Wie ich versuche, die Gebote Gottes als
meine Lebenswirklichkeit zu verstehen
Meine Eltern reagierten enttäuscht, wenn sie merkten, dass ich sie belogen oder ihnen etwas verheimlicht hatte. Dann folgte ein längeres Gespräch, in dem es ihnen darauf ankam, den Grund zu erfahren. Meistens war das Angst. Diese versuchten sie mir zu nehmen, indem sie mich ihre Liebe spüren ließen und Argumente zur Lösung meines Problems nannten – oder mit einem „Schwamm drüber“ verziehen.
Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder erlebt: Mit unserer Wahrheitsliebe ist es nicht weit her: aufgrund von Vorurteilen, Unverstand, Interessenskonflikten, Missverständnissen, Bosheit, Feigheit, mangelndem Selbstbewusstsein – alles in allem wegen unserer Unzulänglichkeit. Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht: Liebe und Vertrauen machen Wahrheit möglich. Dazu gehört auch Klartext.
An zwei Stellen des Alten Testaments geht es um das Gebot der Wahrheitsliebe:
Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
> Buch Exodus
… du sollst nicht Falsches gegen deinen Nächsten aussagen, …
> Buch Deuteronomium
Unser Wissen ist bruchstückhaft
Unserem Nächsten gegenüber bei der Wahrheit bleiben! Das heißt: Unser Lebenszeugnis soll wahrhaftig sein. Wir sollen in unserem Denken, Reden und Handeln Wahrheitsliebe zeigen. Das ist eine Kampfansage an uns selbst: Unsere Schwächen überwinden und unsere Boshaftigkeit besiegen! Gewinnen wir in diesem Kampf nicht die Oberhand, ist unser Lebenszeugnis eine Falschaussage vor Gott und den Menschen.
Das Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit ist nur aufgrund von Wohlwollen und in gegenseitigem Vertrauen möglich. Dem entgegen stehen unsere Schwächen wie Egoismus, Unachtsamkeit, Intoleranz, Neid, Missgunst, Verleugnen, Verschweigen. Und Boshaftigkeit: Verachtung, Hass, Betrug, Unterdrückung, Vergewaltigung, Mord. Wie können wir Schwächen und Bosheit zurückdrängen?
Wir wissen: Gerechtigkeit gibt es nur unter der Voraussetzung von Wahrheit. In jedem Gerichtsverfahren geht es – sollte es – nur um das Herausfinden der Wahrheit gehen. Nirgends sonst wird jedoch die Unvollkommenheit des Menschen so deutlich, tritt unsere Unwissenheit so schmerzlich zu Tage wie in dem Bemühen, ein gerechtes Urteil zu fällen. Fehlurteile! Oft aufgrund einer falschen Zeugenaussage.
Zeugen müssen vor Gericht ihre Aussagen beeiden, sich zu einer Ehrlichkeit bekennen, die sie sich nicht selbst bestätigen können. Aber wer kann die Wahrheit einer Aussage bestätigen? Menschen können es wegen ihres bruchstückhaften Wissens und wegen ihrer Irrtümer nicht. Es kann nur Gott, der Allwissende. Was aber ist dann ein Eid wert, der nicht durch den Glauben an Gott gebunden ist?
Weder die in Gutachten sich widerspiegelnde Wissenschaftsgläubigkeit noch die in Gesetze gegossene Staatsgläubigkeit unserer Zeit können unseren Mangel an Wissen aufheben. Deshalb: Im Zweifel für den Angeklagten. Was wir können: Uns in unseren Gemeinschaften – also in der Partnerschaft, in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Arbeitsgruppe, der Freizeitgruppe, also immer und überall – um Ehrlichkeit bemühen.
Wahrheit leben
Kinder und Jugendliche checken in ihrer Entwicklung sehr schnell, ob es einen Vorteil bringt, nur die „halbe Wahrheit“ zu sagen oder sie ganz abzustreiten. Für Eltern, Erzieher und Lehrer ist es eine große Herausforderung, zur Wahrheit zu erziehen. Die Liebe zur Wahrheit muss vorgelebt werden. Kinder müssen lernen, dass Lügen unser Zusammenleben gefährden und dass Lügen „kurze Beine“ haben.
Wir fallen aus der Wirklichkeit Gottes, sobald wir unser Wissen selbstherrlich zu unseren Gunsten und mit der Macht des Stärkeren einsetzen. Das Nichtwissen anderer zum eigenen Vorteil nutzen, die Wahrheit eigennützig manipulieren oder die Unwahrheit verbreiten, ist sündhaft, weil lieblos. Wer das Ansehen anderer herabsetzt, um das eigene Ansehen zu steigern, handelt lieblos. Mobbing tötet.
Das Bekenntnis zur Wahrheit hängt mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen zusammen. Wer in seinem Selbstwertgefühl von seinen Mitmenschen abhängt, wird immer wieder in Versuchung kommen, seine Schwächen hinter Verschweigen, Leugnen und auch Lügen zu verstecken. Und er wird versuchen, sein Ansehen durch Übertreibungen und falsche Behauptungen zu steigern. Prahlhälse haben ein gestörtes Verhältnis zur Wahrheit.
Wir neigen dazu, unsere Wünsche und Sehnsüchte am Vorbild anderer Menschen festzumachen. Wir haben Idole. Das macht verführbar. Wir sind dann anfällig für Ideologien. Und die bewirken Wirklichkeitsverlust. Das öffnet Demagogen den Weg zur Macht. Denn Demagogen behaupten im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Wohin das führt, hat die Geschichte Deutschlands im vorigen Jahrhundert unheilvoll gezeigt.
In der Welt von heute sind die Menschenrechte – dazu gehört auch die Religionsfreiheit – zwar erkannt und formuliert, aber in vielen Ländern kommen sie nur teilweise und in manchen gar nicht zur Geltung. Nach wie vor gilt in einer Vielzahl von Staaten das Recht der Staatsreligion. Nur der Katholischen Kirche ist es gelungen, eine von weltlicher Macht und Nationalität freie und globale Geltung zu erlangen.
Die Freiheit der Wahrheitsliebe
Zur Annäherung an die Wahrheit Gottes müssen wir unsere Freiheit nutzen. Das tun wir, wenn wir unseren Glauben für absolut wahr halten. Das ist Religionsfreiheit. Was wir nicht dürfen: Anderen Menschen unseren Glauben aufzwingen. Jeder darf seinen Glauben als absolute Wahrheit ansehen. Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht. Deshalb dürfen Muslime bei uns Moscheen bauen.
Über Jahrtausende waren die Herrschaftsstrukturen in der Welt autoritär. Den Untertanen wurde der Glaube des Herrschers aufgezwungen. Wenn der Herrscher sich als Gott sah, mussten die Menschen in seinem Reich ihn anbeten. Die Christen der Urkirche verweigerten diese Anbetung. Sie nutzten ihre Freiheit dazu, Gott zu bekennen und dafür ihre Hinrichtung auf sich zu nehmen. So gaben sie Zeugnis für ihren Glauben.
Könnten wir Gott, der in allem vollkommen ist, als unseren Gott erkennen, wäre unsere Freiheit aufgehoben. Denn unsere Freiheit macht nur Sinn, weil sie uns unvollkommenen Geschöpfen die Annäherung an die Wahrheit Gottes möglich macht. Es ist Selbstbetrug, trotz unserer Unvollkommenheit uns selbstherrlich als die Herren der Schöpfung aufzuspielen. Ohne die Orientierung auf die Wahrheit Gottes hin scheitert die Menschheit.
Die Wahrheit Gottes – das ist das vollkommene Wissen um die sichtbare und unsichtbare Welt – ist für uns in dieser Welt unerreichbar. Gebunden in Raum und Zeit sind Leid und Tod für uns niederschmetternd, kaum zu ertragen. Denn wir erkennen nicht den Sinn. Manch einer verliert darüber den Glauben an Gott, vertraut nicht dem, der sich als Mensch dem Leiden und dem Tod unterwarf.
Alles, was wir zählen, wiegen und messen können, halten wir für wahr. Ist das von Menschen geschaffene Wahrheit? Nein, wir haben uns lediglich darauf geeinigt, vorgegebene Teile der Schöpfung und durch uns vorgenommene Veränderungen nach einheitlichen Maßstäben zu definieren. Auch sind wir geneigt, alles für wahr zu halten, was wir mit unseren fünf Sinnen erfassen können. Doch wir nehmen subjektiv wahr.
Die Lüge der Selbstherrlichkeit
Selbstherrlichkeit hat mit der Wahrheit Gottes nichts zu tun. Sie ist unehrlich. Nur die Demut des Geschöpfes vor der Vollkommenheit seines Schöpfers stellt das Erkenntnisstreben und das Einsichtsvermögen des Menschen in die Ordnung der Wahrheit Gottes. Wer ruhmsüchtig ist, sich arrogant als fehlerfrei in den Vordergrund drängt und bejubeln lässt – der gibt ein falsches Zeugnis. Keiner kann seiner Unvollkommenheit entgehen.
Ein Möchtegern ist, wer etwas vortäuscht, was er nicht ist, und Verhaltensformen annimmt, von denen er glaubt, sie machten ihn zu einem gottgefälligen Menschen. Er gibt ein falsches Zeugnis gegenüber seinen Nächsten. Wer sich mit Statussymbolen umgibt, um seine Unvollkommenheit durch die Einschätzung anderer Unvollkommener aus der Welt zu schaffen, täuscht sich: Er gibt seine Authentizität vor Gott und den Menschen auf.
Ja, wir belügen uns auch oft selbst. Damit wir gut vor uns selbst dastehen. Damit wir uns keine Schuld eingestehen müssen. Damit wir uns über andere erheben können. Damit wir uns nicht als minderwertig vorkommen. Damit wir für vernünftig ansehen, Gott zu leugnen. Wir machen uns zu Meistern im Ausblenden unangenehmer Wahrheiten, laufen davon, stecken den Kopf in den Sand, wollen die Wahrheit nicht wahrhaben – und scheitern.
Aber was ist die Wahrheit? Was ist Lüge? Wenn ich wissentlich etwas Falsches sage, ist das eine Lüge. Aber wenn ich voller Überzeugung etwas Falsches sage, ist das auch eine Lüge? Es ist die Unwahrheit, ein Irrtum, der entschuldbar ist, wenn er nicht fahrlässig zustande gekommen ist, weil man die Wahrheit nicht gesucht hat. Um die Wahrheit muss man sich bemühen. Das ist eine Lebensaufgabe.
Der Umgang mit der Wahrheit erfordert, dass wir es uns in unserer Unwissenheit nicht bequem machen. Unbesehen die Vorurteile anderer übernehmen – das ist Faulheit. Statt dessen gilt: genau hinsehen, nachfragen, nachdenken, abwägen und sich dann erst ein Urteil bilden. Schwächen sind im Spiel: Konfliktscheu, Unannehmlichkeiten vermeiden wollen. Aus Unwahrheiten entwickeln sich die Übel dieser Welt.
Wie man sich der Wahrheit annähert
Unser Denken, Reden und Handeln drückt aus, ob wir trotz all unserer Unvollkommenheit uns auf die Wahrheit unseres Schöpfers hin bewegen: durch die Verbesserung unserer Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit, durch unser Erkenntnisstreben, durch das Zurückdrängen unseres Handelns gegen besseres Wissen, durch die Überwindung von Schwächen und Boshaftigkeit. Unsere Freiheit befähigt uns, das zu schaffen.
Unsere fünf Sinne lassen sich ständig verbessern. Dazu muss man sie bewusst einsetzen, seine Wahrnehmung kontrollieren und mit den Wahrnehmungen anderer vergleichen. Übungsmöglichkeiten, beispielsweise Wartesituationen, nutzen: Was sehe ich alles? Was höre ich? Wonach riecht es hier? Wie fühlt sich was an? Welcher Geschmack kommt mir auf die Zunge? Seine Umwelt mit seinen Sinnen ausschöpfen!
Seine Beobachtungen und Feststellungen immer mit Fragen aufarbeiten: Warum ist das so? Was sind die Ursachen? Welche Zusammenhänge bestehen? Welche Rückschlüsse lassen sich ziehen? Welche Vermutungen liegen nahe? Wenn wir mit Menschen zusammen sind, sollte uns das Freude bereiten. Es gibt so herrliche Menschen! Meinungen austauschen. Zum Wesentlichen vorstoßen. Ideen provozieren.
Es gehört zur Annäherung an die Wahrheit, seine Kommunikation unablässig zu verbessern. Wortschatz, Satzbau, Grammatik, Vergleiche, Beispiele. Und: viel lesen, Informationen sammeln, Tagebuch führen, Briefe schreiben. Freundschaften pflegen, den Kontakt auch in schwierigen Zeiten nicht abbrechen lassen. So entstehen Situationen voller Sympathie und Zuneigung, in denen die Freude gegenseitigen Verstehens aufscheint.
Wir alle sind weder nur „gut‘“ noch nur „böse“. Wir sind „durchwachsen“. Wir flüchten uns zu Notlügen. Wir lügen oder schweigen, um nicht zu verletzen oder zu überfordern. Wir wählen den falschen Augenblick zum Aussprechen der Wahrheit oder bereiten die Situation nicht ausreichend vor. Helfen wir einander, das Gute in uns zu entdecken, hervorzuheben, zu stärken, zu entwickeln, zu steigern – einander in Wahrheit und Liebe zu begegnen.