Teil 2, 2. Abschnitt
3.3 Die Gang als jugendliche
Subkultur
Die Banden machen es deutlich: Die Jugend distanziert sich von der Gesellschaft. Zu diesen Jugendlichen haben die Erwachsenen keinen Zugang mehr. Es gehört mit zu den von diesen Banden aufgerichteten und streng kontrollierten Normen, daß keines der Mitglieder die Isolation, in die man sich zurückgezogen hat, verläßt.
3.3.1 Die in den Filmen angegebenen
Gründe der Distanzierung
Halbstarker von der Gesell-
schaft
3.3.1.1 Die Versagerrolle der
Eltern
Bemerkungen der Jugendlichen und die „Gastspiele“, die sie hin und wieder zu Hause geben, machen deutlich: Die für die Versagensweise der Jugendlichen Schuldigen sind die Eltern. Sie versagen, sie nehmen ihre Aufgabe nicht wahr, sie haben andere Interessen, anderen Kummer, anderen Ärger.
Es tyrannisiert ein Vater seine Familie, weil ihn der Verlust einer für den Schwager übernommenen Bürgschaft ärgert. („Die Halbstarken“)
Ein kleiner Junge, der jüngere Bruder des Bandenchefs, lehnt sich schluchzend ans Treppengeländer, während man die Eltern im Stockwerk darüber sich bekeifen hört. („Die Hemmungslosen“)
Ein gerade verführtes Mädchen überhäuft seine Mutter mit bitteren Vorwürfen, weil sie sich nicht um sie gekümmert, sie nicht gewarnt habe. Hinter einer häßlichen Gesichtsmaske aus Falten verhindern sollender Paste verborgen, läßt die Mutter fassungs- und verständnislos die nachmitternächtliche Beschimpfung ihrer Tochter über sich ergehen. („Die Hemmungslosen“)
Eine andere Mutter haßt ihre Tochter und kann es ihrem Mann nicht verzeihen, daß das erste Kind so früh in die Ehe kam. („Hölle der Jungfrauen“)
Selbst fundamentalen Pflichten kommt ein Vater nicht nach, wenn der Sohn für den Unterhalt der Familie sorgen muß, weil der Vater, von Beruf Arzt, wegen eines Mißgeschicks bei einer Operation seinen Beruf nicht mehr ausüben darf und seitdem trinkt. („Am Tag als der Regen kam“)
Die Versagerrolle der Eltern gilt als so selbstverständliche Ursache der jugendlichen Verhaltensweise, daß ein Film sich auf die knappe Andeutung beschränkt: Sie wissen doch schon, verkommene Eltern. („Die Wölfe“)
3.3.1.2 Milieubezogene Ursachen
In den unteren sozialen Schichten ist das Versagen der Eltern verwoben mit ihrem wirtschaftlichen Notstand. Die Elendsviertel der Großstädte bilden vielfach den Handlungsort:
- Die Bannmeile von Paris („Engel der Halb-starken“)
- Das Viertel um die Rue du Roi de Sicile („Die Ratten von Paris“)
- Das Italienerviertel von New York („Entfesselte Jugend“)
- Die New Yorker Hafendocks („Dschungel von Manhattan“)
- Berliner Hinterhöfe („Die Halbstarken“)
Armut und Unfrieden kennzeichnen diese Umgebung, in der die Jugend durch die Entwicklung eigener Werte sich einen Halt und Orientierung zu schaffen sucht. Es entstammen die Mitglieder einer Bande jedoch nicht ausschließlich dem Großstadtsumpf.
Auch höheren Gesellschaftsschichten entlaufen Halb-starke. Hier sind es die für ihre Kinder wenig Interesse zeigenden Eltern, die die Jugendlichen auf die Straße treiben. Der vom Geld und Prestige geprägte Gang der Dinge ist ihnen zuwider. Sie suchen Erleben, Abenteuer, soziale Bestätigung kraft eigenen Tuns. („Die Hemmungslosen“), („Und die Eltern wissen nichts davon“)
Die mangelnde Orientierung und Lenkung der Heranwachsenden hin zum Erwachsenenstatus, die fehlende Möglichkeit sich an Vorbildern auszurichten, wird in den Halbstarkenfilmen als Ursache für die Horizontalorientierung der Jugendlichen in Banden herausgestellt, die zu einer Distanzierung von der Erwachsenenwelt führt.
3.3.2 Das Verhalten der Bande zu
ihrer Umwelt
3.3.2.1 Zu den Erwachsenen
Ein harmloser Straßenpassant wird als Opfer eines Mordes ausgewählt. Frankie, der 18jährige Bandenchef, will den tödlichen Stoß mit dem Messer ausführen. Das „Baby“ der Bande, 15 Jahre alt, hat den Lockvogel zu spielen. Ein Dritter wird den ahnungslosen Bürger aufhalten. Alles verläuft nach Plan, nur Frankie vermach nicht zuzustoßen, im letzten Augenblick zieht er das Messer zurück. („Entfesselte Jugend“)
Artie West stürzt sich mit offenem Messer auf den Lehrer Dadier. Doch Auge in Auge mit dem Lehrer weicht er zurück. (“Die Saat der Gewalt“)
Mit der Pistole in der Hand, dem Finger am Abzug steht Freddy vor seinem um Hilfe schreienden Opfer, einem alten Mann, aber er kriegt den Finger nicht krumm. („Die Halbstarken“)
Es ist auffällig, daß der Vollzug einer geplanten Revolution gegen die Erwachsenen ausbleibt. Diese Miniaturrevolutionäre spüren im entscheidenden Augenblick eine Ohnmacht, zu der sie verdammt sind. Es kommt zum Ausdruck, daß sie letztlich doch die Normen der Erwachsenen anerkennen und befolgen.
Die Beschäftigungen der Banden sind delinquenter Natur. Sie behindern den Verkehr, indem sie eine Straße in ihrer ganzen Breite mit ihren Motorrädern blockieren; sie belästigen die Vorübergehenden; sie durchschneiden Telefonleitungen; sie verursachen Tumulte; sie verwandeln eine Schwimmhalle in einen Hexenkessel; sie demolieren ein Lokal; sie führen Polizisten an der Nase herum; sie verprügeln Lehrer, Matrosen, Park- und Nachtwächter. Sie inszenieren eine Autokarambolage, um den Bummelplatzwächter ungestört ausrauben zu können; sie halten ein Postauto an, setzen die Besatzung außer Gefecht und räumen den Wagen aus.
Die Jugendlichen betätigen sich als Diebe, Schmuggler und Erpresser. Vor allem stehlen sie Autos. Man stellt eine „dufte“ Biene mit leichtem Gepäck an die Berliner Avus, wartet bis ein feister Lüstling die niedliche Kleine in seinen Wagen lädt, und dann geht’s auf den Motorrädern hinterher. Auf einem Parkplatz büßt der Herr Brieftasche und Auto ein. („Am Tag als der Regen kam“) Man schmuggelt Whisky, kidnappt den Sohn reicher Eltern zwecks Erpressung und bricht in Villen ein. („Die Wölfe“, „Die Ratten von Paris“, „Die Halbstarken“)
Das Ärgernis für die Erwachsenen sind die Taten von der Norm abweichenden Verhaltens und vom Gesetz her kriminell zu nennendes Handeln. Die Erwachsenen schimpfen. Von der Polizei haben die Jugendlichen außer einem Verhör auf der Wache nichts zu befürchten, wenn sie denn erwischt werden. Nur bei schwerwiegenden kriminellen Taten kommt es zu massiverem Einschreiten der Polizei.
Daß die Jugendlichen die ihnen wehrlos gegenüber stehenden Erwachsenen zu ermorden nicht im Stande sind, sofern es allein um den Mord geht und dieser nicht als Folge eines Raubes oder dergleichen dargestellt wird, wurde bereits hervorgehoben. Stattdessen überfallen sie die Erwachsenen und schlagen sie blutig. Die Handlungsweise erinnert an die Folterung eines Gefangenen, nur daß der Folternde auch fähig wäre zu töten, es aber aus Gründen der Vernunft unterläßt, da er in der Regel etwas erfahren will, was nur der Lebende sagen kann.
Artie West ist nicht im Stande zuzustoßen, er unterliegt dem Blick Dadiers. Nur im Verein mit Gleichalterigen konnte er den Lehrer grausam verprügeln. Das Überlegenheitsgefühl, das die Jugendlichen zur Schau stellen, hat eine Schwäche, die deutlich das Noch-nicht-erwachsen-sein zeigt. Durch ihre Verhaltensweisen zwingen sie die Erwachsenen, sich ihnen zu stellen, wenn diese ihre Normen schützen wollen. Der Sinn dieser Normen ist den Jugendlichen unklar. Sie beobachten, wie die Erwachsenen selbst Gesetze verletzen oder umgehen oder durch die Beachtung der Gesetze im Leben zu kurz kommen oder diese Beachtung den Geruch der Scheinheiligkeit an sich hat.
Es erscheint den Jugendlichen angesichts der Erwachsenen geradezu legitim, die Norm der Normverletzung als Verhaltensweise der Umwelt gegenüber zu entwickeln. Nicht ihr Verhalten, sondern die Gesetze erklärt diese Jugend für Unmoral. Es kommt zur Verbrechermoral: Das Verhalten des feisten Lüstlings beweist ihnen, indem er auf ihren Lockvogel hereinfällt, daß sie ihm nur Recht widerfahren lassen.
Tritt den Jugendlichen jedoch jemand in den Weg, von dem sie spüren, daß bei ihm im Gegensatz zu den anderen Erwachsenen ihre Vorurteile gegen ein der herrschenden Norm entsprechendes Verhalten sich als vorschnelles jugendliches Urteil herausstellen, dann kann es für das Gros einer Bande zur Auflösung des abweichenden Verhaltens kommen.
Für den Chef einer solchen Bande aber, der sich mit dem subkulturellen Normsystem in der Regel voll identifiziert, kommt es zumeist zu einer Situation wie der zwischen Artie West und Dadier. Die Furcht, die aus der selbsterrichteten Norm abgeleitete Verhaltensweise ihrer Gültigkeit entkleidet zu sehen und sie aufgeben zu müssen, treibt West zu höchster Aggression, die er aber nunmehr allein nicht zu vollenden vermag.
Kann man das Handeln der Banden in den Anfängen noch als das kollektive Verhalten einer heranwachsenden Generation an die Erwachsenen mittels provokativer Taten, die das Normsystem betreffen, deuten – die Jugend zeigt sich noch interessiert zu erfahren, was geschieht, wenn – so bedeutet die Verselbständigung dieser Handlungsweisen zu einem eigenen Normsystem die Einrichtung zerstörerischen Verhaltens. Um die Gültigkeit der errichteten subkulturellen Normen zu wahren, verschließt man sich jeder Einsicht umso mehr, je intensiver man sich mit diesen Normen identifiziert. Wie in den Filmen der Eindruck verhindert wird, daß ein Fortsetzungsfilm die jugendlichen Delinquenten nur als erwachsene Verbrecher zeigen könnte, wird bei der Betrachtung der Schlußszenen deutlich werden.
3.3.2.2 Das Verhalten zu den
anderen Banden
Das Vorhandensein anderer Banden fordert eine Bande zur Auseinandersetzung mit diesen heraus. Denn die in der Bande festgelegte soziale Ordnung muß der allein gültige Orientierungsrahmen sein, wenn man den Anspruch auf Absolutheit nicht infrage stellen will. Es kann keine Duldung anderer Banden geben. Man zieht gegen sie zu Felde und setzt die ganze Schlagkraft der Fäuste gegen sie ein. („Der Dschungel von Manhattan“, „Und noch frech dazu“)
Besonders deutlich wird die Intoleranz anderen Orientierungssystemen gegenüber in der Auseinandersetzung einer Bande mit einem Zigeunerstamm („Die Wölfe“). Das Treffen auf eine Gruppe mit streng traditionell verankertem Normsystem würde im Falle einer Duldung nicht nur das eigene Normsystem relativieren, sondern, da es sich um eine Gruppe sozial verachteter handelt, auch seinen Wert erheblich herabsetzen. Daher ist in diesem Kampf jedes Mittel erlaubt. Mit Messern zieht man aufeinander los und selbst die Mädchen läßt man nicht ungeschoren.
3.3.3 Offenlegung des jugendlichen
Irrtums
3.3.3.1 Polizeiende
Die Filme beenden in der Regel mit dem Eingreifen oder genauer dem Eintreffen der Polizei die Darstellung jugendlicher Banden in der zensurgebotenen Absicht, Ruhe und Ordnung für das Gefühl des Zuschauers wieder hergestellt zu haben. Jedoch ist auffallend, daß die Polizei erst in jenem Augenblick mit Sirenengeheul heranbraust, in dem die Jugendlichen im Gefolge einer neuerlichen Tat selbst zu der Einsicht gekommen sind, daß ihre Lösung zur Meisterung der Situation nicht zum Ziel führt. Die Polizei kommt erst, nachdem Frankie das Messer unverrichteter Dinge hat sinken lassen, („Entfesselte Jugend“), nachdem Freddy den alten Mann hat nicht erschießen können. („Die Halbstarken“)
In gleicher Weise kann aber auch der Vollzug einer Tat dazu angetan sein, den Jugendlichen die Augen zu öffnen. Das plötzliche Stummsein eines wegen Feigheit und Verrat zum Tode „verurteilten“ Bandenmitgliedes läßt die Halbstarken aus dem kollektiven Taumel der Normversessenheit erwachen. („Am Tag als der Regen kam“)
Die abgeschwächte Form solcher Strafmaßnahmen, die Züchtigung mit fast tödlichem Ausgang – der vollstreckende Bandenchef fürchtet sogar getötet zu haben – zeitigt das gleiche Erwachen. („Und noch frech dazu“‘) Die Filme lösen die jugendliche Delinquenz dadurch auf, daß die Jugendlichen durch die letzte Tat zur Einsicht gelangen. Die Polizei nimmt reuige Sünder in Empfang. Ordnung und Recht werden also fundamental durch Einsicht der Täter wieder hergestellt, was noch beruhigender ist als die Wiederherstellung durch Gewaltanwendung der Polizei.
Daß die Jugend sich willig und widerstandslos den Ordnungshütern stellt, versinnbildlicht das Aufgeben der Subkultur und die Wiedereinfügung in die gesellschaftliche Ordnung, deren Strafen man zur Ermöglichung dieser Rückkehr sogar auf sich zu nehmen gewillt ist. Das Opfer des Irrtums wird präsentiert, wenn in einem Film die Bande auf ihren Armen die Leiche der „Bandenprinzessin“ der Polizei entgegenträgt.
3.3.3.2 Umkehr ohne Polizeiende
Wenn der Weg der Umkehr schon vor dem Ende des Films eingeschlagen wird („Engel der Halbstarken“) oder wenn das Tun der Halbstarken auf der Grenze zum gesetzlich Kriminellen bleibt („Der Wilde“) oder aber es gelingt, die Polizei vom kriminellen Handeln fern zu halten („Die Ratten von Paris“), dann folgt am Ende kein Polizeiaufmarsch. Stattdessen ist es die unerschütterliche Arbeit eines Pädagogen, dem es gelingt, eine Bande aufzuweichen („Saat der Gewalt“). Die Hilfe des Vaters in höchster Not kann die angeborene Redlichkeit des Sohnes wecken („Dschungel von Manhattan“). Auch das Zustandekommen einer Liebe kann der Anlaß sein, daß die Jugendlichen sich von ihrer Lebensweise trennen („Ratten von Paris“).
3.3.3.3 Katastrophenende
Eine dritte Möglichkeit die vorgeführte Verhaltensweise der Jugendlichen als Weg in die Irre zu kennzeichnen und sie dann aufzulösen, wird in einem polizeilosen Katastrophenende aufgezeigt. Am Krankenbett des vor Aufregung über das, was man seiner Tochter angetan hat, zusammengebrochenen Vaters kommen dem Bandenchef die Tränen der Reue („Und die Eltern wissen nichts davon“).
Die Katastrophe ist elementar, wenn die Freundin des Bandenchefs nach einem Streit mit diesem wegen eines Seitensprungs ihrerseits sich und den im Kofferraum zur Strafe für seine Eifersucht und die deshalb von ihm erlittene Züchtigung eingesperrten Chef in einem Anflug von Wahnsinn mit hoher Geschwindigkeit in eine Kurve, die bei der Bande als Todeskurve berüchtigt ist, chauffiert, aus der heraus der Wagen gegen eine Felswand geschleudert wird. Der zurückprallende Wagen explodiert und brennt aus. Still und stumm versammelt sich die Bande um das Wrack.
3.3.4 Eine wohltätige Bande
Verwahrloste Jugendliche, die sich in Banden zusammenfinden, neigen zwar zur Kriminalität, aber dazu muß es nicht kommen, wie der Film („Engel der Halbstarken“) zeigt. Die Sorge um ein mit Selbstmordabsichten in den Kanal gesprungenes Mädchen läßt die Bande den geplanten Überfall auf ein Bankauto, zu dem sie ein Berufsverbrecher anstiftete, vergessen. Das schwangere Mädchen bringen die Jungen in ihr Versteck, ein verlassenes Schloß. Die Geschichte spinnt sich weiter über die Niederkunft hinaus, bis sich der älteste der Jungs nach allerlei Abenteuern, die die Opfer- und Hilfsbereitschaft der Bande auf die Probe stellen, mit dem Mädchen verlobt. Der Verbrecher verletzt sich in einem Handgemenge tödlich.
Eine solche Bande Halbstarker wird zum Caritas-verein. Sie gebärdet sich nur solange kriminell, bis sie die Möglichkeit erhält, ihr gutes Herz zu zeigen. Zur Kriminalität hat sie nicht selbst gefunden, sie wurde verführt. Den Verführer trifft die gerechte Strafe. Die Jugendlichen dagegen gehen in den Normen und Formen der Gesellschaft auf, indem sie eine Verlobung feiern.