Kapitel 4
Wer sich nicht selber zwingt, wird gezwungen
Sich von Fremdeinflüssen und von seinen inneren Zwängen befreien, macht glücklich. Denn dann müssen Sie nur noch, wenn Sie auch wollen. Dazu brauchen Sie die Fähigkeit, entsprechend klarer Einsicht zu handeln — ohne nachzufühlen, ob es denn auch gut tut. Ein Leben nach Lust und Laune führt auf keinen grünen Zweig.
Wir alle leben in einem Geflecht menschlicher Einflüsse: Eltern, Partner, Kollegen, Chefs, Nachbarn, Freunde; aber auch indirekt Politiker, Beamte, Journalisten. Es gibt Einflüsse, denen wir uns entziehen können, etwa durch den Abbruch jeglichen Kontaktes. Sich allen Einflüssen ein Leben lang entziehen, kann niemand.
Wir leben in Abhängigkeiten, die jeder versucht, zu seinen Gunsten zu gestalten. Schon als Säuglinge äußern wir Missfallen und Gefallen. Als Erwachsene arrangieren wir uns mit unseren Mitmenschen, tarieren wir das Verhältnis zueinander aus. Dabei geht es meistens um eine Über- oder Unterordnung. Die Machtverhältnisse werden geklärt. Man spricht von Gewinnern und Verlierern, von Mitläufern und denen, die den Ton angeben. Zu welcher Gruppe gehören Sie?
Unter wessen Einfluss stehen Sie?
Wer ein selbstbestimmtes Leben führen will, braucht ein hohes Maß an Unabhängigkeit. Nicht nur von seinen Mitmenschen, auch von den Einflüssen, die immer wieder aus ihm selbst aufsteigen. Meine Frau und ich waren mit einer Bekannten im Skiurlaub. Seitdem gibt es zwischen uns beiden ein geflügeltes Wort: „Das muss ich haben!“ Die Bekannte musste viel haben, beispielsweise jeden Morgen einen starken Kaffee und ein weich gekochtes Ei. „Sonst komme ich nicht in den Tag.“ Ihre Laune hing von vielem ab, was sie haben musste. Sie war Sklave ihrer selbst.
Leben Sie fremdbestimmt oder selbstbestimmt? Sind Sie Herr ihrer selbst? Jeder ist „sowohl als auch“. Aber was überwiegt? Die Zielvorstellung sollte sein: Überwiegend selbstbestimmt als Herr seiner selbst. Wer sein eigener Herr ist, kann sich selbst gegenüber auch hart sein, wenn er Gefahr läuft, dem Weichei in sich nachzugeben.
Um sich Klarheit darüber zu verschaffen, in welchem Maße man fremdbestimmt ist, macht man sich am besten eine Personenaufstellung: Welche Menschen beeinflussen mich? Die notierten Personen werden gekennzeichnet, entsprechend dem Grad ihres Einflusses: stark, mittel, mäßig. Dann eine kurze Beschreibung: Worin besteht die Beeinflussung? Abschließend: Empfinde ich diesen Einfluss als Bevormundung oder als gerne angenommene Lebenshilfe?
Zur Abrundung der Personenkennzeichnungen noch drei Fragen:
- Welchen Personen fühle ich mich überlegen?
- Mit welchen Personen sehe ich mich „auf gleicher Augenhöhe“?
- Welchen Personen ordne ich mich unter?
In Freiheit und Freude leben
Ihre Personenaufstellung macht Ihnen die Einfluss-Sphäre deutlich, in der Sie leben. Schlussfolgerungen: Für welche Menschen trage ich Verantwortung? Wem gegenüber habe ich Vorbildfunktion? Für wen ist meine Arbeit nützlich?
Die Frage „Was macht mir Spaß?“ ist in diesem Zusammenhang nicht falsch, aber gefährlich, weil sie dazu verleiten kann, sich nur eine bequeme und selbstgefällige Arbeit zu suchen. Also eher: Wie verändere ich mich und meine Einfluss-Sphäre so, dass sich für alle ein erfülltes Leben entwickeln kann?
Die SINNphOLL-Texte sind der Versuch, Anstöße zu geben und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man der Zielsetzung eines erfüllten Lebens näher kommen kann. Es geht nur annäherungsweise, weil wir uns zwar aufgrund von Selbstverbesserung von vielen Abhängigkeiten befreien können, aber es werden für uns notwendige Abhängigkeiten bleiben. Diese können beglückend sein, wenn sie in Wohlwollen oder gar Liebe gelebt werden.
Und wir dürfen uns auch selbst lieben. Liebe, verankert in innerer Ruhe, gestaltet durch souveränes Handeln und gebunden im Glauben an das Vollkommene. Gott schenkt die Chance eines Lebens in Freiheit und Freude. Es gibt Vorbilder – wie Maximilian Kolbe oder Mutter Teresa –, die solche Liebe ausstrahlen, ausgestrahlt haben.
Auch Potentaten leben in Abhängigkeiten
Die zurückliegenden Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte sind weitgehend geprägt von Gesellschaftsstrukturen, in denen es ein klares Oben und Unten gab. In den Hierarchien waren die Machtpositionen vorgegeben. Die Menschen lebten unter der Herrschaft derer, die Macht hatten. Aber selbst die Machthaber waren keineswegs „souverän“.
Aus „Steinfall“, Lyrik/Satire, Shaker Media, 2012:
Für und Wider
Machtvoll sein. Andere in seinen Willen zwingen.
Sklaven haben. Sich verewigen. Sich anbeten lassen.
Den Tod als Mumie überleben. Oder tiefgefroren.
Jede Freiheit ausleben. Über Leben und Tod entscheiden.
Sich als Gott verehren lassen.
Intrigen. Abhängig von Sklaven.
Hintergangen werden. Vor Verrätern nicht sicher.
Bedroht vom Tod. Umgeben von Speichelleckern.
Schlangen im Bett. Belogen und betrogen.
Blutsauger. Halunken. Gesindel.
Menschenkenntnis entwickeln!
Entscheidend für ein selbstbestimmtes Leben ist die innere Freiheit; sie ist unabhängig von Macht. Jeder kann zu ihr finden. Aber nicht aufgrund von Lust und Laune, sondern allein aufgrund liebevollen – und das heißt gelegentlich auch autoritären – Umgangs mit sich selbst und seinen Mitmenschen.
Liebevoller Umgang! Liebevoller Umgang verlangt Menschenkenntnis. Denn es gibt gefährliche Menschen. Wer die nicht zu erkennen und sich ihnen gegenüber nicht zu behaupten vermag, muss sie meiden. Es sind die Meister des manipulativen Verhaltens. Sie finden sich unter den Mitmenschen als Kollegen, Familienmitglieder, Nachbarn und Freunde, die es großartig verstehen, die Personen ihres Umfelds auf sich hin auszurichten.
Sie können die Liebenswürdigkeit in Person sein. Aber nur gegenüber denen, die ihnen zugeneigt oder gar zu Diensten sind. Wer sich verweigert oder sich kritisch äußert, wird durch Missachtung bestraft. Freundliche Blicke, nette Worte und kleine Gunsterweise für die einen, eisiges Schweigen, Ausgrenzung und vorwurfsvolle Miene für die anderen. Wehe, wenn solche Leute ihr Manipulationsverhalten auch noch mit Machtpositionen verbinden können.
Sich nicht manipulieren lassen!
Manipulativ begabte Menschen machen ihrem Umfeld unablässig deutlich, wie sie es gerne hätten, wann sie sich verletzt fühlen und wofür sie eine Entschuldigung erwarten. Sie verstehen es hervorragend, anderen ein schlechtes Gewissen zu machen. Die Schuld liegt nie bei ihnen. Es wird von ihnen kein Zweifel gelassen, wie sie es sehen und was ihren Wohlgefallen hat. In Mimik und Gestik, mit Wortwahl und Stimme drücken sie Missfallen und Wohlwollen aus.
Sie beherrschen alle Register der Informationssteuerung. Sie verstehen es durch Weglassen, Uminterpretation, Übertreiben und Untertreiben stets ihre Sichtweise als unanfechtbar zu verbreiten. Und das zum jeweils richtigen Zeitpunkt.
In Partnerschaften sind solche Menschen besonders gefährlich. Wer sich auf sie einlässt, sie in ihrer Liebenswürdigkeit schätzen lernt, ihre Aufmerksamkeiten genießt, womöglich ihren Reizen als Mann oder Frau verfällt, wird ausgesaugt, bis er nichts mehr zu bieten hat. Manchen dieser Menschen ist gar nicht bewusst, was sie mit anderen machen.
Sie halten es für legitim, alle ihre Fähigkeiten dafür einzusetzen, dass es ihnen gefühlsmäßig gut geht, und sie meinen, ihrerseits ja auch viel zu geben. Als gute Menschen wollen sie anerkannt sein. Ihnen etwas anderes zurückzuspiegeln, weisen sie als beleidigend zurück.
Den Verführern nicht auf den Leim gehen!
Wer einer solchen Person gewachsen ist, sie rechtzeitig durchschaut – der ist „souverän“. In meinem Leben bin ich auf solche Menschen gestoßen, habe sie nicht durchschaut, war zum Glück aber nicht von ihnen abhängig; meine Abneigung gegenüber „Fremdbestimmung“ hat mich davor bewahrt, mich in ihren Bann ziehen zu lassen. Nicht verhindern konnte ich, dass Freunde in ihren Sog gerieten.
Aber Menschen manipulieren nicht nur im direkten Umgang miteinander, sondern – heute mehr denn je – durch den Einsatz der modernen Kommunikationsmittel. Soziale Netzwerke steuern unsere Aufmerksamkeit, sie versorgen uns mit ausgewählten und aufbereiteten Informationen, vermitteln uns Meinungen, wie wir was zu verstehen haben. Daumen rauf, Daumen runter.
Wie man Bildern ihre Suggestivkraft nimmt
Wir werden überflutet mit Bildern. Das stumpft ab. Man schaut nicht mehr genau hin, lässt sich vom ersten Eindruck täuschen. Von den Produzenten und Vermittlern der Bilderflut werden immer eindringlichere Bildmotive ausgewählt und gestaltet. Sie wollen sich dadurch im Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der Zuschauer behaupten. Wir sollen gepackt werden von der Macht ihrer Bilder. Wir sollen uns über Ungerechtigkeit aufregen, Mitleid empfinden, uns Angst machen lassen, Ohnmacht, Lust, Freude, Neid, Stolz, Harmonie und anderes empfinden. Das bringt Quote, das bringt Auflage.
Zugeben muss man: Noch nie waren so viele wunderschöne Bilder in Filmen, Fernsehsendungen, Bildbänden und Kalendern zu sehen wie heute. Sie lösen Glücksgefühle aber auch Sehnsüchte aus. Wer sich mit der Macht von Bildern beschäftigt, muss die Bilder befragen: Was ist es, was mich da fasziniert? Wieso möchte ich so sein wie die abgebildete Person? Warum möchte ich diesen Ort einmal mit eigenen Augen sehen? Eine ähnliche Situation erleben?
Immer sollte man genau hinsehen. Denn manches Foto zeigt nicht die Wirklichkeit, die es vorgibt zu zeigen, sondern eine virtuelle Welt, die unsere Wünsche und Hoffnungen bedient. So viele schöne Menschen beispielsweise, wie sie uns tagtäglich gezeigt werden, gibt es gar nicht.
Aus meiner Zeit als Filmkritiker stammt die Angewohnheit, mir Szenen in Videos, Fernsehsendungen, Werbematerial und anderem wiederholt und in Zeitlupe anzusehen, wenn in mir Emotionen wach gerufen werden, ohne dass ich das Warum und die Auslöser auf Anhieb erkenne.
Ich will wissen, mit welchen Mitteln – nicht nur der Dramaturgie – gearbeitet wurde: Bildausschnitt, Perspektive, Licht, Farben, Mimik, Gestik, Montage, Stimmen, Geräusche, Musik. Es sind indes nicht nur Gefühle, auch Gedanken werden mit Bildern wachgerufen. Unser Gedächtnis orientiert sich vornehmlich an Bildern. Wir träumen in Bildern. Unser Denken ist unterlegt mit Bildern.
Sich die Bilder seines Denkens und Fühlens bewusst machen!
Bilder sind immer auch Gleichnisse: eine Landschaft für Schöpfung, eine Brücke für Verbindendes, ein Labor für wissenschaftliche Neugier, Märkte für Austausch, Berggipfel für große Ziele und anderes mehr. Die Reporter mit ihren Kameras liefern solche Fotos und Szenarien zuhauf. Welche Einsichten stoßen sie bei uns an? Worüber nachzudenken, fordern sie uns auf? Auch hier muss man genau hinsehen – und hinhören.
Denn auch hier wird manipuliert: durch die Wortwahl der Kommentierung beispielsweise, durch die hergestellten Zusammenhänge und vor allem durch Weglassen. Dem lässt sich nur durch eigenes Wissen und eigene Erfahrungen begegnen.
Wer den Bildern seines Denkens und Fühlens Aufmerksamkeit schenkt und ihnen nachgeht, wer immer wieder Bilder in sich aufruft, die ihm die Freude bereichernder Einsichten und Erfahrungen präsent machen, wird nach einiger Zeit merken, dass er nicht mehr durch die von außen auf ihn einwirkenden bildhaften Vorstellungen gesteuert wird – sei es bestätigend oder ablehnend.
Wenn wir die Manipulationen im Fernsehen, in Filmen und Zeitschriften erkennen, wird ihnen die unmittelbare Wirkung genommen.
So wird man Herr der eigenen Bilderwelt. Außerdem wird die Fähigkeit gewonnen, mit seinen Vorstellungen kreativ umzugehen: auf Ideen kommen, zu neuen Einsichten gelangen, die eigenen Vorstellungen mit denen anderer abstimmen können.
Von Zeit zu Zeit bitte ich Freunde und Bekannte, zu einem Fotomotiv ihre Gedanken zu formulieren. Das Erstaunen ist oft groß, wie unterschiedlich die Assoziationen sind. Es spiegelt sich wider, dass wir sehr unterschiedliche Vorstellungen in uns tragen. Solange das Gesehene beschrieben wird, liegen die Aussagen noch eng beieinander, wenn auch die Wortwahl verschieden sein mag.
Doch sobald die Gefühle benannt werden, die ein Motiv anspricht, kann es bis ins Gegensätzliche gehen. Es zeigt sich, wie unsere Individualität im Vergleich mit den Vorstellungen anderer erkennbar wird. Manchen fällt es schwer, die Assoziationen der anderen nachzuvollziehen. Genau das sollte man aber versuchen.
Wie der Widerwillen gegen Selbstentwicklung entsteht
Die Verstaatlichung unserer Kinder und Jugendlichen in Kitas und Schulen steht der individuellen Selbstentwicklung in der Familie entgegen. Denn nur Eltern haben die Nähe, ihren Kindern die altersgemäße personale Zuwendung zu geben, die Heranwachsende zu ihrer Entwicklung brauchen. Doch die Veränderung der Gesellschaftsstruktur hin zur Erwerbsarbeit aller Erwachsenen hat dazu geführt, dass viele Eltern weder als Vorbild noch in ihren direkten Erziehungsmaßnahmen diese Nähe nutzen können.
Die Folge: Nach den zwanzig Jahren, die Kinder und Jugendliche in der Obhut staatlicher Elternentlastungseinrichtungen verbringen, ist die nachwachsende Generation genauso wie die Elterngeneration sowohl unfähig wie unwillig, in ausreichendem Maß sich hin zu mehr und mehr selbstverantwortlichem Tun und Lassen zu entwickeln.
Die Eltern leben im Alltagsstress, verursacht von der ständig zunehmenden Komplexität der Lebensumstände; Stress, der außerhalb der beruflichen Anforderungen nur noch Entspannung, Erholung und Spaß suchen lässt.
Das sind keine guten Voraussetzungen, vermeintlich zusätzlichen Stress, nämlich die Anstrengungen der Selbstentwicklung auf sich zu nehmen. Wenn es denn Stress wäre – und nicht im Gegenteil die großartige Möglichkeit, aus all dem Stress mit seiner Fremdbestimmung herauszukommen!
Der Mangel an mitreißenden persönlichen Zielen ist der häufigste Grund dafür, dass das Leben in Abhängigkeiten als sicherer empfunden wird als die Unabhängigkeit einer selbst zu verantwortenden Lebensgestaltung.
Seinem Leben Sinn und Ziel geben!
Absolute Selbständigkeit gibt es indes nicht, aber jeder kann zumindest zu der inneren Einstellung gelangen, nicht auf Gedeih oder Verderb von anderen abhängig zu sein. Der Weg dazu verlangt eine klare Antwort auf die Frage: Wozu will ich mein Leben nutzen? Wer keine eigenen Ziele hat, den spannen andere für ihre Ziele ein.
Wer dagegen weiß, was er will, und sich seiner Möglichkeiten, die Regie über sein Leben zu übernehmen, bewusst ist, kann die Anfälligkeit für Vormundschaften, seien sie auch noch so attraktiv, erheblich reduzieren. Und er kann der Neigung zur Unterordnung in autoritären Strukturen, die der Flucht aus der eigenen Verantwortung dienen, widerstehen.
Selbstentwicklung ist letztlich ein lebenslanger Prozess – wie eine unaufhörliche Bergtour. Wichtig sind der Anfang und das Durchstehen der ersten Etappen. Dann kommt der Augenblick, in dem man seinen Schritt-Rhythmus gefunden hat. Unvergesslich die Freude auf den einzelnen Gipfeln – wie gut, dass man nicht aufgegeben hat!
Die ärztlichen Bemühungen, bereits klinisch tote Menschen zurückzuholen, haben bisweilen Erfolg. Aus den Berichten der Wiedererweckten über ihre Wahrnehmungen während des Zustands ohne Herzschlag weiß man, dass sie auch eine Lebensrückschau mit eigener Bewertung erfahren. Im Vorhof des Todes, so kann man also annehmen, wird uns spätestens deutlich, was wir – nicht andere – aus unserem Leben gemacht haben.