Übung 5: Wie man Satzungetümen zu Leibe rückt
“Dass solche Feststellungen über die nicht-rationalen Grundlagen der Wissenschaft (im institutionellen, moralischen und religiösen Bereich) heute auf sehr viel weniger Widerstand stoßen als vor 50 oder 100 Jahren, macht gleichzeitig deutlich, in welchem Maße die Wertschätzung der wissenschaftlichen Erkenntnis seit dem Mittelalter gestiegen ist — bis zu dem Punkt, wo sie als selbstverständlicher Grundwert unserer Kultur erscheint -, und dass in den letzten Jahrzehnten ihre Stellung in mancherlei Weise in Frage gestellt und angefochten wurde.” (Das Fischer Lexikon, Soziologie, 1958)
Wie rückt man so einem Satzungeheuer zu Leibe? Durch Befragung. Wie lautet die Kernaussage? Die Wertschätzung der wissenschaftlichen Erkenntnis ist gestiegen. Seit wann? Seit dem Mittelalter. Bis zu welchem Punkt? Bis zum selbstverständlichen Grundwert unserer Kultur. Aber? In den letzten Jahrzehnten in Frage gestellt und angefochten. Was wird gleichzeitig deutlich? Feststellungen der Wissenschaft stoßen auf weniger Widerstand. Weniger? Heute gegenüber der Zeit vor 50 oder 100 Jahren. Feststellungen worüber? Über die nicht-rationalen Grundlagen der Wissenschaft. In welchen Bereichen? Im institutionellen, moralischen und religiösen Bereich.
Gerade Autoren, die sich wissenschaftlich kompetent äußern wollen, haben oft Angst davor, sich einfach auszudrücken. Sie wollen sich nicht dem Vorwurf einer undifferenzierten Betrachtungsweise aussetzen. So kommt es zur Überfrachtung eines Satzes, bis zur Unverständlichkeit. Beim Reden geht es vielen Menschen ähnlich: Während sie sprechen, fällt ihnen noch dies und jenes ein, schießt ihnen in den Kopf, was man ihnen entgegen halten oder welches Missverständnis entstehen könnte — und dann wollen sie alles in einem Satz unterbringen, indem sie Nebensätze einbauen, Sätze nicht zu Ende bringen, Einfügungen außerhalb des Satzbaus machen, Adjektive und Adverbien einfügen. Niemand versteht sie; man ahnt nur, was sie sagen wollen. Auch da hilft nur: nachfragen.
Hätte ich diesen Satz zu redigieren gehabt, wäre folgender Text dabei herausgekommen: Die Wertschätzung der wissenschaftlichen Erkenntnis ist heute ein selbstverständlicher Grundwert unserer Kultur. In den letzten Jahrzehnten war die Stellung der Wissenschaft dennoch nicht unumstritten. Vor 50 oder 100 Jahren stießen Feststellungen über die nicht-rationalen Grundlagen der Wissenschaft sogar auf erheblichen Widerstand. — Mit dieser Überarbeitung hätte ich den Autor konfrontiert, um zu erfahren, ob er es so gemeint hat.
Unsere Zeitknappheit und unser Unwille, uns auf schwer verständliche Texte einzulassen, führen dazu, solche Lektüre abzubrechen. Dennoch die Empfehlung: Wenn Sie auf ein Satzungetüm stoßen, behandeln Sie es als willkommene Gelegenheit, sich im klaren und verständlichen Formulieren zu üben. Bringen Sie die Aussagen, die Sie durch das Beschießen mit Fragen herausholen, in einen präzise formulierten Text!