Kapitel 9
Dialog mit sich selbst: Das Tagebuch
Vom behüteten Kind zum Entdecker und Forscher
Wir alle sind auf einer Forschungsreise. Zumindest haben wir alle so angefangen. Als Babys wollten wir alles um uns herum schmecken, fühlen, sehen, riechen und hören. Und wir wollten erfahren, was passiert, wenn … Um uns vor Schaden zu bewahren, versuchten unsere Eltern, Betreuer, Erzieher und Lehrer, uns zu schützen und zu leiten.
Während unserer Kindheit und Jugend brauchen wir den Schutz und die Führung der Erwachsenen um uns herum. Diese Erwachsenen sind jedoch keine perfekten Menschen. Sie wissen nicht alles. Sie irren sich und machen Fehler. Früher oder später finden wir das heraus – und müssen mit dieser Enttäuschung umgehen.
Zu meinen größten Freuden gehört es, wenn mir ein Licht aufgeht. Es ist wie der Wechsel vom dämmrigen Zwielicht zum hellen Sonnenschein. Zu erkennen, wie Dinge zusammenhängen, Gründe für Dinge zu identifizieren, Ideen zu haben – das sind wunderbare Momente. Manche Menschen machen die Freuden des Entdeckens zum Beruf, der ihr Leben erfüllt: Forscher.
Um sich selbst zu verbessern, muss man einerseits akzeptieren, unvollkommen zu sein, und andererseits davon überzeugt sein, die Freiheit zu haben, zu handeln. Seine Freiheit zu nutzen, um sich als Person zu entwickeln, führt zu den Freuden des Erkennens und Erlebens. Ein bewährtes Mittel, das eigene Leben wie eine Forschungsreise zu betrachten und zu gestalten, ist das Tagebuch.
Die Freuden des Erkennens und Erlebens
Die Freuden des Erkennens werden einem auf Dauer nur zuteil, wenn man sich um sie bemüht; sie fallen einem nicht in den Schoß. Und nur wenigen wird das Glück zuteil, einen Lehrer zu finden, der Vorbild und Führer auf der Entdeckungsreise für uns ist. Wir stellen fest: Letztlich reist jeder für sich allein.
Das ist gemeint, wenn es heißt: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Dennoch reisen wir nicht als Einzelne, sondern einzelverantwortlich in Gruppen. Nur so können wir unsere Lebensreise absolvieren. Mit Weggefährten in gegenseitiger Hilfe. Unsere Entdeckungsfreuden mit anderen zu teilen, macht froh und glücklich.
Das Schlüsselwort für die Lebensreise heißt: kommunizieren. Nicht nur mit den Weggefährten, sondern auch mit sich selbst. Wer nicht mit sich selbst kommuniziert, läuft Gefahr, mit seinen Mitmenschen nur oberflächlich zu verkehren. Denn die äußeren Eindrücke werden nicht in Selbstkommunikation verarbeitet, es kommt kein Tiefgang zustande. Das ist dann wie bei einem ruderlosen Boot, das ohne Kurs in den Wellen hin und her treibt.
Das Mittel zum Einstieg in die Selbstkommunikation ist das Tagebuch. Vorstufe ist der rechte Umgang mit der Zeit. Bei der Organisation Ihrer Aktivitäten im Zeitablauf helfen Ihnen Ihr Organizer und Ihr Ereignistagebuch. Unsere Lebenszeit – von der wir nicht wissen, wie lange sie währt – ist die Vorgabe für unser Leben, das wir zu erfüllen haben.
Der Tag
Die Ablaufeinheit unseres Lebens ist der Tag. Was habe ich heute alles erlebt? Setzen Sie sich am Abend hin und stellen Sie sich diese Frage. Schreiben Sie auf, was Ihnen einfällt. In Stichworten und Sätzen. Sie meinen, Sie hätten das doch alles im Kopf und müssten es deshalb nicht aufschreiben. Haben Sie wirklich am Abend noch alles im Kopf, ohne nachdenken zu müssen? Wunderbar!
Dann sollten Sie die Tagesereignisse gerade deswegen aufschreiben – bevor sie Ihnen entschwinden. Indem Sie aufschreiben, stellen Sie die Erlebnisse Ihres Tages gleichsam vor sich zur Betrachtung auf den Tisch. Breiten Sie vor sich aus, was sich alles ereignet hat! Sehen Sie bei dem einen oder anderen genauer hin und schreiben Sie auf, was Sie dabei entdecken! Befragen Sie sich:
- Womit habe ich mich heute beschäftigt?
- Wem bin ich begegnet?
- Was hat mir heute Freude bereitet?
Fangen Sie mit dieser Art von Tagebuch einfach an! Tun Sie es! Am Wochenende sehen Sie sich an, was Sie geschrieben haben. Dabei werden Sie merken, dass Sie bei weitem nicht alles aufgeschrieben haben, was in der Woche drin war. Aber was war denn noch? Klar, Sie haben sich auch geärgert; es ist Ihnen nicht alles gelungen; Ziele wurden unvollkommen oder gar nicht erreicht. Schreiben Sie’s auf! Nachträglich.
Wenn Sie mit dem Schreiben eines Tagebuchs anfangen, kommt es auf Systematik nicht an. Leere Blätter, Stift, Datum eintragen und los geht’s. Wichtig ist: Es tun! Und zwar jeden Tag, wirklich jeden Tag ohne Ausnahme. Lieber weniger Schlaf, als das Tagebuchschreiben auslassen. Sie werden danach besser schlafen! Denn Sie haben den Tag abgeschlossen.
Systematik kommt von ganz allein in die Sache, je mehr Sie in den Kommunikationsprozess mit sich selbst hineinkommen. Schon bald werden Sie merken, dass Sie eine gewisse Distanz zu sich gewinnen, dass Sie Ihr Leben wie in einem Spiegel sehen können.
Und: Sie können auf einmal Pausen in Ihren Gedankenkreisläufen machen. Vorkommnisse, die Sie früher tagelang nicht losließen, können Sie jetzt ruhen lassen. Denn Sie haben ja dazu geschrieben; Sie haben Ihre Gedanken festgehalten; Sie müssen sie nicht unentwegt wieder hochholen. Das ist nur eine der vielen heilsamen Erfahrungen, die Sie machen werden.
Keine falsche Scheu und keine falsche Scham
Als ich nach der Schule, in meinem Lernverhalten ruiniert, an der Hochschule Tritt fassen musste, um nicht gleich ins Abseits zu geraten, hatte ich mit der Empfehlung „Tagebuch schreiben“ große Probleme. Mir gefiel beispielsweise meine Schrift nicht.
Geschrieben hatte ich während der Schulzeit nur, was man zu schreiben von mir verlangt hatte. Gefallen an meiner Schrift hatte ich nicht entwickelt. Ich schrieb krakelig. Es machte mir Mühe, einigermaßen gleich große Buchstaben zu schreiben, Buchstaben so zu schreiben, dass sie zu lesen waren.
Dann bin ich über meinen Schatten gesprungen: Du schreibst für dich selbst und niemanden sonst; du brauchst dich also vor keinem zu schämen. Mich vor mir selbst schämen, mochte ich nicht; soviel Selbstbewusstsein hatte ich. Ungelenk schrieb ich drauf los. Nach einiger Zeit habe ich die erste Selbstdisziplinierung vorgenommen: liniertes Papier.
Heute könnte man ein Notebook benutzen. Ich empfehle es nicht. Kommunikation mit sich selbst sollte man so ursprünglich pflegen wie nur irgend möglich. Meine Handschrift, ob schön oder hässlich, ist eine ganz persönliche Kulturfertigkeit, die mir die Möglichkeit gibt, Gedanken zu fassen. Lesen und Schreiben – das sind die Schlüsselqualifikationen, mit denen wir uns die Welt erschließen können. Also sollten wir sie täglich üben und nutzen.
Ein zweites Problem: In mein Leben sollte kein anderer Einblick nehmen, schon gar nicht in meine Gedankenwelt. Das aber würde passieren, wenn mein Tagebuch einem anderen in die Hände fiele. Ein fürchterlicher Gedanke.
Ich bin dieser Furcht auf den Grund gegangen: Wenn ich das Tagebuch nicht offen liegen ließe, sondern in der Schublade oder im Schrank bei meinen persönlichen Sachen hielte, kämen nur wenige Menschen infrage, die es hätten finden können. Was für Folgen hätte es, wenn diese Personen meine Aufzeichnungen lesen würden?
Zunächst müssten sie sich schämen, wenn sie in meine Privatsphäre eindringen würden. Von dem, was sie lesen würden, könnten sie nur indirekt Gebrauch machen, wenn sie sich nicht offenbaren wollten. In manchen Passagen würden sie etwas über sich selbst lesen.
Ich beschloss: Das Tagebuch kommt in die Schreibtischschublade; und wenn ich längere Zeit weg bin, nehme ich es entweder mit oder schließe ich ab. Ich habe ein Recht auf Privatsphäre. Wenn ich die Schublade abschließe, kann keiner in den Verdacht kommen, diese verletzt zu haben.
Lassen Sie sich in Ihrer Selbstverbesserung von niemandem, egal wie nahe er Ihnen steht, behindern oder beeinträchtigen! Nur Menschen, die Ihnen überlegen sein wollen, die Sie beherrschen wollen, werden danach trachten, Ihnen keine Privatsphäre zu lassen und Ihre Selbstverbesserung zu unterbinden. Weisen Sie diese Menschen zurecht oder trennen Sie sich von ihnen. Alle, die Ihnen wohl wollen, werden Ihre Entwicklung schätzen. Alle anderen können Ihnen egal sein – so wie Sie vermutlich denen egal sind.
Die zweite Stufe: präzisieren
Wenn Sie sich Ihre Aufzeichnungen nach den ersten Monaten des spontanen Aufschreibens zur Hand nehmen und durchlesen, werden Sie voraussichtlich zwei Ebenen unterscheiden können: Die Ebene der Fakten, die Sie festgehalten haben, und die Ebene der Gedanken und Gefühle.
Je nachdem welche Worte Sie benutzt haben, können diese Ebenen mehr oder weniger ineinander verwoben sein. Die Formulierung, bei einer Besprechung hätten immer wieder dieselben Langweiler das Wort an sich gerissen, hält nicht nur die Tatsache fest, dass eine Besprechung stattgefunden hat, sondern bringt auch zum Ausdruck, dass Sie die Hauptakteure nicht sonderlich schätzen.
Machen Sie sich beim Nachlesen Ihrer Eintragungen bewusst, was Faktum und was Ihre Bewertung des Faktums ist, was Ihre Gefühle in Verbindung mit dem Faktum ausdrückt. Versuchen Sie, bei künftigen Eintragungen die Fakten ohne jede Beurteilung wiederzugeben und dann erst Ihre Einstellungen dazu zu notieren.
Zu der vorhin als Beispiel genannten Besprechung sollte erstens vermerkt werden, zu welchem Thema, mit welchen Teilnehmern, wie lange und wo sie stattgefunden hat; zweitens sollte aufgeschrieben werden, wie die Besprechung erlebt wurde, sowohl im Ergebnis wie im Verlauf, welche Einsichten gewonnen wurden; schließlich drittens wäre festzuhalten, welche Gefühle vorherrschend waren und wodurch sie ausgelöst wurden. Was hat befriedigt? Was war schwer zu ertragen?
Die Präzisierung der Aufzeichnungen erfolgt in einem Dreier-Schritt:
- Nennen der Fakten,
- Festhalten der gewonnenen Einsichten und
- Beschreibung der begleitenden Gefühle.
Alle wichtigen Ereignisse sollten in dieser Form dargestellt werden. Mindestens ein Ereignis pro Woche. Das bringt einen in der Selbstverbesserung einen gewaltigen Schritt nach vorne. Die anderen Eintragungen können wie bisher spontan gemacht werden.
Mit der Zeit wird sich ganz von allein Ihr Wahrnehmungsraster für den Tag immer mehr verfeinern. Ihr persönliches Radarsystem wird immer mehr erfassen. Sie werden sich an immer mehr Details Ihrer Begegnungen, Ihrer Lektüre, Ihrer Telefonate, Ihrer Handlungen und besonderer Vorkommnisse erinnern.
Die dritte Stufe: Das Erkenntnistagebuch
Irgendwann kommen Sie an den Punkt, wo das Tagebuchschreiben Ihnen zwar zum täglichen Bedürfnis geworden ist, aber auch viel Zeit – mehr als eine Stunde – in Anspruch nimmt. Das ist der Zeitpunkt für eine Zellteilung: Die Schritte zwei und drei der Dreier-Systematik zu einem Erkenntnistagebuch verselbständigen.
Dazu legen Sie sich ein Ringbuch oder ein gebundenes Buch mit linierten Seiten zu. Schreiben Sie für jeden Tag erstens die Einsichten und Erfahrungen hinein, die Sie gewonnen haben und künftig beherzigen und anwenden wollen.
Schreiben Sie zweitens über die Gefühle und Stimmungen, die Sie während des Tages beherrscht haben. Beantworten Sie sich die Frage, welche Vorkommnisse und Ereignisse ursächlich für Ihre Gefühle waren:
- Warum hat Sie Freude erfüllt?
- Warum waren Sie schweigsam?
- Warum konnten Sie sich nicht konzentrieren?
- Warum hat Ihnen die Arbeit Spaß gemacht?
Haben Sie keine Scheu, Ihre geheimen Wünsche und Träume, Ihre Befürchtungen und Ängste, Ihre Sehnsüchte und Enttäuschungen, Ihre Ziele und Absichten, Ihre Hoffnungen und Gebete aufzuschreiben. Lassen Sie nichts im Verborgenen! Schreiben Sie alles mit den Worten auf, die Ihnen in den Sinn kommen. „Es wäre toll, wenn …“, „Ich werde bis …“, „Im schlimmsten Fall …“.
Eine verbindliche Systematik für solch ein Erkenntnistagebuch gibt es nicht, kann es nicht geben, weil es um Ihren ganz persönlichen Kommunikationsprozess geht. Daher nur ein paar Anregungen, die helfen können, das eigene Verfahren und den eigenen Stil zu finden:
- Jeder Tag des Tagebuchs beginnt mit einem neuen Blatt.
- Geschrieben wird, wie einem die Ereignisse in den Sinn kommen.
- Wichtige Gedanken werden schon während des Tages auf einen Zettel geschrieben.
Und:
- Machen Sie Übungen zur Verbesserung Ihrer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten. https://www.sinnpholl.de/leseangebote‑1/sprachuebungen-und-sprachspiele/
- Werten Sie Bücher und Zeitschriften mit der Methode des aktiven Lesens aus. https://www.sinnpholl.de/leseangebote‑1/aktives-lesen/
- Formulieren Sie an jedem Wochenende eine Tagebuch-Eintragung der abgelaufenen Woche neu, besser.
Warum Bloggen das Führen eines
Tagebuchs nicht ersetzt
Wer im Internet sich mitteilt, andere an seinem Erleben teilhaben lässt und aus seinen Ansichten, Gefühlen und Vorstellungen keinen Hehl macht, führt so etwas wie ein öffentliches Tagebuch. Er präsentiert sich einem imaginären Publikum, er schreibt für seine Freunde, für Bekannte und Unbekannte.
Er führt keinen Dialog mit sich selbst, sondern er führt sich vor! Worauf es indes ankommt: Erst einmal mit sich selbst kommunizieren. Denn zu sich selbst findet man nicht durch Stegreifreden und schnodderiges Daherreden, sondern nur durch die Intensität des Tagebuchschreibens.
Die Gefahr der Überheblichkeit
Das Erkenntnistagebuch ist der direkte Weg in die Selbstverbesserung. Man lernt sich kennen; man kann immer besser in sich hineinsehen; man wird ruhig, ausgeglichen und selbstsicher. Man lernt sogar – obwohl unvollkommen –, sich zu lieben.
Wer nicht nur seine intellektuellen Fähigkeiten, sondern sich in seinem Charakter, sich als Person verbessern will, muss sich lieben. Seine Unvollkommenheit liebevoll akzeptieren, ist die Voraussetzung zur Selbstverbesserung.
Da wir mit anderen Menschen zusammenleben, spielt deren Unvollkommenheit in unser Leben hinein. Oft recht heftig, so dass wir uns entscheiden müssen, ob wir sie lieben oder hassen wollen. Hass führt zu Mord und Todschlag. Nur Liebe macht Unvollkommenheit erträglich. Würden Mütter ihre Kinder nicht lieben, gäbe es schon längst keine Menschen mehr.
Wenn Menschen in ihrem Zusammenleben sich untereinander genauso gut leiden können wie jeder sich selbst, wenn alle sowohl für sich selbst wie auch als Gruppe ganz selbstverständlich selbstverbessernd leben, dann kann das zu viel Glück und Freude führen. Kann – muss nicht; denn immer besteht die Gefahr der Anmaßung, der Überheblichkeit und der Selbstüberschätzung, für den Einzelnen genauso wie für die Gruppe.
Der Gefahr der Selbstgefälligkeit und des Größenwahns entgeht, wer sich seiner Unvollkommenheit trotz aller Selbstverbesserung bewusst bleibt. Der Tagebuch-Dialog hilft, eine wirklichkeitsnahe Lebenseinstellung zu entwickeln. Einerseits erkennt man immer wieder und immer genauer seine Unvollkommenheit, andererseits wächst die Sehnsucht nach Vollkommenheit.
Alles wissen, alles können, absolut frei sein, total gerecht, gänzlich friedlich, ewig treu, grenzenlos wahrhaft – wir können uns das alles vorstellen und wünschen. Doch das Menschen mögliche Maß an innerer Freiheit und innerem Frieden gewinnt nur, wer mit der Bescheidenheit dessen lebt, der aufgrund seiner täglichen Erfahrung mit sich selbst weiß, dass er sich dem Absoluten – das heißt: Gott – nur andeutungsweise nähern kann.