Kapitel 25
Können Sie allein sein?
Wer mit sich im Reinen ist, hat sich akzeptiert. Er kann ertragen, dass er unvollkommen ist. Für sein Selbstbewusstsein braucht er nicht das ständige Lob von Mitmenschen. Als sein eigener Unternehmer ist er auf Selbstverbesserung bedacht. Zeiten höchster Konzentration und Anstrengung wechseln mit Zeiten der Muße. Seinen Nächsten liebt er wie sich selbst. Weil er sich geliebt fühlt, verfällt er nicht in Einsamkeit. Er kann allein sein.
Kraft aus der Stille schöpfen
Ausgeglichene und standfeste Personen zeigen gleichermaßen Herz und Verstand. Starke Gefühle setzen den Verstand nicht außer Funktion, und der intellektuelle Umgang mit den Anforderungen des Lebens trocknet nicht die Gefühle aus. Solche Menschen sind warmherzig und bewahren doch einen kühlen Kopf. In Gesellschaft bewegen sie sich ungezwungen, genießen es aber auch, allein zu sein.
Den Nächsten lieben sie genauso wie sich selbst. Sie strahlen Ruhe aus. Ihre Kraft schöpfen sie aus der Stille. Sie können schweigen, sind dennoch nicht wortkarg. Sie achten bei allem auf den richtigen Zeitpunkt und die Wahl ihrer Worte und Taten. Von Selbstherrlichkeit ist bei ihnen nichts zu spüren, eher von Bescheidenheit. Denn sie wissen um ihre Unvollkommenheit.
Wer mit sich selbst zurecht kommt, kann seine Unvollkommenheit ertragen. Seine Fehler und Schwächen schiebt er nicht auf andere. Er steht zu seinen Irrtümern und zu seinem Versagen, aber er findet sich nicht damit ab. Statt dessen geht er mit wachen Sinnen und präzisem Denken den Ursachen nach.
Sich und sein Umfeld aus verschiedenen Perspektiven und von unterschiedlichen Standpunkten aus zu betrachten, hat er sich zur Gewohnheit gemacht. Er ist bemüht, Entwicklungen zu Ende zu denken. Unablässig ist er darauf aus, Handlungsabläufe und Verhaltensweisen da zu verbessern, wo es ihm am ehesten möglich ist und die größte Wirkung zeigt: bei sich selbst! Er arbeitet die Tagesereignisse auf und zieht daraus Schlüsse für sich und sein Leben. Nachdenken ist eine seiner Hauptbeschäftigungen. Dazu liebt er es, allein zu sein.
Alles mit Maß und zur rechten Zeit
Ein Unternehmer fragte mich, als ich gerade von einem Urlaub auf Mallorca zurückgekommen war, ob ich nicht eine abgelegene Finca mit ein paar rustikalen Gästezimmern wüsste. Seine Führungsmannschaft müsse einmal ausspannen, müsste zur Ruhe kommen. Kein Seminar, auch keine sportlichen Aktivitäten; vielleicht ein paar Hilfen zum Abschalten, meinte er.
Der Einsicht, dass man zur Ruhe kommen können muss, stimmte ich vorbehaltlos zu. Aber so, wie er sich das dachte – da musste ich ihn enttäuschen. Menschen lassen sich nicht wie Maschinen abschalten. Doch heute gehört es zur Machbarkeits-Atmosphäre von Managern in Führungsetagen zu glauben, Menschen seien als Kunden wie als Mitarbeiter beliebig manipulierbar. Es bedürfe nur der richtigen Arrangements und Beeinflussungstechniken.
Es gibt Mitarbeiter, die sich auf die Lebensperspektive einer Karriere reduzieren lassen. Wer das mit sich machen lässt, läuft Gefahr auszubrennen. Dagegen helfen keine zwei Wochen auf einer entlegenen Finca, sondern nur, sein Leben als sein eigener Unternehmer wahrzunehmen und zu gestalten. Dazu muss man raus aus der von Prestige geprägten Geselligkeit der höheren Etagen – und das heißt: allein sein können.
Maschinen kann man so konstruieren, dass sie dauerhaft Hochleistung bringen. Menschen sind anders geschaffen. Sie brauchen den Wechsel von Anspannung und Entspannung, von konzentrierter Arbeit und erholsamer Ruhe. Wer das über längere Zeit in seinem Tageslauf missachtet, riskiert Leistungsunfähigkeit. Entweder kommt er von seiner Hektik nicht mehr runter, kann er nicht mehr loslassen oder er kommt aus seiner Hängematte nicht mehr raus und versagt, wenn Anstrengung notwendig ist.
Alles mit Maß und zur rechten Zeit zu tun, gehört zu den Aufgaben des Selbstmanagements. Die Voraussetzungen für Höchstleistungen schafft, wer sich auspendeln kann. Denn er versteht es, Kraft zu sammeln und auf ein Ziel auszurichten.
Zur Ruhe kommen, Stille ertragen, abschalten, loslassen, entspannen und zu sich selbst finden, mit sich etwas anfangen können – dazu muss man mit sich ins Reine kommen. Kein Verdrängen, kein Selbstbetrug, kein Weglaufen, kein Abtöten. Ehrlich zu sich sein! Dabei kann einem niemand helfen. Jeder muss das alleine schaffen, wenn er nicht fremdgesteuert, sondern als Herr seiner selbst leben will.
Beschreiben Sie Ihren Lebensweg!
Unser Leben vollzieht sich nicht auf einem Platz, sondern auf einer Straße. Wie ein Fluss Ufer hat, so hat unsere Lebensstraße, unser Lebensweg Bordsteine. Dieser Weg verläuft durch Raum und Zeit. Die Ränder wie der Verlauf sind teils vorgegeben, teils von uns selbst bestimmt. Sie bestimmen die Bandbreite unseres Denkens und Handelns. Die Lebensumstände und unsere Lebensgestaltung bestimmen in einem Wechselspiel unser Leben. Auf welchem Lebensweg befinden Sie sich? Nehmen Sie sich nach dem Lesen dieses Kapitels die Zeit, ihn so ausführlich wie möglich zu beschreiben!
An den Rändern unseres Lebensweges stehen Merktafeln. Sie erinnern uns an die großen Ereignisse wie Schulabschluss, Auszug aus dem Elternhaus, Start in den Beruf, Familiengründung; oder auch an Schicksalsschläge, die unserem Leben eine andere Richtung gegeben haben. Es gibt an den Rändern auch Schilder, deren Aufschriften sich öfter wiederholen.
Die Aufschriften links und rechts stehen zueinander in einem Sinnzusammenhang, sie bilden gleichsam Pole, zu denen wir uns wechselweise aus der Mitte des Weges jeweils hinbewegen. Solche Pole kennzeichnen Situationen und Gefühle: allein – gesellig, Trauer – Freude, aktiv – passiv, Stärke – Schwäche, laut – leise. Es gibt viele weitere Pol-Paare.
Das Pendeln zwischen den Polen ist wichtig. Denn nur so schafft man den Ausgleich zwischen seinen Gefühlen, seinem Denken und Handeln. Wer bei dem einen oder anderen Pol zulange verweilt, verliert das Gefühl für die Mitte seines Lebensweges. Immer nur Freude erleben zu wollen, führt in die Sucht. Als freudiger Mensch auch trauern können, hält einen auf der Bahn des Lebens.
Zur Ruhe kommen und überlegen
Um auf seinem Lebensweg nicht außer Atem zu geraten und schlapp zu machen, muss man sich fit halten und auf die richtige Ausrüstung achten. Das kann jeder nur für sich selbst tun. Man kann sich Ratschläge holen und beobachten, was andere wie tun. Doch für sich daraus die Nutzanwendungen ziehen, das kann jeder nur für sich allein. Daher sagt man zu Recht: Das muss ich mir in Ruhe überlegen. Also muss ich erstens zur Ruhe kommen und zweitens überlegen. Zur Ruhe kommen heißt:
- innehalten,
- seinem Körper und seinem Geist jegliche Anspannung nehmen,
- Stille einkehren und die Gedanken ausschwingen lassen,
- mehr und mehr in sich hineinfühlen und spüren, wie sich Wohlbefinden ausbreitet.
Man muss das nicht wie ein Fakir auf einem Nagelbrett machen, sondern kann zu ein paar atmosphärischen Hilfen greifen. Solche Hilfen sind:
- ein Entspannungsbad,
- Kerzenlicht,
- ein Ruheplatz in der Natur,
- ein bequemer Sessel in der Dunkelheit eines nächtlichen Zimmers,
- eine Kirchenbank.
Überlegen heißt:
- aus der Ruhe heraus das Thema oder den Gegenstand hochholen, über den es nachzudenken gilt;
- sich Thema oder Gegenstand intensiv vergegenwärtigen und mit Fragen umkreisen;
- verschiedene Annahmen auf ihre Voraussetzungen und Konsequenzen hin durchdenken und
- konzeptionelles Zusammenführen der verschiedenen Gedanken.
Jeden Tag mit einem Rückblick abschließen
Es wird eine Fülle von Dingen angeboten, von denen Ihnen versprochen wird, dass Sie Entspannung finden. Das ist alles solange kaum mehr als Firlefanz, als Sie selbst nicht in der Lage sind, aus Ihrem Innern heraus zur Ruhe zu kommen. Lassen Sie vor dem Schlafengehen Ihren Tag ausklingen! Um ihn abzuschließen, dient ein Tagesrückblick:
- Was hat Ihnen Freude bereitet? Was Ärger?
- Welche Dinge konnten Sie erledigen?
- Was für Ideen sind Ihnen gekommen?
- Wem haben Sie womit einen Dienst erwiesen, eine Freude bereitet?
Wenn Sie sich diese und andere Fragen nicht nur durch den Kopf gehen lassen, sondern die Antworten in einem Tagebuch aufschreiben, gleichsam von der Seele schreiben, finden Sie zu sich selbst, nehmen Sie nicht alles, vor allem nicht alles, was Sie bedrückt, mit in den Schlaf. Lenken Sie Ihre Empfindungen mehr und mehr auf die Personen und die Dinge, die Ihr Leben bereichern.
Sonntage waren früher einmal allgemeine Ruhetage. Doch heute sind sie voller sogenannter Events, von denen suggeriert wird, man müsse dabei gewesen sein. Lassen Sie sich von der allgemeinen Freizeit-Hektik nicht anstecken! Was nicht heißt, alles außen vor zu lassen. Aber seien Sie wählerisch! Man muss nicht bei allem dabei gewesen sein und nicht immer gesehen werden. Nehmen Sie sich am Wochenende Zeit, in der Sie ganz sich selbst gehören! Nachdenken. Träumen. Lesen. Musik. Wandern.
Sich sein Wissen vergegenwärtigen
Der Beziehung zu anderen Menschen tut es gut, wenn man einander nicht dauernd auf der Pelle hängt. Über das, was Ihnen in den Sinn gekommen ist, sollten Sie sich dann allerdings austauschen. Das Pendeln zwischen den Polen “allein – gesellig” sorgt dafür, dass Sie einerseits nicht abständig und andererseits nicht unselbständig werden. Beides zu seiner Zeit und im richtigen Maß!
Im richtigen Maß heißt:
- keine Zeit vergeuden und
- alles als Bereicherung anlegen.
Die Teilnehmer der SINNphOLL-Seminare kennen die Methode, Einzel- und Gruppenarbeit miteinander wechseln zu lassen. Erst wenn die Teilnehmer sich ihr Wissen und ihre Erfahrungen zum Thema einer Aufgabenstellung in Einzelarbeit bewusst gemacht und aufbereitet haben, wird die Arbeit in der Gruppe anregend und intensiv, kommt es zu zielorientierter Gruppendynamik und Synergieeffekten. Diese Methode kann man sich auch bei der Selbstverbesserung zunutze machen: Immer erst damit beginnen, sein Vorwissen sich zu vergegenwärtigen.
Kinderfeindliche Erwachsenenwelt
Kinder: Sie werden ständig beaufsichtigt, damit ihnen nichts zustößt. In der Kita müssen sie sich in eine Gruppe einfügen. Unablässig wird mit ihnen etwas unternommen. Auf eigene Faust etwas entdecken, ist so gut wie unmöglich. Mit der Schule beginnt der Stress. Noch schärfere Disziplinierung als in der Kita. Sport, Musik und andere Aktivitäten kommen hinzu.
Denn Eltern halten das alles für förderlich, um die Entwicklung ihrer Kinder zu gesunden und lebenstüchtigen Menschen zu befördern, sie wollen möglichst viele Chancen eröffnen. Sie haben Recht – aber wann soll man das alles schaffen? Der Sohn einer Bekannten hat sich neulich aus seiner Kitagruppe davongestohlen. Als sein Fehlen entdeckt wurde: helle Aufregung, große Suchaktion. Gefunden hat man ihn im Außengelände, wo er sich versteckt hatte. Er wollte endlich einmal für sich allein sein!
Es gibt auch das Gegenteil dieser permanenten Beaufsichtigung und der Überreizung kindlicher Aufnahmefähigkeit: Verwahrlosung. Manchen Paaren sind ihre Kinder lästig, sie stören. Man überlässt sie sich selbst, setzt sie vor den Fernseher. Ihr Alleinsein erfahren diese Kinder als Ausgestoßensein, als Einsamkeit.
Haben Sie Angst vor Langeweile?
Kinder, die über- oder unterfordert werden, versuchen meistens, sich in eine Gruppe Gleichaltriger zu retten. Manche entwickeln sich hingegen zum Einzelgänger. Wie auch immer: Die Unfähigkeit, die Pole “allein – gesellig” wie die gleichmäßigen Schwünge eines Skiläufers auf unserem Lebensweg aneinander zu reihen, wird bei vielen Menschen schon in Kindheit und Jugend verursacht.
Spätestens als junge Erwachsene sollten wir unsere nunmehr gewonnene Freiheit dazu nutzen, uns Zeiten des Alleinseins zu schaffen, in denen wir auspendeln, Kraft schöpfen, mit uns ins Reine kommen, Eindrücke und Erfahrungen aufarbeiten, uns neu ausrichten und zu letzten Fragen vordringen wie:
- Welche Menschen sind für mich Vorbilder?
- Was möchte ich aus meinem Leben machen?
- Was will ich in mir verbessern?
- Was bin ich bereit, auf mich zu nehmen?
- Wovon möchte ich mich befreien?
Wer diesen Fragen in stillen Stunden nicht nachgeht und sein Denken nicht um seinen Lebenssinn kreisen lässt, der läuft Gefahr, nie der Unternehmer seines Lebens zu werden. Statt dessen wird er von anderen Menschen hin und her geschubst. Ein solcher Mensch ist einsam, auch wenn er unter Menschen ist. Er buhlt um Zugehörigkeit, aber geduldet wird nur sein Dabeisein.
Jeder muss sich der Frage stellen: Wonach richtest Du Dein Leben aus? Nach der Anerkennung durch andere? Wenn die Anerkennung anderer den Lebensweg bestimmen, dann lebt man fremdgesteuert. Man findet nicht zu sich selbst. Das Leben wird zu einer Flucht mittels Betriebsamkeit. Radio, Fernsehen und Smartphone werden gebraucht, um sich fortwährend abzulenken. Betäubt wird das Gefühl eigener Unzulänglichkeit. Es herrscht Angst vor Langeweile. Wer Angst vor Langeweile hat, hat Angst vor sich selbst!
Jeder braucht Familie
Single-Gesellschaften, in denen Familien zum Überleben beziehungsweise zur Erlangung von Wohlstand aufgrund staatlicher Fürsorge mehr oder weniger entbehrlich geworden sind, laufen Gefahr, der Sucht nach Spaß, nach Euphorie zu verfallen. Es wird dem Staat überlassen, für Erziehung und Berufsausbildung zu sorgen, Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Berufsunfähigkeit abzusichern und Versorgung und Pflege im Alter bereit zu stellen.
Die Wirtschaft, Organisationen und Behörden bieten Arbeitsplätze und damit Einkommen. Wozu noch Familie? Die seit Jahren zunehmende Zahl der Einpersonenhaushalte zeigt: Viele Menschen glauben, Familie nicht nötig zu haben.
Familie braucht aber jeder. Nicht im Sinne einer Gemeinschaft, die größtmöglichen Wohlstand schafft, sondern im Sinne einer emotional miteinander verbundenen Lebensgemeinschaft. Nur so wird den einzelnen Mitgliedern die Sicherheit gegeben, sowohl als Individuum als auch in der Gemeinschaft des Generationenverbunds Wertschätzung und Liebe zu erfahren.
Lebenssicherheit gebende emotionale Bindungen, die auch Schicksalsschläge aushalten, verlangen eine Organisationsform, wie sie in den Klein- und Rumpffamilien von heute nicht mehr ausreichend gegeben ist. Die Inanspruchnahme von Männern und Frauen in ihrer beruflichen Rolle als Einzelner rangiert bei vielen Paaren vor der Wahrnehmung familiärer Aufgaben und Pflichten.
Nicht wenige Männer zeigen sich mittlerweile als Väter mehr oder weniger familienuntauglich und flüchten. Viele Frauen sind der Zerreißprobe Beruf und Familie nicht gewachsen und geben dem Beruf den Vorzug. Manche Menschen sind sogar schon unfähig, überhaupt eine belastbare Beziehung einzugehen, sie sind ehe- und familienuntauglich.
Werden Sie geliebt?
Es gibt Politiker, die glauben, mit staatlichen Mitteln den Rückgang der Familien aufhalten zu können. Aber das ist kein Problem, das sich mit Geld und Paragraphen lösen lässt. Familien können nur gedeihen und den Generationenverbund erhalten, wenn sie Liebesgemeinschaften sind. Kinder, aus Liebe gezeugt, sind Teilhabe an der Schöpfung. Das liegt außerhalb jeglicher Staatsmacht. Gesellschaften, deren Mitglieder um ihres Wohlstands willen die Familie aufgeben, geben sich selber auf. Mit Betriebsamkeit und Zerstreuung überdeckte Einsamkeit breitet sich aus. Allein sein kann, wer von Liebe getragen ist.