Kapitel 1
Die Balancierstange des Lebens: Selbstbewusstsein
Denken, reden und handeln sind die Lebensäußerungen, in denen sich unser Selbstbewusstsein darstellt. Wer sein Leben selbst bestimmen will, muss sich der Verantwortung für seine Gedanken, Worte und Taten klar sein — und daraus seinen Selbstwert entwickeln.
Arbeitsuchende bitten in ihren Bewerbungsschreiben in aller Regel um ein Vorstellungsgespräch. Sie tun das in der Überzeugung, dass die beigefügten Zeugnisse und die Daten des Lebenslaufs ihre Person nur unvollkommen erkennen lassen. Diese Meinung teilen Unternehmer und ihre mit Einstellungen befassten Mitarbeiter. Bei der Endauswahl zur Besetzung einer Stelle wollen sie sich von den Kandidaten mittels eines Gesprächs einen persönlichen Eindruck verschaffen.
Wie soll ich mich geben? Wie soll ich auftreten, um zu zeigen, dass ich die richtige Person für die ausgeschriebene Stelle bin? Diese Fragen beschäftigen den Kandidaten bei der Vorbereitung auf das Gespräch. Der Arbeitgeber ist nach dem Check der fachlichen Eignung anhand der Unterlagen daran interessiert, etwas von den Eigenschaften und Einstellungen des Bewerbers zu erfahren. Was für ein Selbstbewusstsein hat der Kandidat? Passt er in unsere Mannschaft? Stimmt die „Chemie“?
Beide, Bewerber und Arbeitgeber, wissen, dass erst die Probezeit einige Gewissheit schaffen wird, ob man zueinander passt oder nicht.
Hineingeboren in die Welt der Eltern
Aller Psychologie zum Trotz: Man kann in einen Menschen nicht hineinsehen; kein Mensch lässt sich ausleuchten; niemand kennt sich selbst bis ins Letzte. Erst im Laufe des Lebens stellt sich heraus, mit welchem Denken, Reden und Handeln ich meinen Weg gehe, ich mich in der Welt zurecht finde, Herausforderungen bestehe, Enttäuschungen verkrafte, Konflikte löse, Irrtümer korrigiere, meiner Existenz einen Sinn gebe.
Um Stabilität und Kontinuität im Leben zu gewinnen, die Halt auf dem Drahtseil der Lebensgestaltung geben, brauche ich Selbstbewusstsein. Denn nur dann habe ich zu mir das Vertrauen, meinen Lebensweg aus eigener Kraft zu gehen. Als Kind habe ich Lebenswillen, aber noch kein Selbstbewusstsein. Das gewinne ich erst nach und nach durch die Erfahrungen mit meiner Umwelt, vor allem durch die Erfahrungen mit meiner Mutter, meinem Vater und den anderen Personen, in deren Umfeld ich hineingeboren werde.
Bestimmend für mich als Baby und Kleinkind, als Betreuungs- und Kitamensch wird die Zuneigung und Lebensbestätigung, das Vorbild und die Anleitung, die man mir zuteil werden lässt. So erlange ich Selbstsicherheit. Eine vom Umfeld abhängige Sicherheit, keine Lebenssicherheit aufgrund eigener Überlegungen und Entscheidungen. Eine von Gefühlen abhängige Sicherheit.
Als Kind fehlt es mir an ausgereifter Wahrnehmungsfähigkeit, an intellektuellen Fähigkeiten und Verhaltensorientierung. Lernend wachse ich erst einmal in das hinein, was mir die Erwachsenen als ihre Welt vorleben: ihre Vorstellungen von Lebensgestaltung und ihre Verhaltensweisen, ihr Milieu.
Jeder ist Kind seiner Zeit
Jede Mutter, jeder Vater, jede Betreuerin, jede Erzieherin, jeder Lehrer leben ihre individuellen Lebenseinstellungen aus ihrem individuellen Selbstbewusstsein heraus und sind alle Kinder ihrer Zeit. Und sie begehen Erziehungsfehler. Einer der schlimmsten Erziehungsfehler ist es, wenn die Mutter zur Bekräftigung einer Maßregelung zu ihrem Kind sagt: „Was sollen die Leute von uns denken!“ Damit liefert sie ihr Kind dem Zeitgeist aus, orientiert es auf Fremdbestimmung hin – und verrät ihr eigenes schwaches Selbstbewusstsein.
Jede Zeit hat ihre besonderen „Balancierstangen“. Unsere Zeit drängt den Beruf als zu wählende „Stange“ auf. Ich muss berufstätig sein, um in unserer Gesellschaft anerkannt zu sein. Wer in unserer Gesellschaft, ob Mann oder Frau, einer geregelten Arbeit nachgeht, die ihm auferlegten Steuern und die Beiträge für die Absicherung seiner Lebensrisiken zahlt, wird als vollgültiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt. Entsprechend dem Einkommen, das er aufgrund seiner beruflichen Qualifikation erzielt, kann er am allgemeinen Wohlstand teilhaben.
Der Arbeitsplatz ist zum Dreh- und Angelpunkt unserer Existenz geworden. In all den Jahrhunderten zuvor gab die Zugehörigkeit zu einer Familie, zu einem Clan und zu einem Volk Selbstbewusstsein – heute: der Beruf! Die Problemkinder unserer Gesellschaft sind nicht mehr die schwarzen Schafe einer Familie, sondern die Menschen, die nichts gelernt haben. Man muss einen dem Wohlstand der Gesellschaft dienlichen Beruf haben.
Das Selbstbewusstsein der Freiheit
Frauen, die in traditioneller Arbeitsteilung der Geschlechter an der Seite ihres Mannes für die Familie sorgen und als Mutter die Erziehung ihrer Kinder leisten – und deshalb dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen –, müssen heute ein starkes Selbstbewusstsein haben und getragen sein von ihrer Familie. Denn die Gesellschaft schenkt ihnen keine Anerkennung. Im Gegenteil: Sie werden verächtlich gemacht. Die Qualifikation der Hausfrau und Mutter, die bis vor einigen Jahrzehnten in den Familien von Generation zu Generation weitergegeben wurde, ist abhanden gekommen. Im Streit der Politiker um das Erziehungsgeld ist abschätzig von „Herdprämie“ die Rede.
Aber die Frauen, die ihre Familien-Qualifikation noch mitbekommen oder sich neu erworben haben, zeigen: der Mensch – ob Mann oder Frau – ist fähig, sein ganz persönliches Selbstbewusstsein zu entwickeln! Als Mitglied einer Gruppe und als Individuum. Niemand ist dazu verdammt, sein Leben mit dem Selbstbewusstsein zu leben, das ihm die Gesellschaft aufdrängt.
Noch ein Blick zurück in die Geschichte: In den Jahrhunderten zuvor wurde der Status eines Menschen dadurch bestimmt, in welche Familie er hineingeboren wurde. Bauer, Leibeigener, Adeliger. Außerdem war es opportun, zu den Siegern im Gewoge der Kriege zu gehören. Denn sonst war man Sklave.
Die Revolution des Christentums: Vor Gott sind alle Menschen gleich! Das gab den Menschen das Selbstbewusstsein der Freiheit. Nur Freiheit befähigt, ein eigenes Selbstbewusstsein zu leben.
Unser Verhalten lässt unser Selbstbewusstsein erkennen
Woraus entwickeln wir Selbstbewusstsein? Eine bestandene Prüfung? Ein gewonnener Wettbewerb? Anerkennung für eine besondere Leistung? Es ist das Gefühl: Ich bin wer und ich kann was. Ein Gefühl, das auch Niederlagen verkraftet – ja sogar durch sie gestärkt wird. Denn Niederlagen zwingen dazu, mich zu behaupten. Auch nach Abstürzen. Sich berappeln, aufstehen, wieder anfangen. Wir sind unvollkommen. Wir irren uns und machen Fehler. Unser Wissen ist beschränkt. Es ist Blödsinn, das zu leugnen, klein zu reden oder umzuinterpretieren. Wir müssen das akzeptieren, lernfähig bleiben und die Chancen der Selbstverbesserung nutzen. So gewinnt man Selbstbewusstsein.
Ich muss verinnerlichen: In all meiner Unvollkommenheit und auch als Verlierer bin ich kein Nichts, sondern habe ich einen Wert als Mensch. Deshalb kann ich immer wieder auf die Beine kommen. Dieses Wertgefühl gewinne ich als Kind aus der Liebe meiner Eltern, aus der Zuneigung meiner Bezugspersonen. Lob und Tadel geben mir Orientierung. Als Jugendlicher messe ich zunehmend der Anerkennung und Zuneigung, Missachtung und Feindseligkeit meiner Altersgenossen Bedeutung bei. Ich lerne, mich in eine Gruppe einzufügen.
Aus dem Gefühl der Zugehörigkeit gewinnen wir als Jugendliche Selbstvertrauen. Wir ordnen uns ein, finden unsere Rolle, übernehmen das von uns erwartete Verhalten. Dieselben Idole, die gleichen Klamotten, die gleiche Sprache. Neben den Konflikten mit Eltern und Geschwistern lernen wir in der Gruppe von Gleichalterigen, uns zu behaupten und Auseinandersetzungen nicht zu scheuen – sonst würden wir in den Status eines Mitläufers geraten. Das passiert, wenn wir aus dem elterlichen Milieu keine stabile Werteorientierung mitbekommen haben.
Selbstbewusstsein aufgrund von Werteorientierung: Haben wir einen eigenen Standpunkt oder passen wir uns der jeweiligen Mehrheitsmeinung an? Verlassen wir gegebenenfalls die Gruppe, um unseren Werten treu zu bleiben oder schmeißen wir sie über Bord? Werte: Sind wir ehrlich? Respektieren wir das Eigentum anderer? Reden wir schlecht über andere? Achten wir die eigene Unversehrtheit und die der anderen? Können wir Fehler einsehen und uns entschuldigen? Sind wir nachtragend? Verzeihen wir? Sind wir zu Opfern bereit, um die Gruppe zu erhalten? Selbstbewusstsein spiegelt sich in Verhaltensweisen.
Gruppenzugehörigkeit zwingt zur Entwicklung von kommunikativen Fähigkeiten, von Normvorstellungen im Umgang mit anderen und von wirklichkeitsnaher Wahrnehmung der Situationen und Vorgänge. Jugendliche, die sich als Einzelgänger dem entziehen und sich in eine virtuelle Welt flüchten, versäumen eine wichtige Phase ihrer Entwicklung.
Welchen Sinn gebe ich meinem Leben?
Viele der nachwachsenden Generation laufen voller Elan als junge Erwachsene zu Höchstform auf: Die ganze Welt verändern, den Altvorderen das Heft aus der Hand nehmen und Zukunft nach eigenen Vorstellungen schaffen. Aber es gibt auch das andere Extrem: sich im Hotel Mama einrichten, statt sich etwas zuzutrauen und Eigenständigkeit zu entwickeln, bei jeder Gelegenheit staatliche Fürsorge verlangen. Um in dieser Zeit die Balance nicht zu verlieren, um sich einerseits nicht zu überschätzen und andererseits nicht in Minderwertigkeitskomplexen zu versinken, um selbstkritisch auf dem Teppich zu bleiben, muss man sich hartnäckig befragen:
- Fühle ich mich stark und lebenstüchtig?
- In welchen Situationen fühle ich mich unsicher?
- Welchen Sinn gebe ich meinem Leben?
- Worauf gründet sich mein Selbstvertrauen?
- Wie schätze ich die Zukunft ein?
- Was will ich in meinem Leben erreichen?
- Was ist die Aufgabe meiner Generation?
Um Anhaltspunkte zu diesen Fragen zu finden, ein Vorschlag: Die Personen des bisherigen Lebensumfelds einer näheren Betrachtung unterziehen. Ohne Emotionen! Mit dem Anspruch, ihnen möglichst gerecht zu werden, die positiv erfahrenen Seiten genauso zu sehen wie die negativen. Wofür bin ich dankbar? Was war gut gemeint, aber daneben? Was belastet mich?
Und dann eine Betrachtung unabhängig von mir selbst: Worauf sind mein Vater, meine Mutter, meine Geschwister, Großeltern, Onkel und Tanten stolz? Wie spiegelt sich das in ihrem Selbstbewusstsein wider? Anschließend: Worauf sind meine Freunde, Mitschüler, Sportskameraden stolz? Was trauen die sich zu? Wann sind die schwach und ängstlich? Danach: Was sind ihre Handlungsmotive? Warum tun die was? Wie reden die? Warum reden die so, wie sie reden? Was steckt dahinter? Große Klappe? Oder Substanz? Beispiel: Gibt es einen „Kleinen“, der sein empfundenes Handicap dadurch wett machen will, dass er sich immer und überall in den Vordergrund schiebt?
Wie sehen mich meine Mitmenschen?
Weitere Fragen: Wer hat richtig was drauf, kommt damit aber nicht raus, weil er sich nichts zutraut? Wer will immer bei der Mehrheit sein? Alle diese Fragen und weitere, die einem kommen, durchnehmen. Am besten schriftlich durcharbeiten. Und dann auf sich selber anwenden, sich selbst betrachten und in dieses Personen-Tableau einordnen. Ja, diese Fragerei ist ätzend. Aber die Alternative ist: Einfach drauf los leben, sich ausleben und riskieren, dass man irgendwo auskommt, wo man sich unwohl fühlt, schwer wieder rauskommt, hängen bleibt, sich vom Pech verfolgt fühlt, die Ursachen nicht bei sich selbst sucht, geschweige denn mit Veränderungen bei sich selbst anfängt – gute Vorsätze, das war’s.
Eine Übung, die zur Selbstfindung hilfreich ist: Alle Personen-Kennzeichnungen, die unsere Sprache bietet, auflisten. Also: echter Freund, dufter Kumpel, guter Zuhörer, Sponti, Schleimer, Klugschwätzer, Haarspalter, Überflieger, Lebenskünstler, Fachidiot, Draufgänger, verlässlicher Partner, ein Fass von Wissen, guter Beobachter, Angeber, Streithansel und so weiter. Es gibt eine Fülle von Wörtern und Redewendungen, mit denen Menschen gekennzeichnet werden, wie sie von anderen wahrgenommen werden. Das kann falsch und verleumderisch sein. Es ist zu Wirklichkeit gewordene Subjektivität, die durch Kommunikation entsteht, und von starkem Einfluss ist; insbesondere wenn die sozialen Medien sie in die Welt setzen und verstärken.
Die Aufgabe: Die zuvor erfassten Personen unseres bisherigen Lebensumfelds den Kennzeichnungen unserer Liste zuordnen. Wie werden die Personen von ihrem Umfeld gesehen? Anschließend bei jeder Person vermerken, ob wir diese Beurteilung für zutreffend halten oder nicht, ob ich damit übereinstimme oder anderer Meinung bin. Beispiel: Meine Mutter hält meinen Vater für einen Feigling; das stimmt nicht, mein Vater braucht nur länger, um zu einer Entscheidung zu kommen.
Der krönende Abschluss dieser Arbeit: Die Liste auf sich selbst anwenden! Wie sehen mich die Menschen meines Lebensumfeldes? Als liebenswerten Zeitgenossen? Als Spaßvogel? Als Querdenker? Als Vorturner? Als Chaot? Und so weiter. Vorletzte Frage: Sehe ich mich auch so? Oder trifft das alles nicht oder höchstens teilweise zu? Letzte Frage: Warum werde ich so gesehen?
Wie nehme ich mich selbst wahr?
Die Wertschätzung anderer Menschen bestimmt weitgehend unser Selbstbewusstsein. Wir sollten versuchen, nicht davon abhängig zu sein. Und andererseits sollten wir uns auch nicht aufs hohe Ross setzen und sagen, was die Leute über mich reden, ist mir egal; ich weiß selbst, was ich mir wert bin. Jeder will anerkannt werden; möglichst beliebt sein. Lobende Worte vom Chef, vom Ausbilder oder Professor tun gut. Freunde, die einen annehmen, wie man ist, tun gut. Die Honorierung erbrachter Leistungen tut gut. Dieses „gut tun“ geht zu weit, wenn man davon abhängig ist, süchtig danach ist, ohne es unglücklich ist. Denn dann ist man manipulierbar!
In der Wahrnehmung meines Umfelds ist es wichtig mitzubekommen, was man über mich denkt. Aber nicht, weil davon mein Wohlbefinden abhängt, sondern weil es mir Informationen gibt, die ich für die Selbstfindung und ‑beurteilung brauche, um meine Selbstwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung vergleichen zu können. Da wird es zwar immer eine Diskrepanz geben, aber wenn diese zu groß ist oder gar widersprüchlich, stimmt etwas nicht mit meinem Selbstbewusstsein. Mehr Schein als Sein? Oder zu unscheinbar, um richtig erkannt zu werden? Vermag ich nicht zu kommunizieren, was ich bin?
Es gibt Lebenssituationen, in denen deutlich wird, ob man fremdgesteuert lebt oder ein Selbstbewusstsein hat, das eigenständig ist. Beispiel: Ich habe den Job verloren. Schäme ich mich und trage den Kopf unter dem Arm oder gehe ich auf meine Freunde zu und bitte sie, mir bei der Jobsuche zu helfen? Anderes Beispiel: Ich erreiche die Altersgrenze und scheide als Topmanager aus der Firma aus. Ziehe ich mich zurück und leide darunter, jetzt nur noch Privatmann ohne Statussymbole zu sein und nicht mehr gebraucht zu werden, obwohl ich mich noch topfit fühle? Oder habe ich ein Projekt, in dem ich mich ehrenamtlich engagiere, mein Wissen und meine Erfahrungen einbringe?
Es gibt leuchtende Beispiele für einen gelungenen „Szenenwechsel“: dem Nachwuchs Hilfestellung geben, nach erfolgreicher Karriere sich in den Dienst einer guten Sache stellen, Sozialdienste leisten, Forschung fördern, in Kunst und Kultur eine Aufgabe übernehmen, eine Stiftung gründen. All das zeigt ein Selbstwertgefühl, aus dem heraus sich Menschen nützlich zu machen verstehen.
Zu einem „erwachsenen“ Selbstbewusstsein kommt, wer sich aus den Probephasen seiner Jugend löst, das „geliehene“ Selbstbewusstsein der Gruppe hinter sich lässt und zu persönlicher Souveränität findet. Das ist ein unentwegter Balanceakt, den man nicht im Stehen vollbringen kann, sondern nur in der ständigen Vorwärtsbewegung seines Lebens. Aktiv sein! Etwas unternehmen!
Wir sind so großartig begabt!
Und wie stelle ich es an, ein eigenständiges Selbstbewusstsein zu entwickeln? Erstens durch permanentes Reflektieren als Ausdruck bewussten Lebens. Zweitens durch Akzeptieren meiner lebenslangen Unvollkommenheit. Drittens durch einen Umgang mit meinen Gefühlen, der mich immer wieder auf die Freuden des Lebens hin lenkt.
Reflektieren: Immer wieder neu und vertieft nachdenken und schreiben über die Grundfragen meiner Existenz. Wo komme ich her? Wo will ich hin? Wer bin ich? Was will ich hier auf dieser Welt tun? Welche Mittel habe ich dazu? Welche davon sind mir unabänderlich vorgegeben? Welche kann ich beeinflussen?
Wer sich vor dem Nachdenken über diese Fragen drückt, dem werden andere Menschen nach ihren Vorstellungen sagen, wo es lang geht. Man hat sich der Fremdbestimmung ausgeliefert. Manchen passt das nicht, aber sie tun auch nichts, weil sie feige, unfähig und faul sind. Sie meckern, sie beschimpfen und verurteilen, machen miese Stimmung. Es sind die unbelehrbaren Schwächlinge.
Nachdenken verlangt: aus der Spur treten, inne halten, still werden, in sich hinein hören, sein Denken, Reden und Handeln bedenken, sein Verhältnis zu den Mitmenschen überdenken – und sich Fragen stellen!
Unvollkommenheit: Auch wenn wir gerne vollkommen wären und es immer wieder unsere Versuchung ist – wir sind nicht der Vollkommene, der Allwissende, der Allmächtige, der Allgegenwärtige, der Zeitlose, nicht der absolut Gerechte, der uneingeschränkt Liebevolle … Nein, wir sind unvollständig. Das ist der Ansporn unseres Lebens! Sein Wissen unablässig ausweiten, neue Einsichten gewinnen, Erfahrungen sammeln, Lehren ziehen, sich korrigieren, sich verbessern, Zusammenhänge erkennen, bis ins letzte Detail differenzieren, in Alternativen denken, seine Sinne schärfen, genau hinsehen und hinhören …
Wir sind so großartig begabt! Es macht so unendlich viel Spaß, seine Talente zu nutzen! Das mag zumindest am Anfang oder bei einem Neubeginn Selbstüberwindung erfordern – aber der Lohn ist überwältigend! Wie der grandiose Ausblick nach einer anstrengenden Gipfeltour oder das Glücksgefühl nach einem Marathonlauf.
Charakter schenkt Freiheit
Gefühle: Wer sich ihnen uneingeschränkt überlässt, verliert seine Freiheit. Und degradiert seinen Verstand zu ihrem Büttel, der immer neue Begründungen und Ausreden zu liefern hat. Ohne Charakterfestigkeit kommt man mit seinen Gefühlen nicht klar, werden sie zur Gefahr, kann man sie als Liebe und Freude nicht ausleben.
Mein Charakter bestimmt den Umgang mit mir selbst und mit meinen Mitmenschen. Bin ich ehrlich zu mir? Und zu anderen? Gehe ich pfleglich mit meinen Sachen um? Und mit denen der anderen? Bin ich zuverlässig? Kann ich mich auf mich verlassen? Kann ich verzichten? Bin ich verführbar? Kann ich Fehler eingestehen? Halte ich mein Wort? Kann ich mich zügeln? Bin ich so selbstsicher, dass ich mich ausleben kann?
Wer die wandelnde Selbstkontrolle ist, hat Charakter falsch verstanden. Mein Charakter, der wie alle meine anderen Lebensäußerungen der ständigen Selbstverbesserung bedarf, gibt mir Verhaltenssicherheit, ohne dass ich in jeder Situation nachdenken müsste; er schenkt mir die Freiheit, spontan sein zu können; er hilft mir, die Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdbild zu verringern; eröffnet mir die Freuden des Lebens!
Die Freiheit, die mir mein Charakter schenkt, gilt es zu nutzen: mich und meine Mitmenschen immer wieder auf das zu orientieren, was das Leben in dieser Welt lebenswert macht. Das heißt: Die Aufmerksamkeit auf Menschen lenken, die Frieden stiften, die Leben retten, die andere trösten, die Liebe schenken, die Not lindern, die Werte schaffen, die Konflikte lösen, die Lob und Anerkennung zollen, die Gastfreundschaft gewähren, die uns mit Werken der Musik und Malerei begeistern, … Natur entdecken, in ihr aufgehen.
Um diese Orientierung dominant werden zu lassen, müssen wir den Blick wegnehmen von dem, was uns runterzieht, die Laune verdirbt und zu Miesepetern macht. Dem Bösen und Fahrlässigen darf man nicht mehr Aufmerksamkeit schenken, als notwendig ist, um es in Schach zu halten. Das beginnt bei uns selbst: dem inneren Schweinehund nicht das Feld überlassen, über den eigenen Schatten springen.
Unsere Sehnsüchte geben uns Vorstellungen von absoluter Gerechtigkeit, von grenzenloser Freiheit, von uneingeschränktem Wissen, von unzerbrechlichem Frieden, von totaler Liebe. Diese, unsere sehnsuchtsvollen Vorstellungen von Vollkommenheit haben einen Namen: Gott. Ihm entgegen zu leben – gemäß dem Glauben, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, sondern es erst richtig los geht –, das gibt Hoffnung. Daran kann sich unser Selbstbewusstsein voller Freude festmachen.