Tod seine Endgültigkeit
Gott ist als Jesus Christus in Raum und Zeit dieser Welt eingetreten. Er hat sich offenbart und den Menschen die „Frohe Botschaft“ vom „Reich Gottes“ gebracht. Er wurde getötet. Aber dann ist er auferstanden! Ich glaube: Auch wir Menschen werden durch den Tod nicht ausgelöscht. Im Gegenteil: Nach der Lebenszeit auf der Erde beginnt die Ewigkeit.
Der Tod ist das Tor zur Herrlichkeit Gottes. Der Mensch stirbt nicht. Getötet werden kann er nur in seiner irdischen Existenz. Diesen Tod lässt Gott zu, in all seinen grausamen und oft mit Leid verbundenen Formen. Aber: Klinisch Tote, die reanimiert werden konnten, berichten von der Glückseligkeit, die sie empfunden haben.
Unser Tod ist nicht vorhersehbar. Man sollte sich mit ihm im Zusammenhang der grundlegenden Fragen unseres Lebens auseinandersetzen. Was ist der Sinn meines Lebens? Was ist die Vorgeschichte meines Lebens? Wonach strebe ich in meinem Leben? Was will ich erreichen? Wer sind meine Vorbilder? Wem folge ich?
Ich lebe anders, wenn ich der Überzeugung bin, mit dem Tod ist nicht alles vorbei, sondern wechsle ich in die Nähe zu Gott. Wäre mit dem Tod alles aus, würde ich versuchen, von meinem Leben zu jedem Zeitpunkt möglichst viel zu haben. Dann gilt: Heute Wohlstand genießen, heute etwas Interessantes erleben und nur ja nichts verpassen. Verzichten? Nein. Spaß haben!
Die Kurzsichtigkeit eigener Selbstherrlichkeit
Irdisches Leben wird ausgelöscht, weil Menschen sich zu Herren über Leben und Tod machen. Aus Motiven, die der Selbstherrlichkeit entspringen: Macht haben wollen, die Frau des anderen begehren, nach seinem Hab und Gut trachten, sich eine eigene Wahrheit schaffen und absolut setzen, nicht die Wahrheit Gottes.
Wir sehnen uns nach absoluter Gerechtigkeit. Wir sehnen uns nach einem Zusammenleben in Frieden. Wir sehnen uns nach einem Leben in Freiheit. Das selbstherrliche Töten lässt das alles nicht zu. Und wir müssen uns eingestehen: Auch wir sind aufgrund unserer eigenen Unvollkommenheit am Unrecht der Welt beteiligt.
Das Töten als Selbstzerstörung der Menschen
Menschen töten Menschen. In Kriegen. In despotischen Herrschaftssystemen. In Menschen verachtenden Traditionen und Sozialstrukturen. Der Vorhof des Tötens ist der Unfriede. Streit, Hass, Rache; Fanatismus, Willkür, Gewalt; Unterdrückung, Folter, Rechtsbeugung; Respektlosigkeit, Egoismus, Rechthaberei – all das bereitet dem Morden den Weg.
Menschen können nur in Frieden miteinander leben, wenn sie sich nicht gegenseitig umbringen. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis die Völker im Westen Europas zu ihrem Frieden gefunden haben. Im Osten ist er jetzt gebrochen worden. Von Weltfrieden kann nicht gesprochen werden. Und es besteht wenig Hoffnung, dass ein Weltfrieden jemals geschaffen werden kann.
Der Rechtsstaat ist eine großartige Entwicklungsstufe der Zivilisation. Trotz der ständigen Rechtsbrüche und vielen Unzulänglichkeiten aufgrund menschlicher Unvollkommenheit – und Bosheit. Die Formulierung der Menschenrechte ist ein großer Fortschritt in der Menschheitsgeschichte. Das Dilemma: Ihre weltweite Durchsetzung scheitert an den Machtverhältnissen.
Unvollkommenheit ertragen, Frieden durch Kompromisse
Jahrtausende lang haben Herrscher über Leben und Tod ihrer Untertanen entschieden. Ohne einen Gott über sich anzuerkennen oder als angeblich von Gott bestimmte Potentaten, haben sie Todesurteile gefällt. Auch heute gibt es Länder, in denen die Todesstrafe verhängt wird. Und auch im Namen der Kirche wurden Todesurteile gesprochen und vollstreckt.
In den meisten Demokratien ist die Todesstrafe abgeschafft worden. Gestritten wird über den Anfang und das Ende menschlichen Lebens. Niemand ist bei der Debatte im Besitz der unbestreitbaren Wahrheit. Jeder kann seine Überzeugung einbringen; sie dem anderen aufzwingen, kann er nicht. So müssen wir hinnehmen, dass für die einen Abtreibung Mord ist, für andere nicht.
Sich aus der Welt zurückziehen, weil man seine Glaubensüberzeugung nicht für alle bindend machen kann, entspricht nicht dem Weltauftrag der Glaubenden. Alle müssen ertragen, dass es unterschiedliche Auffassungen und dennoch für alle in gleicher Weise geltende Gesetze gibt. Daher müssen Kompromisse gefunden werden.
Wir an Gott glaubende Menschen und unsere Mitmenschen, die nicht an Gott glauben, müssen konkrete Entscheidungen für das Gemeinwesen treffen. Das erfordert Gesetze, die jedem die Freiheit geben, nach seinen Auffassungen zu leben, solange die Freiheit der anderen nicht beeinträchtigt wird. Nur so wird der Frieden bewahrt. Durch Toleranz.
Gibt es ein erlaubtes Töten?
Menschen töten Menschen: boshaft, zwanghaft, fahrlässig, irregeführt, krankhaft, aus Verzweiflung, zur Selbsterhaltung. Wegen unserer Unvollkommenheit: Nur Gott kommt das Urteil über einen Mörder zu. Dieser Einsicht entspricht die Abschaffung der Todesstrafe. Denn es gibt kein Gerichtsverfahren, das zu einem Urteil absoluter Gerechtigkeit führt.
Das Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit kennt Grenzfälle des Tötens. Staat und Kirche machen Vorgaben, in welchem Fall Töten ein Straftatbestand, also eine Sünde ist und wann nicht. Erlaubtes Töten: Notwehr zum Erhalt des eigenen Lebens; Tyrannenmord um der Freiheit willen. So werden Verteidigungskriege gerechtfertigt.
Die Liebe, nicht die „reine Lehre“, hat oberste Priorität
Zu den Anmaßungen von Menschen unserer Zeit gehört, menschliches Leben zu unterteilen in lebenswertes Leben und lebensunwertes Leben. Zu einer solchen Beurteilung ist der Mensch als Geschöpf Gottes aufgrund seines Unwissens unfähig. Weder, was die Anfänge menschlichen Lebens noch was Krankheit, Handicaps oder Altersleiden angeht.
Wenn ein Mensch fahrlässig, gezwungenermaßen oder gewollt in die Situation kommt, über Leben und Tod entscheiden, mitentscheiden zu müssen, dann kann ihm niemand die Verantwortung für sein Tun abnehmen. Aber es ist Aufgabe der Kirche, deutlich zu machen, wie sie die Wahrnehmung der Verantwortung nach ihrer Lehre sieht.
Abtreibung ist Töten menschlichen Lebens. Denn das im Mutterleib gezeugte Leben hat das gesamte Potenzial eines Menschen. Danach gibt es keinen Zeitpunkt, bis zu dem von einer Vorstufe die Rede sein könnte. Schwangeren die Dokumentation einer stattgefundenen Beratung zu verweigern, ist indes lieblos. Denn die Beratung ist ein Dienst liebevoller Zuwendung.
Die Medien nutzen den Schauder des Todes und den Reiz des Tötens
In der Realität unseres Lebens sind der Tod und das Töten nicht mehr allgegenwärtig. Aber in den Medien. Aus allen Winkeln der Erde wird berichtet über Kriege, Unfälle, Katastrophen, Gewaltausbrüche, Terroranschläge, Amokläufe, Selbstmorde, Bluttaten. Damit nicht genug: In Filmen und Unterhaltungssendungen hält man uns mit Leichen und Morden in Atem.
Bei jungen und bei psychisch nicht stabilen Menschen kann die virtuelle Welt des Todes und des Tötens zum Problem werden, wenn es ihnen nicht gelingt, Fiktion und Wirklichkeit auseinander zu halten. Denn zwischen der medialen Darstellung und der realen Welt gibt es Wechselwirkungen. Die Faszination der Medien kann übermächtig und verhaltensbestimmend werden.
Nur ein kritischer und analytischer Umgang mit den Medien kann die Gefahren ihres Konsums reduzieren. Welche Medien steuern meine Aufmerksamkeit? Setze ich mich mit den Inhalten, die ich aufnehme, auseinander? Rede ich mit anderen darüber? Oder sauge ich sie auf und nehme ich sie als Verhaltensmuster, damit ich weiß, wie es geht?