Kapitel 16
Die Wiederentdeckung der
leistungsstarken Gruppe
Die Fürsorglichkeit des Staates hat es vielen Menschen ermöglicht, ihr Leben als Single zu organisieren. Auch in den Unternehmen hat sich das Personalmanagement lange Zeit ausschließlich um den einzelnen Mitarbeiter gedreht. Doch jetzt hat man die überlegene Leistungsfähigkeit gut trainierter Gruppen wiederentdeckt. Um sich erfolgreich in die Arbeit einer Gruppe einbringen zu können, muss man kompetent und teamfähig sein.
Erosion der Familie
Niemand kann für sich allein auf Dauer überleben. Der Mensch ist angelegt auf ein Leben in der Gruppe. Unfertig wie kein anderes Geschöpf kommt er auf die Welt. Nur im Kontakt mit ihm zugeneigten Personen entwickelt der Mensch sich. Die Mütter spielen dabei die entscheidende Rolle. Die Standard-Überlebensgruppe ist die Familie. Im Laufe der Geschichte hat sie sich in den verschiedensten Formen ausgeprägt: als Urhorde, Steinzeitgruppe, Clan, Familienstamm, Sippe, Groß- und Kleinfamilie.
Als Kind in der Familie und später auch in weiteren Gruppen, vor allem in Gruppen von Altersgenossen, lernt der Mensch, sein Verhalten auf andere Menschen hin abzustimmen. Wenn dieser Sozialisationsprozess beeinträchtigt wird, kommt es zu Verhaltensstörungen, die sich auch auf die Gesellschaft auswirken. Umgekehrt wirken sich Veränderungen der Gesellschaft auf die Familien aus. Heute zeigen die Familien in manchen Gesellschaften Auflösungserscheinungen.
Wie in vielen Weltgegenden noch heute, so hatte die Familie bei uns auch die Aufgabe, Lebensrisiken wie Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit aufzufangen. Man war füreinander da. Die Fortpflanzungs- und Überlebensgemeinschaft Familie sorgte dafür, dass die Kinder und Jugendlichen auf ihre Zeit als lebenstüchtige Erwachsene vorbereitet wurden. Der alte Mensch behielt seine soziale Einbettung in der Familie, konnte sich entsprechend seinen Möglichkeiten nützlich machen.
Aber die Familie kam unter den Einfluss individualistischer Vorstellungen: Jeder ist für sich selbst da. Sich selbst verwirklichen und dazu die Enge der Familie verlassen – das ist heute erstrebenswert.
Das Berufsleben gilt als Raum der persönlichen Entfaltung. Nicht die auf Dauer – und schon gar nicht auf die Dauer eines ganzen Lebens – angelegte Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sondern partielle Mitgliedschaften und Partnerschaften auf Zeit sind vielen Menschen heute erstrebenswert. Der Arbeitsplatz als Bezugspunkt für Einkommen, Prestige, Kontakte und soziale Absicherung.
Folgen sozialstaatlicher Fürsorge
Mit dem Sozialstaat wurden die Rahmenbedingungen für die individuelle Lebensführung geschaffen. Er übertrug den von der Familie wahrgenommenen Ausgleich der Lebensrisiken auf Zwangseinrichtungen und verknüpfte sie als Lohnnebenkosten mit dem Arbeitsplatz. Kinderbetreuung in Kindergärten und die Ausbildung der Jugend in Schulen gehören gleichermaßen zu den seit langem selbstverständlichen Aufgaben des Staates. Als Letztes wurde in Deutschland das Pflegerisiko des Alters sozialstaatlich geregelt. Wozu noch Familie?
Der Sozialstaat ist zur Erhaltung der Rahmenbedingungen des individuellen Wohlstands auf erfolgreiche Unternehmen angewiesen. Das gilt auch für den Einzelnen: Wer einen Arbeitsplatz braucht, muss einen wettbewerbstauglichen Arbeitgeber haben. Da Unternehmen sich auf heimischen und/oder internationalen Märkten behaupten müssen, spielt die Höhe der Lohnnebenkosten für ihre Wettbewerbsfähigkeit eine entscheidende Rolle.
Arbeitslosigkeit in einer Volkswirtschaft signalisiert, dass der Arbeitsmarkt nicht in der Lage ist, das Arbeitsangebot und die Nachfrage nach Arbeit auszugleichen. Der Ausgleich kommt vor allem dann nicht zu Stande, wenn die Arbeitskosten einem Unternehmen Verluste bringen und andernorts niedriger sind. Appelle an den Patriotismus der Unternehmer helfen da nicht, sondern nur das Verringern der Kosten für Arbeitsleistungen.
Umgekehrt kommt es ebenfalls zu Problemen: Fehlt es an geeignetem Nachwuchs für die Arbeit, die in den Unternehmen zu leisten ist, müssen die Unternehmen ihre Produktion einschränken oder in andere Länder expandieren oder Mitarbeiter aus dem Ausland anwerben. Das führt dann zu Konflikten mit der Bevölkerung, die alles gerne zuhause hätte.
Eine Gesellschaft, die aufgrund staatlicher Fürsorgemaßnahmen und aufgrund von Kartellmacht das Augenmaß für die Regelung des Arbeitsmarktes verloren hat, sägt an dem Ast, auf dem alle – Gesellschaft, Staat, und Individuum – sitzen. Die Unternehmen können die ihnen sozialstaatlich zugedachte Aufgabe nicht mehr wahrnehmen. Denn entweder schwinden ihre Wachstumspotentiale oder sie werden Fremdkörper der Globalisierung.
Das arbeitsplatzgebundene Überlebenssystem des Sozialstaats gerät in Schwierigkeiten, wenn es keine oder nicht genügend erfolgreiche Unternehmen gibt. Der Radikalversuch des Sozialismus, den Staat zum Unternehmer zu machen, ist dramatisch und folgenschwer gescheitert. Der Aufbau Ost steht solange auf tönernen Füßen, wie es in den ostdeutschen Bundesländern zu wenige einheimische Unternehmen gibt, die erfolgreich sind.
Unternehmer entdecken die Gruppenleistung
Auch die Unternehmer haben bis vor kurzem nur den Einzelnen gesehen. Der einzelne Mitarbeiter war gefragt. Für ihn gab es eine Stellenbeschreibung. Von ihm hatte man genaue Vorstellungen bezüglich der fachlichen Qualifikation, der beruflichen Erfahrung und auf den Arbeitsplatz bezogener Eigenschaften. In vielen Betrieben wurde (wird noch?) autoritär geführt. Nach dem Motto, das schon die Römer kannten: Divide et impera! Teile und herrsche!
Damit das funktionierte, wurde Vereinzelung betrieben. Nur in Über- und Unterordnung waren die Mitarbeiter miteinander verbunden. Der Dienstweg war einzuhalten. Zwischen den Mitarbeitern herrschte Wettbewerb um die Gunst des Vorgesetzten. Denn nur so war Karriere möglich. Diese Zeiten sind zumindest in einigen Branchen vorbei. Und erzwungen hat das der Wettbewerb auf den Märkten.
Märkte üben wie kein anderes Balance-Instrument des Interessenausgleichs den Zwang aus, sich an der Wirklichkeit zu orientieren. Das ist der Grund, warum die sozialistischen Paradiesmacher stets gegen Marktverfahren polemisieren. Wo immer es geht, versuchen sie im Namen eines hochwertigen und allgemein anerkannten Gutes, beispielsweise “soziale Gerechtigkeit”, Märkte zu knebeln oder außer Kraft zu setzen. Nicht Marktversagen, sondern Marktdeformation ist die Ursache vieler volkswirtschaftlicher Mängel.
Der Wettbewerbsdruck hat in vielen Unternehmen zu einem Umdenken gegenüber den Mitarbeitern geführt. Sie werden nicht mehr als Solisten gesehen, sondern als Mitglieder einer Mannschaft. Die Betriebe haben die Erfahrung gemacht, dass autoritäre Führung nicht mehr die Produktivität erbringt, die für das Bestehen auf den Märkten notwendig ist. Das ist der Grund für die Rückbesinnung auf gruppenbezogene Leistungspotentiale.
Ein Blick auf den Mannschaftssport oder ein Tennisdoppel verdeutlicht, worum es geht: Nicht der Verein, der die besten Einzelspieler aufs Spielfeld schickt, hat die größten Siegeschancen, sondern der Verein, der gute Spieler als Mannschaft antreten lässt. Auch beim Tennis ergeben die beiden ersten einer Rangliste keineswegs das beste Doppel, eher kommt ein gutes Doppel aus Spielern zustande, die als Einzelspieler zwar zu den schwächeren Spielern zählen, aber über Teamfähigkeit verfügen.
Unternehmen als Vorreiter einer neuen Solidarität
Wie rigoros das Zurück zu den Gemeinschaftsfähigkeiten nunmehr praktiziert wird, lässt sich in der Automobilindustrie genauso wie in der Versicherungsbranche und anderen Wirtschaftszweigen beobachten. Die fachlichen Kenntnisse und Erfahrungen von Bewerbern werden als selbstverständlich vorausgesetzt.
Beim Auswahlverfahren müssen die Bewerber Teamfähigkeiten zeigen, um in den anschließenden Tests ihrer Eignung zu bestehen. In vielen Unternehmen reicht der fachliche Qualifikationsnachweis nur noch für das Entree des Einstellungsprozesses. Die Selektion erfolgt nach Zusatzqualifikationen, bei denen die Fähigkeiten der Zusammenarbeit mehr und mehr die entscheidende Bedeutung haben.
Unsere gesellschaftliche Entwicklung hat die Menschen vereinzelt und die schon lädierte Familie der Erosion preisgegeben. Damit sind bei vielen die Fähigkeiten unter- oder fehlentwickelt, die das Zusammenwirken in einer Gruppe erfolgreich gestalten.
Dazu zählen vor allem kommunikative Verhaltensweisen: informieren, zuhören, sich verständlich ausdrücken, rechtzeitig etwas sagen, andere Menschen Wertschätzung erfahren lassen, kooperieren, gemeinsam planen, verlässliche Absprachen treffen, sich zurücknehmen, in die Bresche springen und und und. Ob das die Erzieherinnen in den Kitas, die Lehrer in den Schulen und die Professoren an den Hochschulen wettmachen können?
Um das Handicap der Teamunfähigkeit in den Betrieben zu verringern, geben die Unternehmen mittlerweile viel Geld für Maßnahmen der Personal- und Organisationsentwicklung aus. Denn nur so können sie die Qualifikationen der Mitarbeiter den veränderten Erfordernissen anpassen und sie verbessern, insbesondere die Qualifikationen sozialer Kompetenz bei Mitarbeitern mit Führungsverantwortung.
In den Unternehmen wird versucht, nachzuholen und auszugleichen, was in der persönlichen Entwicklung versäumt wurde oder zu kurz gekommen ist. Das geschieht zielgerichtet auf die betrieblichen Anforderungen hin. Betriebe sind Zweckgemeinschaften, keine Partnerschafts- und erst recht keine Lebensgemeinschaften.
Selbstentwicklung als Voraussetzung für Gruppentauglichkeit
Nicht nur zur Lebenssicherung mit Hilfe eines Arbeitsplatzes ist es notwendig, soziale Fähigkeiten zu entwickeln, Verformungen und Defizite aufzulösen beziehungsweise auszugleichen. Auch das übrige Zusammenleben, das zum Beispiel in einer Paarbeziehung sehr intensiv und gleichzeitig sehr störungsanfällig ist, hängt von den Fähigkeiten sozialen Verhaltens ab. Das alles lässt es ratsam erscheinen, sich mit seinem Sozialverhalten auseinanderzusetzen.
Wie bei anderen Vorhaben zur Selbstentwicklung beginnt die Verbesserung des Sozialverhaltens mit der Selbstüberprüfung. Dabei sollte man sich nicht selbst belügen, sondern offen und ehrlich sich eingestehen, was einem Schwierigkeiten beim Zusammensein und Zusammenarbeiten mit seinen Mitmenschen bereitet.
Die Fehler anderer im Zusammenleben zu benennen, fällt den meisten Menschen nicht schwer. Aber welche Verhaltensschwächen und Verhaltensfehler haben Sie selbst? Vor der eigenen Tür kehren! Den Balken im eigenen Auge sehen, nicht nur den Splitter im Auge des anderen!
Eine wichtige Frage ist – so paradox das in diesem Zusammenhang klingen mag –, ob man allein sein kann. Denn nur wer mit sich allein sein kann, mit sich allein etwas anzufangen weiß und gelegentliches Alleinsein sogar zu genießen vermag, ist in seinen Sozialbeziehungen nicht außengesteuert und damit abhängig, sondern ausbalanciertes und ausbalancierendes Gruppenmitglied.
Viele können Einsamkeit nicht ertragen. Sie fliehen in Telefonate oder stellen das Radio an oder hocken vor dem Fernsehen. Nur keine Stille aufkommen lassen. Sie können nicht in sich hineinhören und ausschwingen. Wer aber nicht zu sich selbst findet, seinen seelischen Schwerpunkt nicht ausgelotet hat, nicht in sich ruht, läuft in seinen Sozialbeziehungen Gefahr, zum Spielball zu werden. Konflikten ist er nicht gewachsen.
Schwache Charaktere, die in ihrem Selbstwertgefühl ständig von der Anerkennung anderer abhängig sind, neigen in einer Gruppe zur Mitläuferrolle. Sie schließen sich der vorherrschenden Meinung an und bestätigen die tonangebenden Mitglieder.
Das wird von denen genutzt, die es lieben, von einem Fanclub umgeben zu sein, und die sich unwohl fühlen, wenn sie nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen. So wird autoritäres Führungsverhalten geradezu provoziert. Mitläufer sind der Topf, auf den als Deckel Diktatoren passen.
Freiheit, Macht und satte Sklaven
Gruppennormen empfinden manche als Zwang. Da sie die Einbuße an Freiheit nicht hinnehmen wollen, versuchen sie, die Führung zu übernehmen. Sie wollen Einfluss auf die Gestaltung der Normen gewinnen. Sie versuchen, Macht über die anderen Gruppenmitglieder zu erlangen. Ihr Kalkül: Die Macht über die anderen gibt mir mehr Freiheit. Das macht Herrschaftspositionen so attraktiv. Quod licet jovi, non licet bovi: Die Führung lebt in Wandlitz, die anderen leben in ihren Plattenbauten.
Wer das Leben als einen Kampf versteht, orientiert sich ausschließlich an Kategorien der Macht. Er braucht andere Menschen und Gruppenbeziehungen, um eine Machtbasis zu haben. Macht zum Ausleben von Freiheit auf Kosten der Freiheit anderer.
Die Geschichte ist voller Beispiele, wie so etwas abläuft. Wenn es in Unternehmen gelingt, das Verhaltensmuster des Machtkampfs zugunsten des Synergiemodells gemeinsamer Leistung zu überwinden, hat das Demokratiemodell zur Zähmung politischer Macht sein Pendant in der Wirtschaft gefunden.
Doch leider wird Unfreiheit von vielen gar nicht unangenehm empfunden. Schließlich nimmt der autoritäre Führer ja einiges an Aufgaben wahr und vor allem auch Verantwortung auf sich, was als Entlastung geschätzt wird. Die Lebensform des satten Sklaven ist daher gar nicht so unbeliebt.
Herrscher und Sklaven bilden das Grundmuster vieler Gesellschaftsformen. Es kann nur überwunden werden durch selbständige Personen, deren Gemeinschaftsfähigkeit sich in sozialer Kompetenz ausdrückt. Sie zu erwerben, ist oft ein Nachholprozess, weil in Kindheit und Jugend so manches versäumt und einiger Schaden angerichtet wurde.
Persönlichkeitsentwicklung ist ein lebenslanger Lernprozess, der immer neue Anstrengungen verlangt. Die Überlebensinstitutionen unserer Gesellschaft, die Unternehmen, haben den großen Bedarf an sozialer Kompetenz erkannt. Das Wort von der “lernenden Organisation” wurde geprägt.
Durch Maßnahmen der Personal- und Organisationsentwicklung geben die Betriebe ihren Mitarbeitern ständig neue Impulse, diesem Anspruch gerecht zu werden. Nehmen Sie die vielfältigen Anregungen auf und verwirklichen Sie Ihr persönliches Entwicklungsprogramm.
Gruppen sind keine Harmonie-Vereine. In jeder Gruppe gibt es Spannungen. Immer wieder entstehen Missverständnisse. Interessengegensätze bauen sich auf. Sympathien und Antipathien schwingen mit. Konflikte brechen auf. Lernen Sie mit den gruppendynamischen Prozessen umzugehen, die damit verbunden sind. Es gibt Workshops und Seminare, die entsprechende Erfahrungen simulieren und Einsichten vermitteln.
Die Unternehmen werden in Zukunft verstärkt darauf achten, dass ihre Mitarbeiter den Erfordernissen der Gruppenarbeit entsprechen. Denn sie brauchen die Leistungssteigerungen, die nur durch die Synergie von Gruppen zu erreichen sind.
Für das einzelne Gruppenmitglied bedeutet das: Lernfähig sein, sein Wissen aktuell halten und ständig erweitern, seine Fähigkeiten unablässig schulen und sich neue aneignen sowie seinen Erfahrungsschatz ausbauen und zum Fundus des Handelns machen. Wie beim Fußball: Nur leistungsstarke Spieler können leistungsfähige Mannschaften bilden.