Kapitel 26
Was im Zusammenleben unerlässlich ist:
gemeinsame Werte
Den Meinungsforschern haben insbesondere die jüngeren Arbeitnehmer in den späten 80er Jahren den Eindruck vermittelt, dass sie bei der Arbeit Spaß haben möchten, dass es ihnen um Lebensfreude, Selbstverwirklichung, Wohlfühlen, Kontakte, Zwanglosigkeit geht. Pflicht und Unterordnung, Fleiß und Leistungsdruck, Ordnung und Arbeitssystematik wurden als überholt angesehen. Mit der 35-Stundenwoche ging die Sonne auf. Vom Wertewandel war die Rede.
Das mag sich mittlerweile schon wieder etwas geändert haben. Unabhängig vom Zeitgeist gilt: Eine Gesellschaft braucht Werteorientierung. Spaß, Freude, Wohlbefinden, Geselligkeit, Spontaneität – schön und gut, aber da gibt es noch einiges mehr. Was ist mit Genauigkeit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Ausdauer, Verantwortung, Initiative, Flexibilität? Kunden verlangen Qualität und Termintreue.
Wir verlangen für unser Geld eine adäquate Ware oder Dienstleistung, die unseren Qualitätsansprüchen genügt. Wir möchten, dass die Züge pünktlich fahren, der Taxifahrer sofort kommt, Piloten ihre Arbeit fehlerfrei verrichten, in der Autowerkstatt ohne Pfusch gearbeitet wird, Ärzte dem hohen ethischen Anspruch ihres Berufes gerecht werden.
Welche Moral gilt für unser aller Handeln?
Beispiel: Da ist ein Kollege, der gelegentlich krankfeiert. Sie wissen das. Nun wird ihm vorgeworfen, er sei während seines letzten Krankfeierns in einem Baumarkt gesehen worden. Er bittet Sie, ihm ein Alibi zu bezeugen, das es nicht gibt. Tun Sie ihm den Gefallen?
Oder: Sie sind Maschinenführer in einer Druckerei. Nachdem bereits ein Drittel der Auflage eines zu druckenden Plakates durch die Vierfarbmaschine gelaufen ist, entdecken Sie einen Fehler, den man allerdings nur bei genauem Hinsehen bemerkt. Lassen Sie weiterlaufen – nach dem Motto “Merkt doch keiner” – oder drucken Sie neu? Auch wenn das Ärger mit Ihrem Chef wegen der zusätzlichen Kosten und des Zeitverzugs geben wird?
Disziplinierte Arbeit einerseits und Freude an der Arbeit andererseits – das schließt sich nicht aus. Man muss dazu die Werte nicht wandeln, sondern nur beide Seiten der Medaille sehen. Dann sieht man den Zeitdruck, die Qualitätsvorgaben, die Anstrengung und den Schweiß, aber auch die Freude, diesen Ansprüchen gewachsen zu sein.
Das Schlaraffenland gibt es nicht. Die Politiker, die es in dieser Welt zur Wirklichkeit machen wollten, haben das Gegenteil erreicht. In dem bisschen Speck, der schließlich noch übrig war, lebten nur die Funktionäre wie die Maden.
Lassen Sie sich nicht das Rückgrat brechen!
Ohne Werteorientierung können Sie keine eigenständigen Entscheidungen treffen. Weder für sich selbst noch für andere. Deshalb: Welche Werte sind für Sie maßgebend? Wer sich dieser Frage nicht stellt, gibt sich in seinem Verhalten der Außensteuerung durch seine Umwelt preis: Er verhält sich entsprechend dem Milieu, in dem er lebt, er richtet sich nach dem herrschenden Zeitgeist.
Was Anerkennung bringt und was das warme Gefühl des Dazugehörens gibt, das bestimmt Denken, Reden und Handeln. Je nach politischer und gesellschaftlicher Wetterlage: Gestern KZ-Aufseher, heute eifrige Blockpfeife. Und vor den Gerichten zur Bestrafung von NS-Verbrechen wird zu Protokoll gegeben, nur ein kleiner Mitläufer gewesen zu sein. Hier zeigt sich fremdbestimmtes und nicht selbstbestimmtes Leben: Mitläufer.
Mit seinem Tun und Handeln sollte man vor sich selbst bestehen können. Das Bestreben, die Anerkennung anderer zu finden und sich deren Meinung zu eigen zu machen, ist verantwortungslos. Bequemlichkeit und Feigheit stecken dahinter. Die Bequemlichkeit, sich nicht selbst mit den Herausforderungen des Lebens auseinander zu setzen, und die Feigheit vor Konflikten, sowohl mit sich selbst als auch mit den Mitmenschen.
Als Erwachsener verantwortlich leben heißt im Gegensatz dazu: einen persönlichen Standpunkt gemäß moralischer Werte haben. Dann kann ich vor mir selbst bestehen, vor meinem Gewissen. Wenn meine persönliche Werteorientierung mit der meines Arbeitgebers nicht vereinbar ist, bleibt nur die Kündigung.
Woher nehmen Sie Ihre Entscheidungskriterien?
Versetzen Sie sich in folgende Situation: Sie sind Abteilungsleiter. Ihr Unternehmen muss Personal abbauen. Der Chef hat Ihnen vorgegeben, dass Sie sich von zwei Mitarbeitern trennen müssen. Sie sollen ihm diese vorschlagen. Fünf Mitarbeiter kommen infrage. Ihre Kurzcharakteristik:
G.H.: durchschnittlich qualifiziert, nicht belastbar, Familienvater, würde vermutlich zumindest vorübergehend arbeitslos.
S.P.: weiß aufgrund seiner langen Betriebszugehörigkeit sehr viel, arbeitet langsam, redet viel, Kinder sind schon erwachsen, würde wegen seines Alters kaum noch eine neue Stelle finden.
N.T.: überdurchschnittlich qualifiziert, aber starke Leistungsschwankungen, keine Familie, teure Hobbys, hätte schnell eine neue Stelle.
A.D.: hat immer gute Laune, hin und wieder unterlaufen ihm schwerwiegende Fehler, zur Übernahme auch unangenehmer Arbeit bereit, Chancen am Arbeitsmarkt vermutlich gering.
F.W.: überdurchschnittlich leistungsfähig, aber eigenwillig und oft unkollegial, informiert nicht, schweigsamer Typ, Arbeitsmarktchancen schwer zu beurteilen.
Welche zwei Mitarbeiter werden Sie vorschlagen?
Verantwortliches Handeln sowohl Ihrerseits wie von Seiten der Unternehmensführung würde sich zeigen, wenn Werte formuliert sind und entsprechende Richtlinien als Entscheidungshilfen vorliegen. Beispielsweise:
- Jeder Mitarbeiter ist für seine fachliche Kompetenz ebenso wie für sein Sozialverhalten selbstverantwortlich. Das Unternehmen gibt dazu Anstöße und Hilfestellung. Es gibt ein Beurteilungssystem und Zielvereinbarungen.
- Das Unternehmen nutzt die verschiedenen Möglichkeiten des Arbeitsmarktes und der Organisationsentwicklung, um seine Beschäftigungsmöglichkeiten der Auftragslage entsprechend flexibel handhaben zu können.
- Kündigungen werden nur ausgesprochen, wenn ein Mitarbeiter seiner Selbstverantwortung nicht genügt und Markteinbrüche und Marktveränderungen nicht ohne Gefährdung des Gesamtunternehmens aufgefangen werden können.
Worauf es ankommt: Die moralischen Kategorien, nach denen gedacht, geredet und gehandelt wird, müssen allgemein verbindlich erarbeitet und festgelegt, transparent und konsequent angewendet und von allen – besonders von den Führungspersonen – gelebt werden. Dann können Sie als Vorgesetzter verantwortlich handeln. Sowohl die einzelnen Firmenmitglieder als auch die Gemeinschaft aller im Unternehmen Beschäftigten brauchen eine übereinstimmende moralische Ausrichtung. Die stellt sich nicht von alleine heraus, sondern muss geschaffen und erhalten werden.
Toleranz und Solidarität
Das Zusammenleben von Menschen lässt sich auf Dauer nur dann einigermaßen frei von belastenden oder gar zerstörerischen Auseinandersetzungen halten, wenn die Maßgaben von Toleranz und Solidarität in einem ausbalancierten Verhältnis zueinander stehen. Toleranz und Solidarität bedingen einander. Beide können sich zum Wohle des einzelnen in Gemeinschaft mit anderen entfalten, wenn sie nicht gegeneinander ausgespielt werden, die Toleranz nicht zu Lasten der Solidarität gelebt wird und umgekehrt.
Solidarität, die sich auf Kosten der Toleranz breit macht, schränkt die individuelle Freiheit ein, wird zum Gemeinschaftszwang, führt zur Unfreiheit des von Funktionären beherrschten Kollektivs. Toleranz, die auf Kosten der Solidarität in Anspruch genommen wird, zersetzt die Gemeinschaft, führt zur Diktatur der Stärkeren.
Toleranz und Solidarität sind Schlüsselbegriffe, die von Ideologen derart missbraucht worden sind, dass sie kaum noch vorurteilsfrei benutzt werden können. Sie dienten und dienen immer noch als Kampfbegriffe. Beispielsweise wird die Solidarität der Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber beschworen; zu Toleranz wird in der Regel von denen aufgerufen, die ihren eigenen Vorstellungen und Aktionen mehr Geltung verschaffen wollen. Beides schädigt Gemeinschaft.
Dennoch sind die beiden Begriffe für den Wertehorizont von Gemeinschaften wie Familie, Volk, Nation, Unternehmen und anderen nicht zu entbehren. Toleranz und Solidarität müssen deshalb mit neuer Verbindlichkeit ihre ursprüngliche Wirkkraft zurückerhalten. Das geht nur über die täglich gelebte und entsprechend dem Begriffspaar gestaltete Wirklichkeit.
Freiheit leben in Verantwortung für seine Mitmenschen
Die Weisheit einer Gesellschaft spiegelt sich darin, wie im Zusammenleben der Individuen Solidarität und Toleranz dazu führen, Gemeinschaft zu stiften und zu erhalten – Gemeinschaft, die jedem seine Freiheit in Verantwortung den anderen gegenüber lässt und die den Frieden zum Wohle aller bewahrt. Das ist wie in großen Familien: Es gibt Konflikte, doch das Begriffspaar sorgt dafür, dass es zu keinem “Bürgerkrieg” kommt. Denn man weiß: Zum Überleben braucht man einander.
Jeder Mensch lebt in mehreren Gemeinschaften mit unterschiedlichem Bindungsgrad. In einige Gemeinschaften wird man hineingeboren: Familie, Volk, Religionsgemeinschaft, Milieu. Im Laufe seines Lebens kann man die eine oder andere Gemeinschaft wechseln und neue hinzuwählen: Arbeitskollegen, Nachbarn, Freundesgruppen. Jede dieser Gemeinschaften hat ein anderes Toleranz-Solidaritäts-Gefüge, entsprechend den verschiedenen Zielsetzungen, Interessen und Traditionen.
Allen gemeinsam sein sollten die sogenannten Grundwerte, an denen sich fest macht, was an Individualität zu tolerieren und was in Verantwortung füreinander an Egoismus auszuschließen ist. Gereifte Gesellschaften haben in ihrer Organisationsform als Staat ihre Grundwerte in einer Verfassung nicht nur formuliert, sondern bringen sie im Zusammenleben ihrer Bürger tagtäglich zum Ausdruck. Und Demagogen finden kein Gehör.
Gemeinsame Grundwerte sind deshalb wichtig, weil die zahlreichen und vielfältigen Gemeinschaften einer Gesellschaft nicht nur nach innen Toleranz und Solidarität üben müssen, sondern Toleranz und Solidarität auch zwischen den Gemeinschaften praktiziert werden muss.
Zwischen vielen Gemeinschaften – Unternehmen, Parteien, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Verbänden, Vereinen – besteht Wettbewerb: um Kunden, um Wähler, Anhänger, sportliche Siege und so weiter. Damit diese selbstverständlichen Auseinandersetzungen nicht zu Feindschaften, zu offenem oder verdecktem Krieg führen, muss das Bekenntnis zu den allen gemeinsamen Werten immer wieder betont und eingefordert werden.
Jeder ist mitverantwortlich für sein Lebensumfeld
Wer die “Allgemeine Erklärung der Menschenrechte”, die am 10. Dezember 1948 durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, heute liest, der hat angesichts der täglichen Nachrichten über das Geschehen in der Welt nicht viel Grund zur Freude. Denn man gewinnt den Eindruck, dass die Verwirklichung der Menschenrechte eher auf dem Rückzug als auf dem Vormarsch ist.
Artikel 1 der insgesamt 30 Artikel der Menschenrechts-Erklärung lautet: “Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.”
Das Wehklagen darüber, dass vielen ungeborenen Menschen bereits Würde und Rechte genommen sind und die geborenen zwar vielfach ihre Vernunft gebrauchen, aber sich dabei gewissenlos verhalten und Brüderlichkeit vermissen lassen – das darf nicht die Verpflichtung eines jeden von uns verdrängen, sich unablässig und aktiv für die Menschenrechte einzusetzen, sie zur Richtschnur für das eigene Verhalten zu machen.
In vielen grundlegenden Dokumenten sind die Menschenrechte formuliert worden; sie sind eingegangen in die Verfassungen vieler Staaten und maßgebend für Staatengemeinschaften wie die Europäische Union. Auch wurden Institutionen wie Gerichtshöfe geschaffen, um Vergehen gegen die Menschlichkeit bestrafen zu können. Aber man hat nicht den Eindruck, das habe viel bewirkt.
Dennoch darf man all dieses Bemühen nicht gering schätzen, sondern es sollte vielmehr jeder sein eigenes Bemühen verstärken. Wir alle sind mitverantwortlich für das Umfeld, in dem wir leben. Die 10 Gebote sind nicht deshalb hinfällig, weil die Hälfte von ihnen beiseite geschoben worden ist und gegen die restlichen Gebote immer wieder verstoßen wird.
Gemeinsame Wertevorstellungen entwickeln und pflegen, folgt der uralten Erfahrung der Menschen, dass sie nur als Gruppe überleben können. Sich gegenseitig bestehlen, belügen, töten, misshandeln, missachten, unterdrücken führt zum Untergang. Die Formulierung der Menschenrechte und der Versuch, sie weltweit durchzusetzen, ist das Verständnis der Menschheit als einer Gemeinschaft, deren Überleben auf dem Spiel steht.
Katastrophen wie der Zweite Weltkrieg befördern diese Einsicht. Doch diese hat sich in den vergangenen Jahrzehnten wieder verflüchtigt. Ob die Klimaveränderung ein neues Gefühl von Völkergemeinschaft wachrufen kann, das zu gemeinsamem Handeln führt, ist ungewiss.
Der Staat als Garant der Grundwerte
Aufgabe der staatlichen Führung ist, den Bürgern Sicherheit in ihrer Werteorientierung zu geben. Freiheit, Würde, Frieden. Leben und Eigentum müssen beispielsweise ausreichend geschützt sein, die Früchte von Arbeit und Leistung dürfen nicht abkassiert und Initiative sowie Risikobereitschaft nicht aussichtslos gemacht werden.
Der Staat beziehungsweise die ihn tragenden Kräfte sind verantwortlich für die Rahmenbedingungen zur Umsetzung der Werte, die einer Gesellschaft zugrunde liegen. Denn der Staat hat hoheitliche Funktion. Er ist beispielsweise zuständig für die Innere Sicherheit, einen Kernbereich im Zusammenleben der Menschen.
Wirtschaftsabläufe brauchen ethische Grundlagen, die in Gesetzen und anderen Rahmenbedingungen festgelegt sind. Aber man kann nicht alles legislativ regeln. Deshalb gibt es den Grundsatz von “Treu und Glauben”. Politiker, die jedes moralische Fehlverhalten durch Reglementierungen unmöglich machen wollen, erreichen das Gegenteil: Keiner blickt mehr durch; und die Skrupellosen, die Cleveren beherrschen das Feld.
Kommt dann noch zum Vorschein, dass diejenigen, die die Gesetze beschließen und diejenigen, die für ihre Beachtung sorgen sollen, sich haben verführen lassen und korrupt sind, verkommt die Moral einer Gesellschaft.
Da können im Grundgesetz noch so hehre Werte formuliert sein – wenn die Vorbildfunktion von denen, die den Staat repräsentieren, nicht wahrgenommen und ausgefüllt wird, empfinden die Bürger sich als die Dummen und versuchen, sich ihrerseits schadlos zu halten. Schlechte Beispiele verderben gute Sitten. Die Folgen müssen alle tragen.
Die Notwendigkeit ausbalancierter Werte im Handeln des Staates zeigt sich in Formulierungen wie “sozialpflichtiges Eigentum” und “verantwortete Freiheit”, wie sie zur Kennzeichnung der Sozialen Marktwirtschaft – auch eine Balance-Formulierung – benutzt werden. Staaten, die es nicht schaffen, Wertebalance herzustellen und zu erhalten, geraten in einen Prozess der Werteerosion.
Dann zerfällt das Gemeinwesen in Grupierungen, die nach ihrem Gusto ausgewählte Einzelwerte wie “soziale Gerechtigkeit” in den Köpfen der Menschen zu verankern suchen. “Soziale Gerechtigkeit” ist ein demagogischer Kampfbegriff, eine Nebelkerze. Gibt es unsoziale Gerechtigkeit? Oder soziale Ungerechtigkeit?
Mit allen Mitteln moderner Kommunikation wird “Soziale Gerechtigkeit” zur beherrschenden Wertevorstellung gemacht – und soll seine Verfechter in die solchermaßen legitimierten Herrschaftspositionen bringen. Der Wettbewerb der demokratischen Kräfte eines Staates um die Regierungsgewalt ist entartet, wenn es keine allen gemeinsame Grundlage ausbalancierter Werte gibt. Bei allem Streit – wie in einer Familie – muss es einen Wertekonsens geben, der zusammenhält.
Wertevorstellungen entwickeln
Alle, die ihr Leben und damit vor allem ihre Arbeit selbstverantwortlich gestalten wollen, müssen sich mit den Werten beschäftigen, die für sie maßgebend sind. Unabhängig davon, ob sie Selbständige oder Angestellte sind. Auch als Mitglied eines Unternehmens braucht man Rückgrat, wenn man Herr seiner Arbeit sein will und nicht Arbeitskraft. Zur Selbstbestimmung gehört der eigene moralische Standpunkt. Das Gewissen verlangt Konsequenz.
Es kommt deshalb darauf an, sich im Laufe seines Lebens immer wieder Rechenschaft zu geben, warum man sich so und nicht anders verhalten hat. Man muss seine Wertevorstellungen ständig überprüfen und ihnen in seinem Verhalten Ausdruck verleihen. Dann gewinnen sie Leuchtkraft. Anderenfalls kommt man aus dem Dämmerlicht situativen und widersprüchlichen Verhaltens nicht heraus.
Aber woher kommen die Werte, die eine Familie, eine Unternehmensgemeinschaft, ein Volk, einen Staat, die Menschheit zusammenhalten? Und die gleichermaßen jedem einzelnen Lebensorientierung geben? Das ist die Frage nach der Religion und den sinngebenden Institutionen. Den christlichen Kirchen wird der Vorwurf gemacht, in der Wertediskussion zu versagen. Sie hätten keine akzeptablen Antworten für eine gegenwartstaugliche Moral.
Nur eine schwindende Zahl junger Menschen bezieht noch ihre Verhaltensnormen aus der Sinngebung der Kirchen, die dem sogenannten Abendland einmal das Welt- und Menschenbild gaben. Die Mehrheit lebt auf Inseln unterschiedlicher, schwankender und diffuser Wertevorstellungen im Strom der Zeit. Nicht wenige driften als Erwachsene ab in die Esoterik.
Um nicht zum Spielball der Milieus, in denen man sich bewegt, und zur Manövriermasse von Agitatoren zu werden, muss sich jeder um festen Grund und einen verlässlichen Kompass bemühen. Und da könnte es dann doch hilfreich sein, sich mit den in Jahrhunderten erworbenen Erfahrungen der Kirchen und ihrer Aufbereitung für den Alltag zu beschäftigen. Was etwa gemeint ist, wenn von Tugenden wie Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung, von Glaube, Hoffnung und Liebe die Rede ist?
Es gibt Kernfragen, deren Beantwortung für die Art und Weise, wie wir unser Leben führen, wie wir es planen, wie wir es mit Freude und Liebe füllen, wie wir es einsetzen und zu Ende bringen, entscheidend sind. Ich lebe anders, wenn ich an ein Leben nach dem Tod glaube, als wenn ich glaube, mit dem Funktionsende meines Körpers sei auch ich tot.
Moral verlangt Eigenständigkeit
Die Größe von Gemeinschaften reicht von der Zweiergemeinschaft des Paares bis zur Verbundenheit aller Menschen. Dazwischen liegen die unzähligen Varianten von Vereinigungen. Jede Gemeinschaft ist darauf aus, sich ihren Zielen entsprechend zu organisieren. Dazu muss eine aktionsfähige Größenordnung gefunden werden. In der Regel werden Unterteilungen notwendig. Großorganisationen brauchen Strukturen, die Teilungen bis zum einsatzfähigen Team vorort möglich machen.
Das Zusammenleben in den Untergruppen der Gesellschaft – beispielsweise in den Unternehmen – orientiert sich an den Notwendigkeiten erfolgreichen Agierens. Von jedem einzelnen Mitarbeiter werden die entsprechenden fachlichen Qualifikationen verlangt. Außerdem soziale Kompetenz. Die wirkt sich aus in den gruppendynamischen Prozessen der verschiedenen Unternehmenseinheiten. Und sie ist heute mehr denn je für den Unternehmenserfolg ausschlaggebend. Zur sozialen Kompetenz gehört Werteorientierung.
Wir alle neigen dazu, unsere Moralvorstellungen weniger in einem persönlichen Emanzipationsprozess zu entwickeln, als vielmehr dazu, uns den Verhaltensvorstellungen anderer anzuschließen. Das erspart die eigenständige Auseinandersetzung mit Wertevorstellungen, lässt einem die Bequemlichkeit des Drückebergers. Vor sich selbst und den Mitmenschen hat man die Ausrede: Die anderen machen es doch auch so!
Eigenes Fehlverhalten wird mit dem Fehlverhalten anderer Gruppenmitglieder entschuldigt. Man steht auf Seiten der Mehrheit, und die Mehrheit hat immer recht. So stiehlt man sich aus der Verantwortung. Manch einer gibt noch den Hinweis: Was kann ich denn schon gegen die Mehrheit ausrichten? Dem ist zu entgegnen:
- Jeder ist für sein Denken, Reden und Handeln ausschließlich selbst verantwortlich.
- Seiner moralischen Verantwortung wird gerecht, wer die maßgebenden Werte in Eigenständigkeit entwickelt und konsequent nach ihnen handelt.
Den persönlichen Standpunkt finden
Wie entwickle ich Eigenständigkeit? Das Mittel für die “moralische Selbsterziehung” ist das Tagebuch. Stellen Sie sich jeden Abend Fragen wie diese:
- Wem habe ich heute auf die Füße getreten?
- Wem habe ich einen Dienst erwiesen?
- Über wen habe ich warum schlecht geredet?
- Habe ich Freude bereitet?
- Habe ich die Wahrheit zu wessen Nachteil manipuliert?
- War ich feige?
- An wem habe ich meine schlechte Laune ausgelassen?
Wenn Sie durch die Beantwortung solcher Fragen herausgefunden haben, wo die Defizite in Ihrer Entwicklung zu moralisch verantwortlichem Handeln liegen, formulieren Sie Ihre Vorsätze, die Sie in Stichworten auf Karten schreiben. Dazu eignen sich beispielsweise die Rückseiten überholter Visitenkarten. Stecken Sie diese in Jacken‑, Hosen- und Hemdtaschen, so dass Sie immer wieder erinnert werden.
Im neuen Testament können Sie in den Paulusbriefen nachlesen, was den jungen christlichen Gemeinden in Rom und Korinth für ihr Zusammenleben als Verhaltensaufforderungen geschrieben wurde. Dort ist von den unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten die Rede, die jedem gegeben sind und die er in die Gemeinschaft einbringen soll. Paulus ist ganz konkret, beispielsweise:
- “Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung!” (Römer, 12,10)
- “Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden!” (Römer, 12,18)
- “Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit.” (1 Korinther, 13,4–6)
Das sind Sätze, deren Beherzigung unserem Zusammenleben in den unterschiedlichen Gemeinschaften gut tun würde. Es ist unsere Aufgabe, gegenseitige Achtung und geschwisterliche Liebe zu unserer Lebenseinstellung zu machen.