Teil 2, 3. Abschnitt
3.3.4 Eine wohltätige Bande
Verwahrloste Jugendliche, die sich in Banden zusammenfinden, neigen zwar zur Kriminalität, aber dazu muß es nicht kommen, wie der Film („Engel der Halbstarken“) zeigt. Die Sorge um ein mit Selbstmordabsichten in den Kanal gesprungenes Mädchen läßt die Bande die geplanten Überfall auf ein Bankauto, zu dem sie ein Berufsverbrecher anstiftete, vergessen. Das schwangere Mädchen bringen die Jungen in ihr Versteck, ein verlassenes Schloß. Die Geschichte spinnt sich weiter über die Niederkunft hinaus, bis sich der älteste der Jungs nach allerlei Abenteuern, die die Opfer- und Hilfsbereitschaft der Bande auf die Probe stellen, mit dem Mädchen verlobt. Der Verbrecher verletzt sich in einem Handgemenge tödlich.
Eine solche Bande Halbstarker wird zum Caritasverein. Sie gebärdet sich nur solange kriminell, bis sie die Möglichkeit erhält, ihr gutes Herz zu zeigen. Zur Kriminalität hat sie nicht selbst gefunden, wie wurde verführt. Den Verführer trifft die gerechte Strafe. Die Jugendlichen dagegen gehen in den Normen und Formen der Gesellschaft auf, indem sie eine Verlobung feiern.
3.3.5 Die Charakterisierung der
Bandenmitglieder
3.3.5.1 Der Bandenchef
Welche „Dinger“ eine Bande dreht und welche „Spiele“ sie spielt, das bestimmt der Bandenchef. Er ist zuständig für Vorschlag, Planung und Durchführung. Die Freddys und Frankies sind absolute Feinde der Gesellschaft und als solche Vorbilder für die Verhaltensweise der anderen Bandenmitglieder. Dadurch wird der Chef auch zum Überwacher der aufgerichteten Normen. Er kennt die Mitglieder am besten. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Nachrichten und Mitteilungen münden bei ihm und gehen von ihm aus.
Auch physisch ist er den meisten Bandenmitgliedern überlegen. Oft aufgrund seines höheren Alters. Seine Handlungen und Anweisungen müssen zum Erfolg führen. Wenn er in einer Auseinandersetzung Schwäche zeigt oder einer Situation nicht gewachsen ist, wenn ihm ein Fehler unterläuft, trennt sich die Bande von ihm, zerfällt sie in Cliquen und Einzelgänger. Sein Regiment hält die Bande zusammen. Die individualistischen Bestrebungen der Einzelnen werden unterdrückt. Die Gruppennorm muß erfüllt werden.
Bei Auseinandersetzungen hat der Chef immer die Führungsrolle, er kämpft in vorderster Front. Agiert die Bande auf einer hohen Subkulturstufe kann es jedoch sein, daß der Chef die Rolle des Drahtziehers im Hintergrund einnimmt. Auf den Chef treffen die Frustrierungen, die zur Erklärung halbstarker Verhaltensweisen in der Milieu- und Elterndarstellung gegeben werden, in besonderem Maße zu. In seinem Elternhaus stimmen die Verhältnisse mit Sicherheit nicht. Daher ist er in der Regel von Zuhause weggezogen und lebt selbständig ohne rechte Arbeit als Bandenchef.
3.3.5.2 Der Feigling
Ein Feigling ist für die Bande derjenige, der in den Normen der Gesellschaft noch so verwurzelt ist, daß er Skrupel bei den Aktionen vor allem denen krimineller Art zeigt. Auf ihn richtet sich das besondere Augenmerk des Chefs, da sein Verhalten die Moral der Truppe gefährden würde, wenn sein Verhalten Schule macht. So kommt es dazu, daß dem Feigling die Mitgliedschaft in der Bande unheimlich wird und er aussteigen möchte. Aber das läßt man nicht gelten, denn die Bande ist kein Verein, den man so ohne weiteres wieder verlassen kann. Der Chef versucht den Abtrünnigen durch eine Abreibung zur Raison zu bringen. Auf hoher Subkulturstufe wird eine Art Gerichtsverhandlung abgehalten. Ein Todesurteil wird vollstreckt.
Schon durch sein Äußeres verrät sich das Schwarze Schaf: Der Feigling trägt Jackett und Schlips, hat glattes, gescheiteltes Haar und zeigt Manieren, die erkennen lassen, daß er sich an das Vorbild der Erwachsenen hält, anstatt mit deren Welt zu brechen und sich den von seinen Altersgenossen entwickelten Verhaltensweisen anzupassen.
3.3.5.3 Das „Baby“
Während der Feigling von der Bande wegstrebt, ist es der Typ des Kriechers, der es unter allen Umständen zu einem voll anerkannten Bandenmitglied bringen will. Sein geschmälertes Ansehen beruht darauf, daß er der Benjamin ist oder erst kürzlich als Mitläufer zugelassen wurde. Durch Mutproben oder kleine jedoch nicht ungefährliche Aufträge bei den Unternehmungen der Bande gibt man ihm Gelegenheit, seine Tapferkeit und Einsatzfreudigkeit zu beweisen. Er ist ein äußerst treuer Gefolgsmann des Bandenchefs. Seinen Eifer und Gefolgschaftswillen macht sich der Chef gerne zu Nutzen, um etwa den Feigling bei seinem Ehrgeiz zu fassen, indem er die beiden bei einer Mutprobe in Wettkampf treten läßt.
Beide müssen beispielsweise den Hals auf einen Schienenstrang legen. Wer vor der herannahenden Lokomotive den Hals als erster wegzieht, ist der Feigling („Am Tag als der Regen kam“). Jedoch erreicht das „Baby“ oder der „Professor“, wie die Spitznamen der Kriechertype lauten, durch sein Verhalten keineswegs die gewünschte Anerkennung. Vielmehr wird er weiter belächelt und nicht für ganz voll genommen, da er kein Rückgrat zeigt, keinen eigenen Willen.
3.3.5.4 Der Vertreter einer
Supernorm
Neben dem Bandenchef als dem totalen Feind der Gesellschaft taucht mitunter ein anderer aus der Bande als absoluter Gesellschaftsgegner auf. Da jedoch das Verhalten des Bandenchefs die Norm bildet, achtet dieser und, von ihm angestachelt, die Bande darauf, daß niemand die Norm ändert, da der Chef sonst seine Stellung verlöre und die Bande insgesamt ihre Verhaltensweisen den erhöhten Normansprüchen des Extremisten anzupassen hätte.
Dadurch gerät der Superhalbstarke der Bande in eine Außenseiterstellung. Als einzelner ist er der Bande unterlegen, auch wenn er vor der gröbsten Gemeinheit nicht zurückschreckt. Zu solcher aber greift jetzt ihrerseits die Bande, um den Extremisten zu unterdrücken. Da dies aber bei einem endgültigen Gegner jeder sozialen Ordnung ohne Erfolg sein muß, wird er ausgestoßen, wird er getötet.
3.3.5.5 Die Gefolgschaft
Bis zu einem gewissen Grad behalten die Bandenmitglieder ihre Individualität. Es gibt den gutmütigen Dicken, den zappeligen Kleinen, den zähen Langen, aber eine charakterliche Scharfzeichnung erfolgt nicht.
3.3.5.6 Kleidung, Frisur, Fahr-
zeuge, Namen, Wappen
Die Jungen tragen Röhrenhosen, blue jeans, Lederjacken, Bürstenhaarschnitt. Mit Motorrädern und Autos bewegen sie sich durch ihr Revier. Bisweilen hat eine Bande einen Namen, etwa Pantherbande, oder ein Wappen, das man auf dem Ärmel der Lederjacke trägt, etwa einen Totenkopf.
3.3.5.7 Figuren am Rande
Die jüngeren Brüder von Bandenmitgliedern, die sich anzuhängen versuchen, werden bei manchen Unternehmungen geduldet. Sie stellen gleichsam die nächste Bandengeneration dar. Aus gleichen sozialen Verhältnissen kommend, sind für sie dieselben Ursachen gegeben, die Erwachsenen zu verachten, wie für ihre älteren Brüder. Durch Flegeleien, wie die Luft aus Autoreifen lassen, und Delikten wie kleine Diebstähle, üben sie schon die Verhaltensweisen ihrer Vorbilder.
Von der Bande gemieden werden ältere Jugendliche, die sich anzubiedern versuchen. In ihnen sieht man statusmäßig Überlegene, die jedoch Schwächlinge sein müssen, da sie in den zugehörigen Altersklassen der Gesellschaft keinen Anschluß finden. Man empfindet sehr deutlich die Regression, insbesondere wenn dieser Typ beginnt, sich an die Mädchen der Bande heran zu machen. Für die Bande ist dieser Typ eine zwielichtige Gestalt, die nicht zu ihnen gehört, auch wenn sie oder gerade weil sie die Verhaltensweise eines schon fast Erwachsenen noch nicht zeigt. Man behandelt den Typ als Parasiten.
3.3.6 Aufenthaltsorte der Banden
Die Orte, an denen sich eine Gang aufzuhalten pflegt, liegen am Rande der Erwachsenenwelt. Man nimmt diese distanziert in Kauf, soweit man sie nicht ganz entbehren will, Bars und Espressos zum Beispiel. Wehe man versagt ihnen in einem Lokal, sich so zu benehmen, wie es ihrer Subkultur entspricht. Die Demolierung der Einrichtung ist die unausweichliche Folge. Bunker, Keller, Ruinen, ein verlassenes Schloß, ein Blockhaus, ein Wochenendhaus, ein Bootshaus, eine Gartenlaube dienen als Umgebung, in der man es sich gemütlich macht.
Diese von den Erwachsenen verlassenen oder nur selten aufgesuchten Lokalitäten, die teils eine zerbrochene Zeit symbolisieren teils Orte sind, die von den Erwachsenen nicht mehr benutzt werden, dienen als Verstecke für Diebesgut und werden als geheime Versammlungsstätten benutzt. Hier kommt man zusammen, bevor man zu gemeinsamen Taten auszieht, hier hält man die Palaver ab, hier sitzt man zu Gericht, verhängt man Strafen und feiert man Feten. Sind die Eltern eines der wohlhabenden Bandenmitglieder verreist, verlegt man die Feten gerne in die sturmfrei gewordene Villa.
Den Erwachsenen geht man aus dem Weg, wenn man seiner perfekt entwickelten Lebensweise frönen will. Nur wenn man zu Attacken die Isolation verläßt, dringt man in die verriegelten und verschlossenen Aufenthaltsorte der Erwachsenen bis in ihre Schlafzimmer ein. Dort, wo die Erwachsenen sich in Kriegszeiten gegen Feinde verschanzten, oder wohin die Erwachsenen sich früher einmal aus ihrem Alltagsleben zurückzogen, dort schaffen sich die Jugendlichen Aufenthaltsorte, an denen sie sich sicher und geborgen fühlen.
3.3.7 Die Freundinnen der
Bandenmitglieder
3.3.7.1 Aufgabenbereich der Mädchen
In den meisten Filmen haben die einzelnen Banden-mitglieder einen „Zahn“, das heißt eine Freundin. Der Chef hat einen „Stammzahn“, also eine ständige Freundin. Die verbindet die Rolle einer Assistentin und die einer Repräsentationspuppe. Zu kriminellen Unternehmungen nimmt der Chef sie mit, wenn das auserwählte Opfer über seine Sexualität auf die zu einer Auseinandersetzung notwendige Reichweite herangezogen werden soll. Sie spielt den Lockvogel.
Aber das ist nur eine Nebenaufgabe. Hauptaufgabe der Freundinnen, insbesondere der Freundin des Chefs, ist es, den Jungen ihre Männlichkeit zu bestätigen, ihr Selbstbewußtsein durch stillschweigende Anerkennung und Achtung, durch Folgsamkeit und Erweisung von Zärtlichkeiten zu steigern.
3.3.7.2 Das Zuhause der Mädchen
Es werden die gleichen häuslichen Verhältnisse gezeigt wie für die Jungen. Auch in den Elternhäusern der Mädchen herrscht Unfriede, oft Not und Armut. Vor allem das Bild einer sich abschuftenden alleinstehenden Mutter ohne rechten Lohn und ohne jede Anerkennung für ihre Arbeit veranlaßt die Mädchen, sich vorzunehmen, nie so ihr Dasein fristen zu wollen.
Die Schuld an ihrem Schicksal schreiben die Töchter zu einem großen Teil ihren Müttern selbst zu: Sie haben zu wenig Wert auf ihr Äußeres gelegt, haben sich abgearbeitet, ohne zu merken, daß die Arbeit, wie sich ja zeigt, keinen Erfolg bringt, sondern im Gegenteil sie ihrer einzigen Chance beraubt, von einem Mann begehrt und aus ihrer Not herausgeholt zu werden.
Bei den Müttern der höheren Gesellschaftsschichten können sich die Töchter über derlei Versäumnisse ihrer Mütter nicht beklagen. Mit ihren schönheitserhaltenden Torturen, die ihnen den Hausfreund sichern, verlieren diese Mütter jedoch jene Zeit für und jene Einstellung zu ihren Töchtern, die diese schmerzlich vermissen. Die Töchter vermissen den Rat und die Anleitung zur Meisterung ihrer Situationen. Die Nachahmung des mütterlichen Vorbilds bringt ihnen nur Enttäuschungen, da der Erfolg nicht im Geringsten mit ihren Erwartungen übereinstimmt.
Die Mädchen entbehren zuhause eine Orientierungsmöglichkeit. Das veranlaßt sie, diese bei Gleichalterigen zu suchen. Auf diese Weise geraten sie in die Nähe der Banden. Je mehr die Mädchen spüren, daß sie in der Entwicklung lebenstüchtiger Verhaltensweisen auf sich selbst gestellt sind, umso mehr streben sie weg von ihrem Elternhaus. Sie laufen weg und suchen bei großzügigen Verwandten oder einer Freundin Unterschlupf. Ihr Pech ist, daß diese Verwandten oft Dirnen oder fordernde Männer sind.
3.3.7.3 Bandenfeste
Hin und wieder veranstalten die Banden eine Party oder Fete. Zwei voneinander völlig verschiedene Tanzstile lassen sich bei diesen Feten oder Partys beobachten. Einmal die vollkommen unerotische Tanzweise zu heißen, lauten und schnellen Rhythmen, zum anderen die sexuell betonte zu langsamen, trägen und leisen Tönen im Stile von Blues. Man tanzt stumm mit unbewegtem Gesichtsausdruck. Bei den schnellen Rhythmen haben die Mädchen ein weitaus größeres Maß an Bewegung zu leisten als die sie drehenden und schleudernden Jungen.
In den langsamen Tänzen unterscheiden sich die Partner in Bewegung und Haltung kaum voneinander. Finden die Feten im Haus eines wohlhabenden Bandenmitglieds oder einer der Freundinnen statt, wird der Hausherr von seinem Whisky und anderen scharfen Sachen kaum etwas wiederfinden. Trifft man sich in einer Bar oder einem Espresso, nimmt man mit weniger scharfen Getränken vorlieb.
3.3.7.4 Die Konfliktsituation
der Mädchen
Eine charakterliche Scharfzeichnung der Mädchen erfolgt nicht. Man begnügt sich damit, das Äußere zur Geltung zu bringen und ihre Situation anzudeuten. Die Mädchen bewundern die Jungen, weil sie in ihren Taten und Verhaltensweisen ihre Einstellung zu den Erwachsenen rücksichtslos zur Geltung bringen, die Einstellung, die auch die Mädchen beseelt und die daher eine Genugtuung empfinden, wenn die Jungen gleichsam auch stellvertretend für sie handeln.
Daß die Jungen sie an ihren Taten nicht oder nicht gleichberechtigt teilnehmen lassen, sehen sie als Naturgegebenheit ihrer Weiblichkeit ein. Daß aber die Jungen sie nur für ihre sexuellen und Prestigebedürfnisse engagieren, ohne jene Bestätigung ihrer Persönlichkeit zu erfahren, die sie den Jungen bereit sind zu geben, bringt sie in den Konflikt, ob sie bedingungslos sich den Forderungen und Verhaltensweisen der Jungen anpassen oder eine gewisse Reserve zurückbehalten sollen.
Drei Lösungen dieses Konflikts werden aufgezeigt. Die Freundin des Chefs hat sich dessen Verhaltensweise so konsequent angeeignet, daß sie den Mord schließlich ausführt, vor dem er im letzten Augenblick zurückschreckt („Die Halbstarken“). Es kommt zur Untreue dem Freund gegenüber. Doch diese Lösung hat ein Nachspiel: Die Bande, insbesondere der Chef, läßt sich nicht verschmähen. Unter Führung des Chefs wird das Mädchen aus der Bar gelockt, ihr Begleiter überwältigt, die Zappelnde in den Kofferraum gestopft, zu einem Wasserloch gefahren, hinabgestoßen und mit Schlamm beworfen („Die Hemmungslosen“).
Die dritte Lösung ist eine tröstliche wenn auch meist tragische: Die Mädchen finden den Mann ihrer Träume, der ihnen die ersehnte Bestätigung zuteil werden läßt. Da er aber in der Regel zu einer anderen Gruppe als der Bande gehört, findet die Erfüllung der Sehnsüchte meist ein tragisches Ende, indem die beiden getrennt werden oder einer von ihnen den Tod findet.
3.3.7.5 Kleidung und Frisur
der Mädchen
Es herrschen drei Kombinationen vor: 1. der weite petticoatgestützte Rock mit Bluse oder engem Pulli, dazu flache mokasinähnliche Schuhe; 2. der weite Rock wird mit einer eng anliegenden Hose vertauscht und der Pulli bleibt; 3. es wird ein enger Rock oder ein enges Kleid getragen, dazu Pumps mit hohen Absätzen. Die Frisur ist lang, offen oder zu einem Pferdeschwanz zusammengefaßt.