Kapitel 2
Das Förderband in eine selbstbestimmte
Zukunft: Fragen stellen
Neugier ist die Mutter des Fortschritts. Probieren und Üben sind die Vorstufen des Könnens. Mut zum Risiko eröffnet die Chance, Erfahrungen zu sammeln. Wer sein Leben selbstverantwortlich gestalten will, muss die Wirklichkeit von Tag zu Tag besser erfassen.
Die Freiheit des Denkens
Zu unserer persönlichen Entwicklung müssen wir die Fähigkeit nutzen, Fragen zu stellen. Mit Fragen öffnet man Zukunft. Fragen heißt, gezielt etwas wissen wollen. Wir haben die Freiheit des Denkens, sind nicht instinktgesteuert, sondern sind erkenntnisfähig. Wer keine Fragen stellt, bleibt unwissend und verzichtet auf Entwicklung.
Nach dem Abitur fragten mich viele, was ich denn werden wollte. Ich wusste es nicht. Eine ausgeprägte Begabung konnte ich bei mir nicht feststellen. Was Lehrer machten, wusste ich; was ein Arzt auch. Beides wollte ich nicht werden. Also was? Damals konnte man ohne Einschränkungen studieren, wenn man irgendwie das Abitur geschafft hatte.
Zweierlei wusste ich: Du musst jetzt von zuhause weg und du musst dich im Hochschulbereich nach einem Ausbildungsgang umsehen, der dir im späteren Beruf möglichst viele Betätigungsmöglichkeiten offen hält. Dass ich so etwas finden würde, war für mich keine Frage. Denn ich wusste, dass ich mich durchfragen konnte, sobald mich etwas interessierte.
Der Wirklichkeit nahe kommen
Fragen dienen dem Erfassen einer Situation und zur Einschätzung von Zukunft. Antworten bilden die Grundlage für das aktuelle Gestalten des Lebensumfelds und die Einstellung auf künftige Ereignisse. Da sowohl Fragen als auch Antworten von falschen Annahmen ausgehen können, sind sie nur dann zielführend, wenn sie der Wirklichkeit möglichst nahe kommen.
Ich fand heraus, dass es in München ein Deutsches Institut für Film und Fernsehen gab, das Studiengänge anbot. Aber da musste man eine Aufnahmeprüfung machen. Von mehreren hundert Bewerbern wurden nur zwanzig aufgenommen. Ich verschickte Briefe mit Fragen an die Leitung des Instituts und fuhr dann nach München, sprach Studenten der Vorsemester beim Verlassen ihrer Vorlesung an und fragte sie aus. Aufgrund der erhaltenen Informationen konnte ich mich intensiv auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten und bestand.
Leben ist die unaufhörliche Herausforderung, Fragen zu stellen. Dazu muss man sich seine Neugier bewahren. Wir haben Wünsche, Aufgaben sind zu bewältigen. Wir wollen Ziele erreichen, müssen Widerstände überwinden. Viele wollen es „zu etwas bringen”. Manche, die sich nicht genügend beachtet fühlen, wollen „es allen zeigen”. Um unser Wollen umzusetzen, müssen wir Entscheidungen treffen und handeln.
Neugierig sein!
Oft ist Fragen nichts anderes als das Suchen nach Antworten, die von anderen schon gegeben worden sind. Lernen heißt, sich die Antworten anderer zunutze machen. Da wir als Kinder und Jugendliche nicht überschauen können, was wir mit Nutzen für unser Leben lernen sollten, entscheiden das Eltern, Lehrer, Politiker und Beamte – und so werden wir einem Lernstress ausgesetzt, der uns dazu bringt, alle Neugier aufzugeben. Und was noch schlimmer ist: Wir lernen nicht, zum Lernen Eigeninitiative zu entwickeln!
Es gibt junge Menschen, denen schulisches Lernen leicht fällt. Diese Mitschüler habe ich immer beneidet. Bis ich später festgestellt habe, dass sie zwar wegen ihrer guten Noten bei der Vergabe von Startpositionen im Beruf bevorzugt werden, aber schnell ins Hintertreffen geraten, wenn sie ihren Wissensvorsprung nicht in Handlungen umsetzen können.
Bei allem Lernen und Studieren darf nicht nur die Neugier, auch der Wirklichkeitssinn darf nicht abhanden kommen. Was kann ich mit dem Erlernten anfangen? Wo kann ich es ausprobieren? In welchen Situationen kann ich davon Gebrauch machen? Ich war einer der ersten Studiosus-Reisenden. Ich wollte nach Griechenland, nach Athen und auf die Akropolis. Hatte ich mich doch in der Schule jahrelang mit Griechisch quälen lassen müssen.
Aus der Helikopter-Perspektive agieren
Man braucht die Dimensionen und die Zusammenhänge dessen, was man sich als Wissen aneignet. Sonst wird Wissen schnell zu einem Sammelsurium, das einem vielleicht als Kandidat in Quizsendungen etwas bringt, aber nicht in der Lebensgestaltung.
Über das Heilige Land hatte ich viel gelesen und gehört. Schon als Kind. Aber erfasst habe ich die geschichtlichen Ereignisse annäherungsweise erst aufgrund von Reisen nach Israel und Jordanien. Vorort sein, sich der Situation stellen, sich gründlich darauf vorbereiten, nachher das Gesehene und Gehörte aufarbeiten – so gewinnt man Einsichten und Erfahrungen, die Bewusstsein prägen, aus dem heraus sich Leben gestaltet.
Dabei können Situationen so stark sein, dass man von ihnen aufgesogen wird. Das habe ich erlebt in Brasilien, als ich mich mit Projekten der Entwicklungshilfe befasst habe. Erst Monate später war ich fähig, meine Eindrücke zu verarbeiten, wieder an meinem Platz in Europa voll und ganz präsent zu sein. Wirklichkeitssinn braucht die Distanz der Helikopter-Perspektive. Sonst sieht man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.
Die Welt erforschen
Wissenschaft und Forschung sind geprägt durch systematisierte Prozesse des Fragens und Antwortens. Die kritische Distanz wird gewahrt. Das schafft die Voraussetzung für die Erfassung von Wirklichkeit und eröffnet Gestaltungsmöglichkeiten. Man eignet sich Wissen und gesicherte Erfahrungen der Vorgänger an, unterzieht sie kritischer Würdigung und eröffnet durch Fragen neue Perspektiven.
Forschen heißt: Fragen stellen. Man formuliert vorläufige Antworten: Hypothesen. Man hat Ideen, wie die Antwort aussehen könnte. Die Annahmen werden unter verschiedenen Voraussetzungen geprüft. Die endgültige Antwort muss nicht immer die gesuchte Antwort sein – kann aber trotzdem von Wert sein. Gesucht wurde ein neuer Seeweg nach Indien, entdeckt wurde Amerika.
Manche Menschen verlieren während ihrer Kindheit und Jugend die Fähigkeit, Fragen zu stellen. Daran schuld sind Erwachsene, die als Bezugspersonen unfähig oder unwillig sind zu erziehen. Dann muss man das Fragenstellen wieder lernen, so mühsam und unbequem das auch sein mag. Denn Leben heißt: die Welt entdecken, sich in ihr zurecht finden, sich verwirklichen – und nicht als Erziehungsruine vergammeln.
Richtiges Fragen lernt man als Kind bei klugen Eltern
Eltern kennen die Phase in der Entwicklung ihrer Kinder, in der ihnen pausenlos Fragen gestellt werden. Das ist eine sehr wichtige Phase für die Heranwachsenden, in der durch falsches Verhalten der Eltern viel Schaden angerichtet, andererseits durch kluges Eingehen auf den Wissensdurst der kleinen Fragesteller beste Voraussetzungen für ihre weitere Entwicklung geschaffen werden können.
Wenn der kindliche Wissensdurst angemessen gestillt wird, gewinnt der junge Mensch mehr und mehr Einsichten, die ihn zu neuen Entdeckungen aufgrund neuer Fragestellungen anregen. Kinderfragen müssen ernst genommen und dürfen nicht als dumm abqualifiziert werden. Die Antworten müssen ehrlich sein, möglichst der Wahrheit entsprechen, und sie dürfen andererseits nicht überfordern.
Falsche Reaktionen der Eltern in der Dauerfragephase ihrer Kinder können Folgen wie diese haben:
- schnelle Resignation,
- geringes Selbstvertrauen,
- Passivität,
- Ängste gegenüber einer geheimnisvollen Umwelt,
- Phantasien ohne Wirklichkeitsbezug,
- Aufsässigkeit,
- Kommunikationsstörungen.
Die Grundlagen für sein Handeln ständig verbessern!
Bevor man als junger Erwachsener voller Energie und Ehrgeiz in die große weite Welt stürmt, ist es nützlich, einen Moment inne zu halten: Worin bin ich gut? Wo muss ich mich verbessern?
- Kann ich mein Lernen selber organisieren?
- Kann ich Unwissen zugeben?
- Neige ich dazu, andere Leute für klüger zu halten?
- Habe ich Angst, mich zu blamieren?
- Rede ich oft unüberlegt drauf los?
- Werde ich aggressiv, wenn man mich nicht ernst nimmt?
- Rede ich nur, wenn man mich fragt?
Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, in ihrem Beruf auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Die relevanten Zeitschriften werden gelesen, man ist Mitglied berufsbezogener Vereinigungen, fährt zu Kongressen, zu Weiterbildungskursen, pflegt den Erfahrungsaustausch mit Kollegen. Aber unser Leben ist mehr als unser Beruf, mehr als unser berufliches Fachwissen. Vieles hat mit unseren Eigenschaften zu tun. Und auch die lassen sich ändern und verbessern. Wir sind Bürger, Wähler, Partner, Mütter, Väter, Gemeindemitglieder, Nachbarn.
Um in unserem Beziehungsgeflecht nicht mit „geliehenem Selbstbewusstsein” aufzutreten, indem wir uns aus dem Fahrwasser der Mehrheit nicht herauswagen, brauchen wir Selbstsicherheit, die aus eigenem Wissen und Lebenserfahrung wächst. Wissen und Lebenserfahrung wachsen uns zu durch Beobachten und Kommunizieren, durch Lesen und Erleben, durch Nachdenken und Meinungsbildung.
Die beiden großen Fragenbereiche
Es gibt zwei Bereiche, in denen man seinen Wissensstand und seine Handlungsfähigkeit ständig überprüfen, verbessern und erweitern sollte:
- Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie
- Alles, was mit den zwischenmenschlichen Beziehungen zusammenhängt.
Letzteres hat viel mit unseren Gefühlen zu tun, mit denen umzugehen uns althergebrachte Weisheiten, Beispiele aus Geschichte und Literatur, Forschungen der Sozialwissenschaften und Ereignisse in unserem Lebensumfeld helfen.
Ersteres erleben wir in seinen Auswirkungen: Man erfährt sich als Opfer, wenn man keine Ahnung hat, warum die Entwicklung so läuft, wie sie läuft. Dann ist man kein mündiger, sondern ein unmündiger Bürger.
Beobachten, wahrnehmen, nachfragen und nachdenken – das ist die erste und unmittelbare Informations- und Erfahrungsebene. Die zweite Ebene ist die virtuelle Welt mit ihren Informationsangeboten. Um in der Informationsflut nicht unterzugehen, müssen wir unterscheiden können: Was ist für mich wichtig, was nicht. Seine Aufmerksamkeit steuern!
Denn sonst fällt man auf alles herein, was den Anschein erweckt, interessant zu sein. Gegenüber unserer Umwelt brauchen wir kritische Distanz und genaue Vorstellungen von dem, was uns fördert, bereichert und selbständig sein lässt.
Die Kriterien für den Wissensfundus
Es gibt Kriterien, die einem sagen, wann unser Wissensfundus ausreichend groß und aktuell ist:
- Wir erkennen bei Informationen, ob sie vollständig sind oder ob Wichtiges weggelassen worden ist. Denn wir kennen die Fakten und die Zusammenhänge.
- Wir erkennen in Darstellungen, insbesondere bei Argumentationen, ob sie in sich schlüssig oder widersprüchlich sind.
- Wir erkennen bei Lösungsvorschlägen die Alternativen und können abwägen, welche Argumente für und welche gegen die einzelnen Möglichkeiten sprechen.
Wer diesen Kriterien gerecht wird, kann nicht nur bei den entsprechenden Themen mitreden, sondern hat die Voraussetzungen, seinen Wissensstand zur Entwicklung eigener Szenarien zu nutzen, abgewogene Entscheidungen zu treffen und in die Tat umzusetzen. So öffnen sich die Gestaltungsspielräume für ein selbstbestimmtes Leben.
Die drei Trainingsbereiche
Jede Fähigkeit, die nicht trainiert wird, schwindet. Für die Fähigkeit, zielgerichtete Fragen zu stellen, gibt es drei hervorragende Trainings:
- Fragenkataloge erstellen,
- Interviews machen und
- den Zeitplaner nutzen.
Fragenkataloge:
Jeder hat Vorhaben, die er gerne durchführen möchte. Davon immer eines, beispielsweise eine Reise, in Planung nehmen! Dazu erstellt man detaillierte Fragenkataloge. Zu allem und jedem, was an Wissen für die Reise erfragt werden kann. Die Fragen strukturieren, die Antworten mit neuen Fragen abklopfen, mit einer Mindmap die Zusammenhänge herstellen, Prioritäten festlegen – und immer wieder: Fragen und Antworten. So arbeitet man sich in jedes Projekt ein.
Interviews:
Allein durch Beobachtung lernt man andere Menschen nicht kennen. Man muss mit ihnen ins Gespräch kommen und darf sich nicht scheuen, Fragen zu stellen. Macht man das taktvoll und unaufdringlich, nehmen das die meisten Menschen wahr als Interesse an ihrer Person, ihrer Arbeit, ihren Lebensumständen.
Wenn man seinerseits das eine oder andere von sich preisgibt, artet ein solches Gespräch nicht aus in eine einseitige Ausfragerei. Hat man den Eindruck, dass der Gesprächspartner sich auf Gebieten auskennt, die einen interessieren, bittet man, ihn bei Gelegenheit interviewen zu dürfen. Dazu ein Dutzend oder mehr Fragen zusammenstellen.
Außerdem: Unter den Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sich immer wieder eine Person aussuchen und ein fiktives Interview vorbereiten, das man gerne mit ihr führen würde.
Zeitplaner:
Ein sogenannter Organizer, also ein Kalendarium für die Monate, die Wochen und die einzelnen Tage des Jahres, dient dazu, den Überblick über seine Aktivitäten zu behalten. Man kann ihn auch wie eine tägliche Gymnastikübung für seine Fragefähigkeit nutzen: Jeden Abend aufschreiben, was man auf seine Fragen im Laufe des Tages an wichtigen Informationen erhalten hat, und ebenso aufschreiben, was man am nächsten Tag die Personen, mit denen man einen Termin hat, fragen möchte.
Festhalten, auf welche Fragen man keine oder nur eine unbefriedigende Antwort erhalten hat, und welche Fragen man hätte nachschieben sollen, aber die einem in der Situation nicht eingefallen sind. Wichtig: Gesprächssituationen sind unterschiedlich und verlangen entsprechend unterschiedliche Fragen. Beim Small Talk lassen sich keine Geschäftsfragen erörtern.
Spiel- und Standbein
Persönliche Verbesserungsprozesse sind nichts anderes, als aus einer durch Erfahrung gesicherten Antwort-Position heraus handeln, aber gleichzeitig durch ständiges Fragen diesem Handeln die Vorwärtsbewegung zu geben. Fragen und Antworten sind wie Spiel- und Standbein: Die als gesichert geltenden Antworten geben festen Stand, die Fragen geben uns die Chance des nächsten Schritts.