Kapitel 20
Was den Konfliktstoff im menschlichen
Zusammenleben erträglich macht: Wohlwollen
Ist das Leben nicht Kampf? Es ist Wettbewerb. Doch die Konkurrenten sollten fair miteinander umgehen, sich gegenseitig achten. Im Wettkampf schenken sich Sportler nichts, dennoch können sie Freunde sein. Über den Sport hinaus sollte gelten: anderen Menschen mit Wohlwollen begegnen. Wenn daraus Freundschaften werden – umso besser!
Wie man in den Wald hineinruft …
Wenn ich zurückdenke: Wir hatten einen Nachbarn, den wir Kinder mieden, weil er immer böse dreinschaute. Meine Mutter nannte ihn “Herr Verdrießlich”. Ein Onkel von mir war immer guter Laune. Wir freuten uns, wenn er kam. Eine Freundin von mir war schwer zu betrüben. Hatte ich mal einen Durchhänger, holte sie mich da schnell wieder raus. Ein Freund von mir war behindert. Trotzdem war er immer frohen Mutes. Meine Freunde und ich nahmen ihn gerne zu unseren Unternehmungen mit, obwohl er eine Belastung war.
Bei einer Gruppenreise, auf die ich mich eingelassen hatte, ohne die Mitreisenden zu kennen, stand ich nach einer Woche vor der Entscheidung: Soll ich diese Typen hassen oder lieben? Ich entschloss mich für Letzteres – es schien mir einfacher.
Meine Mutter pflegte in ihre Erziehung viele Sinnsprüche einzuflechten, unter anderen: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Probieren Sie es aus und gehen Sie auf Ihre Mitmenschen wohlwollend zu! Sie werden erleben, dass Ihr Wohlwollen in aller Regel mit Wohlwollen erwidert wird.
Welchen der folgenden Statements stimmen Sie zu, welche treffen auf Sie nicht zu?
Jedem Menschen bringe ich Sympathie entgegen.
Menschen sind mir zu wankelmütig. Deshalb halte ich mich
lieber an Tatbestände und Sachbezüge.
Die meisten Menschen sind rücksichtslos und unhöflich,
wenn es um ihren Vorteil geht.
Wenn ein anderer auf mich zukommt,
frage ich mich immer: Was will der von mir?
Wenn ich einen Menschen kennenlerne, zeige ich mich
interessiert und entgegenkommend.
Man muss Menschen richtig einschätzen können,
wenn man mit ihnen zurecht kommen will.
Früher habe ich Menschen immer vertraut.
Seitdem ich aber mehrmals bitter enttäuscht
worden bin, verhalte ich mich reserviert.
Ich hüte mich davor, einen Menschen zu beurteilen.
Selbst wenn ich ihn schon lange kenne.
Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke,
erinnere ich mich zuerst an unsere Lehrer,
dann erst an einzelne Fächer.
Menschen sind launisch. Da halte ich mich lieber zurück.
Was ergibt sich aus Ihren Kennzeichnungen: Sind Sie anderen Menschen gegenüber eher skeptisch oder vertrauensvoll?
Sachorientiert oder personenorientiert
Amerikanische Psychologen haben die Mitarbeiter in Unternehmen grob eingeteilt in “sachorientiert” und “personenorientiert”. Sie stellten fest: Mitarbeiter, die beides in ausgewogenem Verhältnis zu sein pflegen, tragen am ehesten zum Erreichen der Unternehmensziele bei.
Meine Erfahrungen in Unternehmen stimmen im Befund weitgehend mit denen der Psychologen überein: Mitarbeiter, die in hervorragender Weise sachkompetent sind, kompensieren mit ihren Leistungen oft Schwächen in ihrem kommunikativen Verhalten. Und Mitarbeiter, die gerne viel reden, verstecken dahinter ihre bisweilen mangelhaften fachlichen Qualifikationen.
Unternehmensleitungen sollten diese Zusammenhänge besonders dann berücksichtigen, wenn sie Führungspositionen besetzen. Denn bei der Führung von Mitarbeitern ist es vor allem wichtig, einen Ausgleich zwischen sachorientiertem und kommunikativem Verhalten zu schaffen. Deshalb muss Führung von Wohlwollen geprägt sein, das sich auf die Mitarbeiter überträgt.
Ein Beispiel. Um die Produktivität zu steigern, ließ die Geschäftsleitung die Leistungen von fünf Montagegruppen analysieren. Die Gruppen wurden miteinander verglichen und dann die Leistungskraft der einzelnen Mitarbeiter. In einer Gruppe, es war die Gruppe mit der zweitbesten Produktivität, stellte man fest, dass ein Mitglied leistungsmäßig, gemessen an Stückzahl pro Zeiteinheit, mit Abstand das Schlusslicht bildete.
Daraus zog der Vorgesetzte den Schluss, dass dieser leistungsschwache Mitarbeiter auf einem anderen Arbeitsplatz vermutlich bessere Leistung bringen würde. Sein Platz wurde mit einem Mitarbeiter besetzt, von dem man wusste, dass er größere Stückzahlen schaffen würde.
Doch siehe da, die Gruppe rutschte im Gruppenvergleich auf den vierten Rang ab. Man ging der Sache nach und herauskam: Der leistungsschwache Mitarbeiter war der Kommunikator der Gruppe, er sorgte für den Informationsaustausch, hatte Ideen und hielt mit den anderen Gruppen Kontakt.
Es kommt also nicht nur darauf an, dass die einzelne Person einen gewissen Ausgleich zwischen ihren unterschiedlich ausgeprägten Orientierungen und Fähigkeiten schafft, sondern dass auch in den Gruppen auf diesen Ausgleich zwischen den Mitarbeitern geachtet wird. Das ist Chefsache.
Führungspersonen, denen es an sozialer Kompetenz fehlt, zeigen oft nur eine vordergründige, aufgesetzte Freundlichkeit, die sich insbesondere in Konfliktsituationen sofort verflüchtigt. Mitarbeiter sprechen dann vom wahren Gesicht ihres Vorgesetzten. Wie würden Sie Ihren Chef kennzeichnen:
offen und ehrlich oder reserviert
sich aufdrängend oder Freiraum lassend
vertrauensvoll oder distanziert
einfühlsam oder kalt egoistisch
hart aber fair oder weich und flutschig
höflich und korrekt oder unberechenbar
Wie würden Sie sich selbst charakterisieren?
Sich von seinen Ängsten befreien
Menschen, die sich grundsätzlich wohlwollend anderen gegenüber verhalten, lassen sich in etwa so kennzeichnen?
- zeigen Interesse, ohne dabei aufdringlich zu werden;
- zollen Respekt und Achtung in Form von Höflichkeit;
- können Anerkennung aussprechen und loben, wenn sie etwas gut finden;
- schenken Vertrauen mit dem Risiko, enttäuscht zu werden;
- können sachliche Kritik und Widerspruch ertragen;
- wehren sich hart, klar und deutlich gegen Boshaftigkeit;
- sind zu verlässlichen und dauerhaften Freundschaften fähig;
- teilen gerne mit anderen das, was sie haben, solange sie sich nicht ausgenutzt fühlen.
Was hindert Sie daran, solch ein wohlwollender Mensch zu werden? Meistens Ängste, die aufgrund mangelnder Selbstentwicklung nicht überwunden wurden. Solche Ängste sind:
- Angst, etwas falsch zu machen;
- Sorge, nicht ernst genommen zu werden;
- Angst, enttäuscht zu werden;
- Unsicherheit gegenüber fremden Menschen;
- mangelndes Selbstbewusstsein;
- Angst, in seinen Schwächen erkannt zu werden;
- Sorge, selbst zu kurz zu kommen;
- Befürchtung, in Anspruch genommen zu werden.
Wie Wohlwollen zertrampelt wird
Das Elend in der Welt lässt viele Kinder ernst und verschlossen werden. Nicht nur in Ländern der sogenannten Dritten Welt. Kinder und Jugendliche unserer Gesellschaft erleben den Streit der Eltern, leiden unter deren Trennung, verwahrlosen, weil die allein erziehende Mutter überfordert ist, fühlen sich zurückgestoßen, ausgeschlossen.
Es gibt nicht nur diese krassen Formen, die es den Heranwachsenden schwer machen, in die Gesellschaft hinein zu wachsen, sich in ihr zurecht zu finden, Anerkennung und Zuneigung zu erhalten. Auch das andere Extrem, die übertriebene Fürsorge, ständige Vorsichtsmaßnahmen und einschränkendes Behüten verhindern, dass Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen, sich auf andere Menschen einlassen zu müssen, um angenommen zu werden.
Es ist ein Verbrechen, wenn Kinder beispielsweise in Afrika nicht in eine Welt des Zutrauens hineinwachsen können, sondern als Kindersoldaten und Straßenkinder aufwachsen. Gemeinschaften wie die der Salesianer, aus denen heraus Personen auf diese Kinder und Jugendlichen zugehen, ihnen Aufmerksamkeit schenken und sie Zuneigung erfahren lassen, bringen in dieses Elend ein wenig Licht.
Afrika, Lateinamerika, Asien – weit weg von uns? Oder Städte in unserem eigenen Land weit weg von unserem Alltag? Das Wegschauen in den Nachbarschaften, das Mobbing in den Betrieben? Alles weit weg? In dieses auch uns umgebende Elend sollten wir – jeder in seinem Umfeld – ein wenig Licht bringen, indem wir unseren Mitmenschen mit Wohlwollen begegnen. Dazu gehört:
- sich nicht verdrießen lassen,
- verlieren können,
- nicht immer gleich zurückschlagen,
- Verständnis haben,
- souverän Bösartigkeiten wegstecken,
- verzeihen können,
- vergangenen Streit vergessen.
Statt dessen: durch Höflichkeit, Respekt, Aufmerksamkeit, Güte und Zutrauen eine Atmosphäre schaffen, die alle trägt. Denn alle Menschen sind heute mehr denn je schicksalhaft miteinander verbunden. Wohlwollen beginnt im Kopf: Wie denke ich über andere Menschen?
Welchem der folgenden Statements stimmen Sie zu, welchem nicht:
Das Leben ist Kampf. Deshalb unterscheide ich
zwischen Freunden und Feinden.
Ich habe keine Feinde. Aber Freunde, die mit mir durch
dick und dünn gehen, habe ich auch nicht.
Den meisten Menschen steht ins Gesicht geschrieben,
wessen Geistes Kind sie sind.
Schon an ihrem Fahrstil kann man bei Autofahrern
erkennen, ob sie in ihrem Verhalten
ängstlich, draufgängerisch oder umsichtig sind.
Mit ein wenig Menschenkenntnis sieht man, welchen Leuten
man vertrauen und welchen man nicht vertrauen kann.
Ich spüre, ob ein Mensch mir wohl gesonnen ist oder nicht.
Wenn es keine Gemeinsamkeiten mehr gibt, sollte man eine
Freundschaft lösen – sie ist verbraucht.
Und jetzt beantworten Sie folgende Fragen:
- Wie oft habe ich mich geirrt in der Einschätzung eines Menschen?
- Gab es Menschen, die mich entgegen meiner anfänglichen Skepsis positiv überrascht haben?
- Neige ich zu Vorurteilen?
- Bilde ich mir über Menschen ein Urteil, auch wenn ich sie nur flüchtig kenne?
- Was nimmt mich für einen Menschen positiv ein?
Helfen Sie anderen, ihre guten Seiten zu zeigen!
Jeder strebt danach, von möglichst vielen Menschen positiv gesehen zu werden. Und wie erreichen Sie, dass andere Menschen Sie positiv einschätzen, Sie als Person respektieren, auch dann, wenn Sie gegenteiliger Meinung sind, einem konkurrierenden Unternehmen oder einer anderen Partei angehören?
Es führt kein Weg daran vorbei: Man muss kontinuierliche Selbstentwicklung hin zur Persönlichkeit betreiben, wenn man als Person geachtet werden will. Denn nur dann gewinnt man unabhängig von Ämtern, die man innehat, und Mitgliedschaften in renommierten Vereinigungen, Selbstbewusstsein und Souveränität. Dann wird unser Wohlwollen nicht als gönnerhaft und aufgesetzt wahrgenommen. Selbstbewusstsein aufgrund von Lernfähigkeit verbirgt nicht, dass jeder unvollkommen ist und sich irren kann.
Die Menschen, mit denen wir zusammen leben, können wir uns als Kind überhaupt nicht und als Erwachsener nur eingeschränkt aussuchen. In unsere Familie werden wir hineingeboren. Die Kollegen am Arbeitsplatz sind vorgegeben. Unsere Nachbarn finden wir vor. Nur unsere Freunde können wir auswählen.
Streben Sie danach, sich in Ihrem Personenumfeld wohl zu fühlen. Das gelingt am ehesten, wenn Sie grundsätzlich darauf aus sind, die sympathischen Seiten der Sie umgebenden Menschen zu erkennen. Niemand ist ganz und gar unsympathisch, niemand hat ausschließlich unangenehme Seiten. Manchem muss man allerdings dabei helfen, seine guten Seiten zu zeigen.
Sein Personenumfeld erfassen und ordnen
Um sich über sein Personenumfeld Klarheit zu verschaffen, ist es dienlich, ein Tableau zu erstellen. Schreiben Sie die Namen der Menschen Ihres Lebensumfeldes auf. Schreiben Sie alle Namen, ähnlich wie bei einer Mindmap, auf; und Ihren eigenen Namen schreiben Sie in die Mitte des Blattes oder Bogens. Lassen Sie dabei genügend Platz für Anmerkungen zu jedem Namen. Vermerken Sie, welche der folgenden Charakterisierungen Ihnen zu den einzelnen Personen einfallen:
- lebt Menschen zugewandt,
- konzentriert sich vorwiegend auf Sachverhalte,
- ist immer und zu jedermann freundlich,
- man kann sich hundertprozentig auf ihn verlassen,
- gibt sich zumindest anfänglich sehr verschlossen,
- ist starken Stimmungsschwankungen unterworfen,
- macht alles sehr gründlich und genau,
- ist sehr hilfsbereit,
- hat immer ein Problem,
- stiehlt anderen die Zeit,
- ist immer zu einem Scherz aufgelegt …
Ergänzen Sie mit eigenen Kennzeichnungen!
Nehmen Sie anschließend für jede Person ein Blatt Papier und beschreiben Sie ausführlich die einzelnen Personen. Kennzeichnen Sie außerdem mit ein paar Worten, welches Verhältnis Sie zu den aufgeführten Menschen haben.
Beantworten Sie danach die folgenden drei Fragen:
- Bei wem fällt es mir leicht, mich wohlwollend zu verhalten?
- Zu wem würde ich den Kontakt gerne abbrechen?
- Was für Menschen vermisse ich in meinem Umfeld?
Dieses Tableau empfehle ich Ihnen, weil Sie sich so klar machen können, in welchem Personengeflecht sie leben und welche Einflüsse von daher auf Sie einwirken. Es liegt an Ihnen, wie Sie sich in dieses Bezugssystem einbringen und welchen Einfluss Sie Ihrerseits ausüben. Wenn Sie zu der Einsicht kommen, dass Ihr Umfeld Sie nicht fördert, sondern runter zieht oder unten hält, versuchen Sie mutig, klug und zielstrebig in ein anderes Umfeld zu gelangen oder sich ein neues aufzubauen. Trennen Sie sich von Menschen, die Sie in Ihrer Entwicklung behindern.
Suchen Sie die Nähe von Menschen, die Ihnen wohlgesonnen sind, die Ihre Persönlichkeitsentwicklung unterstützen und ein Milieu des Vertrauens und des Einstehens füreinander ermöglichen. Versuchen Sie Ihrerseits für andere Menschen in gleicher Weise zu wirken: in Freundschaften, in der Nachbarschaft, in der Familie, in der Arbeitsgruppe, im Verein – wo immer Sie mit anderen Menschen zusammen sind. Werden Sie zu einem Quell wohlwollenden Zusammenlebens!
Wohlwollen bewährt sich im Konfliktfall
Wohlwollen drückt sich aus in Gedanken, Worten und Taten. Auf seine Gedanken nimmt man Einfluss durch Nachdenken – im Dialog mit sich selbst. Dazu gibt es kein besseres Mittel als das Führen eines Tagebuchs, sowohl als Ereignistagebuch wie auch als Erkenntnistagebuch. Wie das geht, ist in Kapitel 9 dieses Buchs beschrieben.
Aus der gedanklichen Verarbeitung der Lebenseindrücke formt sich unsere Lebenseinstellung und unser Menschenbild. Beide werden durch ständig neue Erlebnisse und Erfahrungen immer wieder infrage gestellt. Nachdenken ist ein ständiger Prozess.
Wer nicht alles wegfiltert oder sich zurecht biegt, was seinen Anschauungen widerspricht, kommt mehr und mehr in die Erkenntnissphären, die ihn zu höheren und ausdifferenzierten Einsichten bringen. Eine grundlegende Einsicht ist: Negative Einstellungen, Worte und Taten seinen Mitmenschen gegenüber machen krank und führen in die Vereinsamung, Wohlwollen indes weckt und befördert das, was jeden von uns aufblühen lässt.
Keiner kann die Gedankenwelt, in der er lebt, auf Dauer verstecken. Im Laufe der Jahre drückt sie sich nicht nur in dem aus, was wir sagen, sondern auch in unseren permanenten non-verbalen Äußerungen: in unserem Gesichtsausdruck, in unseren Augen, in Mimik, Gestik, Körperhaltung, Gang. Man sollte ein Mensch sein, der Freude ausstrahlt!
So paradox es auch klingen mag: Wahres Wohlwollen zeigt sich am deutlichsten in Konfliktsituationen. Die Devise: Freundlich bleiben und selbstbewusst handeln. Suaviter in modo, fortiter in re — so ein Ratschlag aus römischer Zeit. Wohlwollen ist kein Schönwetterverhalten nach dem Motto “Frieden, Freude, Eierkuchen”. Aber es hilft gegen Vorurteile, Intoleranz und Hass. Wohlwollen kann entwaffnen!