Teil 1
Vorbemerkung
Über Exposé und Treatment erreicht ein Drehbuch seine drehreife Fassung. Ein oder mehrere Autoren haben es geschrieben, Dramaturgen haben es geprüft, Produzent und Verleiher haben sich befragt, ob ein Geschäft darin liegt oder was zu ändern ist, um eines daraus zu machen. Dann erst treffen sich eine Menge Leute im Atelier, den Film zu drehen.
Unter Spöttern erzählt man, daß bei den meisten Filmen das Drehbuch erst nach dem fertigen Film geschrieben werde. Tatsache ist, daß bei vielen Filmen die letzte Drehbuchkorrektur mit dem Schneiden der letzten Filmmeter zusammenfällt. Trotzdem dürfte der von Kritikern oft aufgestellte Grundsatz Gültigkeit haben, nachdem kein Film besser wird als sein Drehbuch.
Damit ist auf der einen Seite gesagt, daß das Drehbuch eines Films nicht wie von einem Orchester Note für Note von der Partitur gespielt wird, sondern daß die persönliche Einflußnahme der am Filmschöpfungsprozeß Beteiligten je nach der zugeteilten Aufgabe und ihrer Wahrnehmung eine gewisse Variationsbreite einnimmt, die auf der anderen Seite durch die im Drehbuch festgelegte Konzeption der Stoffgestaltung jedoch ihre Grenzen erfährt.
Es ist Unsinn zu behaupten, ein Kriegsfilm könne während der Dreharbeiten, etwa weil es dem Regisseur oder dem Produzenten besser gefällt, auf einen Revuefilm umgestellt werden. Man wird auch die dramaturgische Grundkonstruktion eines Films nicht mehr umstoßen. Änderungen dagegen wird die jeweilige Ausgestaltung, das Wie einer Szene erfahren. Hier ist der Aufgabenbereich des Regisseurs, in dessen Wahrnehmung er dem Film seinen Stempel aufdrücken kann.
In dem Maße, wie er alle am Entstehungsprozeß beteiligten Faktoren seiner Idee vom Drehbuch unterzuordnen vermag, wird der Film seinen Stil zu erkennen geben. Der französische Filmregisseur René Clair äußerte in einer Unterhaltung auf die Frage nach seiner Dekorgestaltung, daß er grundsächlich alles im Atelier aufnehme, um auch das geringste Detail beeinflussen, verändern zu können. Dennoch bleibt für den Regisseur wie für alle Mitwirkenden bei der Produktion eines Films das Drehbuch Grundlage und Richtschnur.
Die Änderungen, die eine Filmidee bis zu ihrer endgültigen Fixierung auf einer Vorführkopie erfährt, und die, wie gezeigt, nicht von einer Person, sondern von einer Vielzahl vorgenommen werden, sind für den Zuschauer nicht zu erkennen. Und doch: Von Gründen der Dramaturgie über die Bedingungen der Technik, der Kalkulation zu denen des Wetters, von den Vorstellungen, Anschauungen und Erfahrungen der Teammitglieder, vor allem des Regisseurs, des Kameramanns, des Cutters und der Hauptdarsteller, bis zu den Verrichtungen des letzten Beleuchters findet alles seinen sichtbaren Niederschlag.
Zahllose Aktionen, hervorgerufen durch eine Fülle von mit dem Filmstoff sich beschäftigenden Gedanken, finden ihre Konservierung auf einer Vorführkopie. Diese Aktionen, sich gründend auf Interaktionen, verschmilzen zu einem Produkt, das sich nur noch sehr begrenzt anteilig auf die Teammitglieder wieder zerlegen läßt. Was die einzelnen Teammitglieder in einen Film einbringen, können sie nicht mehr zurücknehmen, nur das Gesamtprodukt kann eingestampft werden. Das Produkt Film erlangt, die Ideen seiner Schöpfer in sich vereinigend, Selbständigkeit.
Ein solchermaßen entstandenes Produkt kann nicht die Meinung eines einzelnen widerspiegeln, auch nicht, wenn mehrere Aufgaben wie bei Filmen von Charles Chaplin von einer Person wahrgenommen werden. Die Zusammensetzung des Teams muß in einem Film Ausdruck finden als das Zusammenschmilzen von Interaktionen. Da die meisten Teammitglieder ein und derselben Nationalität sind und die Filme vornehmlich für den inländischen Markt gedreht werden, findet der Nationalcharakter offenkundig seinen Niederschlag. „Die Filme eines Volkes spiegeln seine Denkart unmittelbarer wider als andere Ausdrucksmittel, …“1) schreibt Siegfried Krakauer.
Durch das Korrespondieren zwischen Publikum und Filmfabrikanten über das Thema „Jugend“ wurde deutlich, daß die heutige Jugendkultur zu einem Thema der Gesellschaft geworden ist. Es wurde offenbar, daß die Industrielle Gesellschaft ihren Jugendlichen keinerlei Institutionen bietet, die den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein status- und rollenmäßig sichert.
Edgar Morin schreibt: „Nos sociétés modernes ont détruit les anciennes classes,d’âge archaiques: elles ont suprimé les anciens rites d’initiation, qui au prix de cruellesépreuves, et operant une sorte de mue sociale, fait ait passer le jeune dans le monde des adultes. Mais en supprimant cette barriére essentielle entré l’enfant et l’adulte, elles ont créé une sorte de nouvelle classe, oú chacun doit s’initier tout seul, trouver tout seul les clés du monde adulte, se tremper tout seul.
Or, nous voyons ceci: depuis un demi-siècle, obscurément, progressivement, l’adolescence cherche à se reconnaítre et à s’affirmer en tant que telle, c’est-à-dire en classe d’âge … James Dean reflete enfin l’inquietude adolescente, la crise adolescente.“2)
Talcott Parsons schreibt über die Jugendkultur: „It is notable that the youth culture has a strong tendency to develop in directions which are either on the borderline of parental approval or beyond
the pale, in such matters as sex behavior, drinking and various forms of frivolous and irresponsible behavior.“3)
Die neuen Verhaltensweisen der Jugend werden in den Banden eingeübt, womit die Jugend sich eine Ersatzinstitution geschaffen hat, die ihre Statusunsicherheit zumindest mindert. So wie der Film diese Banden darstellt, ist ihr Tun dem Gesetz nach hochgradig kriminell. Aber die Banden lösen sich nicht, entsprechend dem Regelfall in der Wirklichkeit bei Erlangen des Erwachsenenstatus ihrer Mitglieder auf, gekennzeichnet durch Heirat oder Berufsausübung, sondern es wird demonstriert, daß das Verhalten, wie es in den Banden gelernt wird, die Jugendlichen auf einen gefährlichen Irrweg leitet, der zur Katastrophe oder gerade noch im letzten Augenblick zu einer Umkehr führt.
Hierin spiegelt sich die Einstellung der Erwachsenen den jugendlichen Banden gegenüber wider. Man sieht sie als ein Unglück und nicht als das jugendgemäße Verhalten in unserer Gesellschaft. Würde man das Image der Halbstarken, so wie es die Filme vermitteln, mit dem Image vergleichen, das die Erwachsenen von der Jugend haben, so wäre eine weitgehende Übereinstimmung wahrscheinlich.
Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn manche Filme das jugendliche Verhalten schon als Habitus eines Erwachsenen darstellen. Denn vielen Erwachsenen dürfte es unverständlich sein, daß jugendliche Diebe in der Regel ihr delinquentes Verhalten von heute auf morgen einstellen, wenn sie ihre Jugendzeit als beendet betrachten.
Daraus kann man nun nicht folgern, daß die Filme nicht vorhandene Probleme aufzeigen, sondern vielmehr, daß sie einseitig dem spektakulären Ende einer Subkultur ihr Augenmerk schenken.
„Die eigentlichen extremen Akte sind dagegen nur noch als Schlußpunkte langer Entwicklungen anzusehen, deren Kenntnis wichtiger ist als das ungebührliche Unterstreichen des Endes dieser Entwicklung, wenn sie auch gelegentlich Akte von ungeheuerlicher Grausamkeit und fast unbegreiflichem Vandalismus zeugt, wie es etwa in dem faszinierenden Film des Spaniers Luis Bunuel ‚Los Olvidados‘ oder in minderem Maße in dem jüngeren Film ‚Blackboard Jungle‘ dargestellt worden ist.“4)
Wenn der Film sich vorwiegend mit den Schlußpunkten des in Banden gelernten abweichenden Verhaltens von Jugendlichen beschäftigt, so kann man daraus schließen, daß hierin sich eine überwiegende Verhaltensweise der Erwachsenen widerspiegelt: Sie sehen nur die Auswirkungen jugendlicher Fehlentwicklung und schenken ihr allein Aufmerksamkeit.
In diese Richtung zielen denn auch die Werbeschlagzeilen der Filmverleiher:
„Verlorene Jugend zwischen Hoffnung und Verbrechen“, „Die Tragödie junger Menschen, deren Schicksal es war, ohne Liebe, Verständnis und Heimat leben zu müssen“, „Strandgut der Großstadt im Treibsand eines unentrinnbaren Schicksals“, „Ein dramatisches Filmwerk von der schuldhaften Verstrickung Jugendlicher, die im Dschungel der Zeit die tragischen Opfer von Verantwortungslosigkeit und Selbstsucht der Erwachsenen werden“.
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, die Darstellung der heutigen Jugend, so wie sie in zahlreichen Filmen geschehen ist, in ihrer Typologisierung aufzudecken. Es wurde dabei versucht, in jene Schichten der Darstellung hineinzuleuchten, die hinter einer Wortformel wie der von den „Halbstarkenfilmen“ liegen.
„Die Untersuchung dieser Erscheinungen ist gerade darum wichtig, weil die Wertvorstellungen, die in der Massenkommunikation zum Ausdruck kommen, 1. nicht identisch sind mit den rationalisierten Maximen der ‚richtigen‘ öffentlichen Moral und 2. auch nicht mit den relativ festgeprägten Normen der allgemein anerkannten (und auch befolgten) sozialen Kultur, sondern gerade mit jenen ungemein flüssigen, aus der Spontaneität des sozialen Lebens entspringenden Idealen, welche die Befürchtungen, Wünsche und Erwartungen der Menschen zum Ausdruck bringen, auch ihre Bereitschaften, aus denen sich vieles über das Geschehen von morgen ablesen läßt.“5)
1) Siegfried Kracauer: Von Caligari bis Hitler, Hamburg, Seite 7
2) Edgar Morin in „Présence du Cinema“, Paris 60, Heft 4/5, Seite 11 ff.
3) Talcott Parsons: Essays in Sociological Theory, Glencoe 49, pp.221/222
4) René König in „Kölner Zeitschrift für Soz. u. Sozps“, Sonderheft 2, Seite 10
5) René König in „Das Fischer-Lexikon“, Stichwort: Massenkommunikation, Frankfurt 58
1. Einleitung: Titel der Filme
„Am Tag als der Regen kam“ erweckt Assoziationen an ein Ereignis, das mit dem Naturphänomen Regen verbunden ist: Man kann an das Wohltuende, Löschende, Sättigende denken, das man nach langer Trockenheit beim ersten Regen empfindet und darin eine Analogie zum Geschehen des so betitelten Films vermuten; oder aber man kennt den Schlager gleichen Titels und schließt messerscharf, daß dieser Schlager im Film vorkommen muß, sonst aber, wie die Erfahrung lehrt, mit dem Inhalt wenig zu haben wird.
Nach dem Willen der vorherrschenden Schöpfer von Filmtiteln, den Verleihfirmen, soll ein Titel solche Assoziationen und Gefühle wecken, die den oder bestimmte Gruppen der Wahrnehmenden unwiderstehlich zu dem Entschluß drängen, sich durch Kauf eines Billets das Recht auf eine Vorführung zu verschaffen.
Der Titel bedarf eines Vehikels, um die Sinne des Anzusprechenden zu erreichen und die gewollte Suggestion auszulösen. Dabei gelangt das Vehikel, meist an das Auge appellierend, oft Selbständigkeit gegenüber dem Titel und sagt bisweilen mehr über den Inhalt des Films aus als der Titel.
Das den rechten Vordergrund des Plakates füllende rot und gelb gekleidete junge Mädchen in Warteposition, die Schatten zweier junger Männer, die sich ansehen und bei den Armen gefaßt haben, den Hintergrund bildend, ein Motorradfahrer in Kopfgröße der anderen Figuren mit aufgeblendetem Scheinwerfer seines Motorrades läßt den sicheren Schluß zu, daß die Personen dieses Films ein leichtes Mädchen und irgendwie das Geschehen beeinflußende junge Burschen sind, zu deren Betätigungen auch Motorradfahren gehört.
Die Brücke zum Titel schlagen dünne, unterbrochene Striche, die das ganze Plakat überziehen. Der Titel selbst ist in klarer, ebenmäßiger Schrift aus weißen Groß- und Kleinbuchstaben vierzeilig untereinander in die linke obere Bildhälfte gesetzt.
Die Titel der Halbstarkenfilme beziehen sich zumeist nur auf einen der möglichen Aspekte des Sujets. „Dschungel von Manhattan“, „Stockholm 2Uhr nachts“, „Am Rande der Straße“, „Kinder der Straße“ weisen in der Art ihrer Ortsangaben auf Großstadtsumpf, Großstadtnächte, Verworfensein, Entwurzelung hin. Tanzweise und Musik der Jugend führen zu Titeln wie „Rock’n Roll“, „Rock, Rock, Rock“, „Liebe, Jazz und Übermut“, „Jazzbanditen“. Als besonders beliebter Aspekt erweist sich das Gefährdetsein der Jugend, insbesondere der Mädchen: „Teenager am Abgrund“, „Mädchen im gefährlichen Alter“, „Dürfen Mädchen mit 16 schon lieben“, „mit 17 am Abgrund“, „noch minderjährig“, „Hölle der Jungfrauen“, „Ich laß mich nicht verführen“.
Ihrerseits gefährdet die Jugend Ordnung und Recht der Gesellschaft, sie ist „Jugend ohne Gesetz“, „Entfesselte Jugend“, „Außer Rand und Band“; es sind „Hemmungslose“. Als mildernde Umstände mag für „Die Halbstarken“ gelten, daß sie „Die Verführten“, „Die Unverstandenen“ sind, „Die Saat der Gewalt“, „Wilde Früchte“. Die Jugend gleicht Tieren, sie sind „Die Wölfe“, „Die Ratten von Paris“; sie führen ein Leben „Wie verlorene Hunde“, diese „olvidados“. Man kann die Jugend auch in Relation zur Gegenwart sehen als „Moderne Jugend“, „Junge Leute von heute“, die das „Lebensfieber“ erfaßt hat.
Wenn der eine oder andere Erwachsene noch der Meinung ist, „Wie herrlich jung zu sein“, so scheint die Mehrzahl der Filme über Jungendliche, ihn eines Besseren bzw. Schlechteren belehren zu wollen.
2. Filme über verwahrloste
Jugendliche vor 1953
Jugendliche Fehlentwicklung diente vor 1953 nur vereinzelt als Filmsujet. Wenn auch einige Arten des abweichenden Verhaltens schon anklingen – so wie sie nach 1953 in den zahlreich werdenden Filmen dieses Vorwurfs mehr und mehr zu Klischeedarstellungen werden –, so muß dennoch betont werden, daß die Darstellung des heute sich abzeichnenden Genrecharakters mit Personen- und Handlungstypen in diesen ersten vereinzelten Filmen fehlte. Konfliktsituationen wie die zwischen Bandenchef und einem Bandenmitglied oder alter und neuer Erziehergeneration, Ermordung eines Gleichalterigen oder eines Erwachsenen, der einen bei verbotenem Tun überrascht, haben noch nicht ihre Standardisierung erfahren, sondern erscheinen als die Pionierleistungen ihrer das Genre der Halbstarkenfilme vorbereitenden Schöpfer.
Der Film „Die Vergessenen“ (Los olvidados) stellt einen jugendlichen Bandenchef vor, der eine Kindergang befehligt. Hinterhöfe, Straßen und ärmliche Behausungen von Mexiko City sind der Handlungsort. Der Film zeigt ein Beispiel für abweichendes Verhalten bei Heranwachsenden, die in defekten Institutionen groß werden, deren Aufgabe es sein soll, den jungen Menschen zum Aufbau seiner Persönlichkeit anzuleiten. Ein solchermaßen aufgewachsener Mensch ist nach der Aussage des Films für die Gesellschaft untauglich, er wird vernichtet. Jaibo, der Bandenchef, wird am Ende erschossen, seine Leiche die Geröllhalde hinunter geworfen.
Einer der Jungen aus Jaibos Bande ist Pedro. Sein Zuhause, das einzige Zuhause, das der Film zeigt, besteht zur Hauptsache aus Betten in der Nachbarschaft von Hühnern und anderem Kleinvieh. In eines dieser Betten schleicht sich abends Pedro, wenn er nach Hause kommt. Hier träumt er eines Nachts, daß seine Mutter ihn lieb habe. Doch selbst im Traum taucht Jaibo auf und zerstört Pedros Glück. Jaibo, das ist der endgültige und totale Feind der Gesellschaft. Er tyrannisiert die anderen Jungen, ihnen durch Alter und Körperkraft überlegen, und führt sie zu Überfällen und Untaten.
Wer ihm die Gefolgschaft verweigert, den schafft er aus der Welt: Julien, dem er vorwirft, ihn verraten zu haben; Pedro, der sich offen gegen ihn auflehnt. Beide wollten durch Arbeit, Julien als Bauarbeiter, Pedro als Lehrling in einer Schmiede, ihre Entwicklung in Wege leiten, die der Sanktionierung durch die Gesellschaft entsprochen und ihnen die Aussicht auf ein Hineinwachsen in die Erwachsenenwelt geboten hätte. Doch Jaibo wacht, er duldet keinen Abfall von den Verhaltensweisen, die in der Gang gepflegt werden, und dazu gehört es, daß man keiner Arbeit nachgeht.
Die Erwachsenen sind ein blinder Musikant, ein Krüppel, ein Schmied, ein Karussellbesitzer, der stets betrunkene Vater Juliens, die Mutter Pedros, der Direktor des Erziehungsheimes, ein gut gekleideter Mann, der Pedro ein zweifelhaftes Angebot vor einer Schaufensterscheibe macht, worauf Pedro davonläuft. Pedro arbeitet in der Schmiede, arbeitet als Karussellschieber, aber er bleibt unter Jaibos Macht. Als der Erziehungsheimdirektor ihm Geld anvertraut, hätte Pedro dieses Vertrauen nicht enttäuscht, doch Jaibo überfällt ihn und raubt das Geld.
Pedro spürt, daß sein Schicksal sich jetzt entscheidet: Entweder er ergibt sich Jaibo, dann wird er nie sein Ziel, ein rechtschaffener Mensch zu werden, erreichen, oder er setzt sich zur Wehr, um gegen Jaibos Widerstand sein Ziel anzustreben. Er entschließt sich für den letzteren Weg. Jaibo ermordet ihn. Pedro, der kleine Held des Films, wollte ein „guter Junge“ sein – er wäscht sich sogar –, aber niemand wollte oder konnte ihm helfen.
Einen Blinden und einen Krüppel, Menschen, die man allgemein bemitleidet und die man schützt, überfällt Jaibo mit seiner Bande. Da diese beiden Erwachsenen in den Vordergrund gestellt sind, muß man annehmen, daß Bunuel, der Autor und Regisseur des Films, mit ihnen die Erwachsenen allgemein charakterisieren will, defekte Erwachsene, die zugleich Opfer und Ursache der verwahrlosten, delinquenten Jugend sind.
Die Jungen werfen mit Steinen auf den Blinden, schlagen ihn, werfen den in ohnmächtiger Wut mit einem Stock um sich schlagenden zu Boden, zertrümmern seine Musikinstrumente. Von dem auf seinem Wägelchen mit einer Zigarette im Mund sich dahin schiebenden Krüppel verlangen die Jungen Zigaretten. Da er sie verweigert, werfen sie ihn von seinem Vehikel, und Jaibo versetzt dem Ding einen Tritt, so daß es die Straße hinunter schießt.
Die anderen Erwachsenen geraten demgegenüber in den Hintergrund und dienen der Akzentuierung des einen oder anderen Tatbestandes. Von den Eigenschaften einer Mutter, die um die Entwicklung ihres Kindes besorgt ist, zeigt Pedros Mutter nichts. Sie müsse arbeiten und habe keine Zeit für den Jungen, der in ihren Augen ein unverbesserlicher Taugenichts ist. So sagt sie es vor dem Jugendgericht. Juliens Vater torkelt betrunken durch die Straßen und verflucht den Mörder seines Sohnes, der „uns alle ernährte“.
Jaibo fragt das Mädchen Meche: „Gibst du mir für zwei Pesos einen Kuß?“. Sie überlegt: Zwei Pesos, dann willigt sie ein. Aus ihrem Schreien zu schließen, bleibt es nicht beim Kuß. Pedros Mutter hat als Mädchen Ähnliches dulden müssen. Sie äußert zu Jaibo, sie sei beim erstem Mal 14 Jahre alt gewesen und habe sich nicht wehren können.
Völlig entartet mutet das Sozialgebilde an, in dem Kinder die ungewollte Folge sexueller Betätigung sind und als „olvidados“ aufwachsen. Daß die Schöpfer des Films Begebenheiten aufzeigen möchten, die von allgemeiner Gültigkeit sind, heben sie im Vorspann hervor: New York, Paris, London – „in den großen Städten wachsen junge Menschen auf ohne Liebe, ohne Heim; die Geschehnisse des Films beruhen auf wahren Begebenheiten.“
Die Filme „Wenn man die Schule schwänzt“ und „Der Weg ins Leben“ stellen indes die Erfolge einer jungen Erziehergeneration im Gegensatz zu einer alten dar. In „Wenn man die Schule schwänzt“ stopft ein alter verknöcherter Lehrer seine Schüler mit totem Wissen voll, und mit seiner Forderung nach Disziplin bringt er die Jugend zu Mißtrauen und Bösartigkeit. Der ihn ablösende junge Lehrer dagegen faßt die Jugend bei ihrer Freude an Sport und Spiel, bei ihrem Ehrgeiz, mit dem Erfolg, daß selbst der größte Übeltäter unter den Schülern sich zu einem hoffnungsvollen Sproß der Gesellschaft entwickelt.
1931 wurde in Rußland „Der Weg ins Leben“ produziert. Der Film zeigt zu Beginn das Treiben jugendlicher Diebesbanden in Moskau. Die Idylle einer glücklichen Familie wird zerstört, als die Mutter bei einem der Überfälle getötet wird. Der Vater kommt von da an stets betrunken nach Hause. Als er seinen Sohn eines Abends im Rausch verprügelt, läuft dieser davon. Kolla schließt sich einer der Banden an und wird zusammen mit Mustafa, dem Bandenführer, sowie den anderen Bandenführern bei einer Razzia verhaftet.
Statt die Jugendlichen wie bisher ins Gefängnis werfen zu lassen, bringt der neue Jugendsekretär sie ohne Bewachung in ein Arbeitslager. Das Vertrauen, das er in die Jugendlichen setzt, wird selbst durch Mustafa nicht enttäuscht, dem die Verwaltung des Reisegeldes anvertraut wurde. Wenn es auch im Arbeitslager zu Rückfällen kommt, die Löffel gestohlen, Mobiliar und Werkzeuge demoliert werden, am Ende siegt die gute Veranlagung der Jugendlichen, an die zu appellieren der neue Jugendsekretär nicht müde wurde.
Der Versuch eines Bandenchefs aus Moskau, die Jungen wieder zu ihrem alten Bandenleben zurückzuholen, wird von Mustafa, Kolla und ihren Freunden vereitelt. Der Schluß des Films ist effektgeladen, pathetisch, symbolträchtig, propagandistisch: Eine Anschlußstrecke an das große Bahnnetz ist fertiggestellt worden. Mustafa soll den ersten Zug abholen. Unterwegs wird er aber von einem noch nicht umerzogenen Moskauer Bandenführer ermordet. Der erste Zug fährt unter Jubel ins Lager ein, aber er verstummt, als der tote Mustafa, vor dem Kessel der Lokomotive aufgebahrt, erkennbar wird. Eine Art Märtyrertod soll die Endgültigkeit des Wandels jugendlichen Verhaltens eindringlich machen. Ein Wandel, der zur Aneignung der geplanten Erwachsenenrolle führt, sinnfällig gemacht durch einen Bahnanschluß.
„Wenn man die Schule schwänzt“ und „Der Weg ins Leben“ behaupten, daß die Jugend in den tieferen Schichten ihrer Person unversehrt ist und es allein der ihr gemäßen Behandlung bedarf, sie zu angepaßten Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Das leisten Erwachsene, insbesondere Lehrer und Erzieher, die sie von der Kindheit durch die Jahre der Adoleszenz ins Erwachsenendasein hinüberführen, ohne daß sie zu einer Gefahr für die Gesellschaft werden.
Der Episodenfilm „Kinder unserer Zeit“ widerspricht in seiner Behandlung des Themas dieser Aussage. Es geht dreimal um Mord. 1. Episode: In Paris ermordet eine Bande Halbwüchsiger beiderlei Geschlechts nach einem raffinierten Kollektivplan einen Gleichalterigen. 2. Episode: In Italien erschießt der verwöhnte Sohn reicher Eltern, der sich als Schmuggler betätigt, einen Polizisten im Feuergefecht und erliegt selbst einer inneren Verletzung. 3. Episode: In London meldet ein junger Dichter aus purem Geltungsbedürfnis bei einem Sensationsblatt einen Leichenfund, um auf der Titelseite herausgestellt zu werden. Nachher gesteht er dem Redakteur, das er die aufgefundene Person, eine ältliche Dirne, zu diesem Zweck selber erwürgt hat.
Der Film beginnt mit einem Blick auf die Schlagzeilen der Weltpresse, was wohl soviel sagen soll wie: Diese Episoden stellen keine Einzelfälle dar. Was behauptet wird, ist die Mißachtung des fundamentalen Gebotes menschlichen Zusammenlebens in den westlichen Gesellschaften durch eine Jugend, die die Anerkennung und Achtung des Mitmenschen als Person nicht akzeptiert.
Daß der Jugendliche der 2. Episode an den Folgen seiner Tat stirbt und das gerade an einer inneren Verletzung, ist sehr sinnfällig. Den Vorwurf gegen die Presse, sie verursache dadurch, daß sie den Normverstößen zu große Aufmerksamkeit schenke, zu neuen Straftaten animiere, bringt die 3. Episode zur Geltung. Für die Jugendlichen entsteht, so wird argumentiert, ein Anreiz, sich die Beachtung der Erwachsenen, die sie so sehr entbehren, durch kriminelle Handlungen zu erlangen.
Durch die Ermordung einer sozial Verachteten wird dargetan, daß der Mord nur Mittel ist und dem Täter ohne Schlagzeile keinerlei Befriedigung gebracht hätte. Es mußte gerade ein Dichter sein, damit der Zuschauer die Frustrierung durch die Nichtbeachtung der Gesellschaft nachvollziehen kann.
Im folgenden Kapitel soll nun die nach 1953 erkennbar werdende Standardisierung des sich im Film etablierenden Halbstarkenthemas behandelt werden. Zur Kategorisierung der ersten beiden Abschnitte dieses Kapitels wurden die Filme gemäß ihrer Aussageintention zusammengefaßt, so daß in ihrer Intention einmalige Filme eine eigene Kategorie erhielten. Im dritten Abschnitt wurde ein Kategoriensystem gewählt, das die Gestaltungsart der Aussagen erfaßt. Es wurde angewandt auf jene Filme, die die jugendliche Subkultur in den Gangs in den Darstellungsvordergrund rücken.
Soweit in den Filmen der beiden ersten Abschnitte im Hintergrund Gang und Subkultur auftauchen, ist dies im dritten Abschnitt berücksichtigt. Der vierte Abschnitt bringt eine zusammenfassende Darstellung der Personen- und Handlungstypen, so wie sie sich aus den drei ersten Abschnitten ergeben. Im fünften Abschnitt soll schließlich der Versuch gemacht werden, den Quellen und Ursachen der Typenbildung nahe zu kommen.