Dorothée Hugot

Erinnerungen an meine Kinder-
und Jugendzeit, 1935 bis 1945

Die Generation, deren Kindheit und Jugend von der Nazizeit und dem Zweiten Weltkrieg bestimmt wurde, ist in die Jahre gekommen, tritt nach und nach ab. Die Enkel-Generation hat in der Schule zu dieser dunklen Zeit des Dritten Reichs Daten und Fakten mitbe­kommen. Manche der jungen Leute möchten jedoch mehr erfahren. Sie fragen bei ihren Großeltern nach. So wurde auch meine Schwester – in Köln 1929 geboren, vier Kinder, neun Enkel­kinder – gebeten, als Zeitzeugin über ihr Erleben der 30er und 40er Jahre des vorigen Jahrhun­derts zu erzählen. Dieser Bitte ist sie wiederholt nachge­kommen. Zuletzt in einem Vortrag vor Studie­renden der Rheinisch-Westfä­­li­­schen Techni­schen Hochschule (RWTH) in Aachen.

1935 wurde mein Vater nach Aachen versetzt. Er war Beamter. Ich war fünf Jahre alt. Wir bezogen eine Wohnung im Stadt­zentrum, im dritten Stock des großen Eckhauses am Holzgraben in der Nähe des Elisen­brunnens. Heute ist im Erdge­schoss Mac Donald’s, damals war dort das Café Vaterland. Nach unserem Einzug machten wir uns mit den anderen Hausbe­wohnern bekannt. Darunter waren auch jüdische Familien, wie meine Eltern bemerkten. Besonders freund­schaftlich wurde der Kontakt zu der älteren Dame, die mit ihrer Haushäl­terin auf derselben Etage wohnte wie wir.

Fräulein Blech, so hieß die alte Dame, hatte ein sehr schönes Klavier, an dem ich etwas später meinen ersten Musik­un­ter­richt erhalten habe. Dieses Instrument hatte es mir vom ersten Augen­blick an angetan: Die zwei schwenk­baren Kerzen­halter aus blinkendem Messing, jeweils mit drei Kerzen bestückt, die Holzflächen mit Intar­si­en­ar­beiten verziert, Tasten aus Elfenbein. Fräulein Blech sei die Schwester des berühmten Dirigenten der Berliner Philhar­mo­niker, Leo Blech, sagten die Eltern. Wir hatten Schall­platten mit ihm und seinem Orchester.

Sie war eine würde­volle Erscheinung, hatte schloh­weißes Haar und war meistens schwarz gekleidet. Was mich faszi­nierte: Sie trug immer ein schwarzes Halsband aus Samt, etwa drei Zenti­meter breit, eng am Hals anliegend und mit kleinen farbigen Perlen bestickt. Sie und ihre Haushäl­terin waren mir sehr zugetan und haben mich mit Süßig­keiten verwöhnt.

Eine Etage tiefer gab es ein großes Schnei­der­atelier. Meine Mutter sagte mir, dass da sehr teure Kleider, Kostüme und Mäntel für die Haute­volee angefertigt würden. Mutter und Tochter führten das Geschäft. Ihre Wohnung lag gleich neben dem Atelier. Der Mann der Familie war viel auf Reisen. Von den Frauen wurde ich manchmal gerufen, um mir Stoff­reste auszu­suchen, aus denen ich mit meiner Mutter Puppen­kleider nähen konnte.

Was ich an unserem Wohnhaus in beson­derer Weise imponierend fand, war im Erdge­schoss das Café Vaterland. Es war vornehm und gemütlich zugleich, mit schönen Tischen und gepols­terten Stühlen, mit gerafften Volant­gar­dinen an den Fenstern. Und vor allem wurde dort Musik gespielt. Klavier und Geige. Ich träumte: Wenn du mal groß bist, dann darfst du da auch sitzen und Kaffee trinken und abends tanzen und Wein trinken!

Heilig­tums­fahrt

Weniger roman­tisch war der Verkehrslärm – aller­dings nicht durch Autos – die waren damals noch selten, sondern durch das lautstarke Quiet­schen der Straßen­bahnen, die durch den Holzgraben fuhren. Eine zweigleisige Strecke durch die engen Straßen der Innen­stadt. Sie fuhren weiter zum Damen­graben oder zum Elisen­brunnen. Andere fuhren durch die Adalbert­straße. Oft hat mich dieses Quiet­schen nachts aus dem Schlaf gerissen.

Unsere Pfarr­kirche war St. Foillan. Ich habe sie als sehr dunklen Raum in Erinnerung. Das Dunkel flößte mir eine gewisse Scheu ein; ich empfand es als eine geheim­nis­volle Atmosphäre. Da Religi­ons­un­ter­richt in den Schulen verboten war, gab es ein Angebot von der Pfarre, einen Katechis­mus­un­ter­richt nachmittags im Pfarrheim zu besuchen. Priester waren zu jener Zeit noch nicht rar. St. Foillan hatte einen Pfarrer, genannt Oberpfarrer, und zwei Kapläne. Einer von ihnen war Erich Stephany, der spätere Domkustos.

Im Jahr 1937 erlebte unsere Familie zum ersten Mal eine Aachener Heilig­tums­fahrt. Da die Nazis die Kirchen unter Druck setzten – wie ich heute weiß –, wurde diese Heilig­tums­fahrt sowohl zu einem Glaubens­zeugnis als auch zu einer starken Demons­tration gegen das politische System. An die 800 000 Gläubige nahmen an den kirch­lichen Feiern mit dem Zeigen der Heilig­tümer von den Galerien des Domes teil. Viele Bischöfe, unter ihnen Kardinal Schulte von Köln, Bischof von Galen aus Münster, Bischof Borne­wasser aus Trier, waren nach Aachen gekommen und legten gemeinsam mit den Gläubigen ein mutiges Zeugnis des Glaubens ab.

Ich erinnere mich, wie ich staunend an der Hand der Mutter oder des Vaters zum Dom gegangen bin, um das Zeigen der Heilig­tümer mitzu­er­leben. Am Abend durfte ich manchmal mitgehen, wenn meine Mutter zur Chorhalle ging, um einen Rosen­kranz oder ein Heili­genbild mit dem Marien­kleid in Berührung zu bringen. Auf meinen beson­deren Wunsch hin, nahm sie einmal unseren kleinen Klapp­altar für die häusliche Maian­dacht mit.

Vorboten des Unheils

Bevor das Unheil des Zweiten Weltkrieges über Europa herein­brach, gab es ein Ereignis, das mich zutiefst erschreckte: Die Reichs­kris­tall­nacht vom 9./10. November 1938. Die Synagoge am Prome­na­den­platz brannte, wir sahen die hohen Flammen gegen den nacht­dunklen Himmel vom Speicher­fenster aus. Die Schau­fenster jüdischer Geschäfts­leute wurden von SA- und SS-Leuten zertrümmert, die Läden demoliert, die Ware auf die Straße geworfen. Am Damen­graben und Holzgraben gab es einige jüdische Geschäfte. Unserem Haus schräg gegenüber war ein Schuh­ge­schäft. Am Morgen, als ich zur Schule ging, lagen die Schuhe in der ganzen Straße verstreut.

Schon vor dieser Nacht geschahen mir unver­ständ­liche Dinge, die mich verun­si­cherten. Auf den Straßen begeg­neten mir Menschen, markiert mit einem gelben Stern. Aufgrund der Erklä­rungen meiner Eltern ahnte ich, dass die Juden unter dem Naziregime immer stärkeren Repres­salien ausge­setzt waren. In welch grauen­voller Weise sie verfolgt und vernichtet wurden, habe ich erst viel später erfahren. Ich erlebte, dass Fräulein Blech ihre Wohnung aufgab. Meinen Eltern hat sie das von mir so geliebte Klavier verkauft. Dann war sie weg. Die Damen des Schnei­der­ate­liers wanderten nach England aus. Ich fand das alles sehr traurig.

Flucht aufs Land

Die politische Situation in Deutschland unter Adolf Hitler gab immer mehr zu Sorgen Anlass. Ich habe das nicht ernstlich wahrge­nommen. Ich merkte nur an meinen Eltern, an ihren Gesprächen, dass sie sich über die Zukunft Sorgen machten. Erst später habe ich erfahren, dass auf meinen Vater Druck ausgeübt wurde, weil er sich weigerte, in die natio­nal­so­zia­lis­tische Partei einzu­treten. Wohlmei­nende Ratgeber machten ihm klar, dass er seine Karriere bei der Reichsbank aufs Spiel setze, und das könne er seiner Familie doch nicht antun. Mein Vater ist aus Gewis­sens­gründen mit dem Einver­ständnis meiner Mutter nicht in die Partei eingetreten.

Die Naziauf­märsche auf dem Platz vor dem Elisen­brunnen nahmen zu. Die Häuser wurden mehr und mehr mit Haken­kreuz­fahnen beflaggt. Ich kann mich noch an die Lieder erinnern, mit denen die SA-Kolonnen durch die Straßen marschierten. Mein Bruder saß daumen­lut­schend auf der Fensterbank des Wohnzimmers und sah dem Treiben zu. Vergeblich versuchten die Eltern, ihn dort wegzu­holen. Er war sofort wieder da. Ja, ich hatte 1936 ein Brüderchen bekommen. Aller­dings war ich sehr enttäuscht, als mein Vater mir sagte: „Es ist ein Junge.” Denn je größer der Bauch meiner Mutter wurde, umso mehr versteifte ich mich darauf, ein Schwes­terchen haben zu wollen.

Wohl wegen uns Kindern hatten die Eltern in Hauset, einem Dorf gleich hinter der Grenze zu Belgien, ein Wochen­endhaus gemietet. Sie wollten uns von dem Propa­­ganda-Trubel der Nazi-Aufmärsche, die meistens am Wochenende statt­fanden, fernhalten.

An dieses Blockhaus knüpfen sich viele wunderbare, aber auch mit Angst verbundene Erinne­rungen. Das Häuschen hatte eine überdachte Veranda und zwei kleine Räume. Strom war da, aber kein Wasser. Das musste in circa 100 Meter Entfernung an einer Pumpe geholt werden. Die Miete betrug 10,00 Reichsmark pro Monat. Ich habe noch den Vertrag in einem Fotoalbum gefunden. Die Umgebung des Block­hauses war wunder­schön: Zwei Wiesen, Laubwald zur Straße hin und ein großer Kiefernwald. Waldbeer­sträucher, wilde Erdbeeren, Adlerfarn. Das Grund­stück war ein Teil vom so genannten „Großen Busch” von Hauset.

Samstag­nach­mittags fuhren wir mit der Straßenbahn vom Theater in Aachen bis zur Grenze, dann kontrol­lierten uns die Zollbe­amten und weiter ging es mit einer belgi­schen Straßenbahn bis zur Halte­stelle „Hause­terweg”. Sonntag­abends kehrten wir zurück. Mein Vater ging seinen Hobbys nach: Malen und Fotogra­fieren. Im Frühjahr und Sommer nahm er mich mit zum Botani­sieren: Wir haben Blumen gesammelt und ihre Namen zuhause anhand eines schlauen Buches bestimmt, in eine Blumen­presse mittels Botani­sier­be­steck eingelegt, gepresst, in ein Album übertragen und beschrieben. Meine botani­schen Kennt­nisse stammen vornehmlich aus dieser Zeit.

Zu Besuch in Mecklenburg

Die Sommer­ferien 1939 verbrachte ich in Mecklenburg. Dort lebte eine Schwester meines Vaters mit ihrem Mann und ihren drei Kindern. Sie war meine Paten­tante. Mein Onkel verwaltete dort ein großes landwirt­schaft­liches Gut. Er hatte in Köln beruflich zu tun gehabt und nahm mich Anfang der Sommer­ferien mit auf die erste große Reise meines Lebens. Ich war neun Jahre alt. Wir fuhren viele Stunden mit dem Zug, mussten auch ein paar Mal umsteigen, bis wir in einem kleinen Ort, Fried­richsruhe in Mecklenburg, ankamen. Eine große Überra­schung: An dem kleinen Bahnhof wartete eine Kutsche mit zwei Pferden auf uns. Der Kutscher begrüßte sehr respektvoll meinen Onkel und dann auch mich, verstaute unser Gepäck, half uns beim Einsteigen, und dann begann eine wunder­schöne Fahrt durch weite Felder, durch Laubwälder, an größeren und kleineren Seen vorbei nach Frauenmark.

Diesen Namen konnte man nur auf Messtisch­blättern finden, in keiner Karte sonst, weil es dort nur das große herrschaft­liche Gut und eine einzige Straße – weder gepflastert noch geteert – mit kleinen unschein­baren Häusern gab, in denen die Arbei­ter­fa­milien wohnten. Das Einbringen der Ernte musste in harter körper­licher Arbeit besorgt werden. Landwirt­schaft­liche Maschinen, die mähen, dreschen, Stroh und Körner trennen konnten – alles in einem Arbeitsgang – waren noch nicht erfunden.

Ich habe mich in den ersten Wochen bei meinen Verwandten sehr wohl gefühlt. Mit meinen Kusinen konnte ich die meiste Zeit im Freien verbringen: im Garten, auf der angren­zenden Wiese, am nächst­ge­le­genen See oder auch in einem nahe gelegenen Buchenwald. Aber die Erwach­senen sprachen immer besorgter von einem bevor­ste­henden Krieg. Die häuslich ländliche Idylle wurde jäh gestört, als mein Onkel Mitte August 1939 den Einbe­ru­fungs­befehl erhielt, 14 Tage vor Ausbruch des Krieges.

Ich erinnere mich, dass meine Tante mit meinem kleinen Vetter auf dem Arm, noch einem Säugling, meine Kusinen und ich im Flur beim Abschied weinten und mein Onkel sich selbst und uns zu trösten versuchte: „Weihnachten spätestens ist alles vorbei und ich bin wieder bei euch!” Statt­dessen: Neun Jahre ist er weg gewesen. Nach dem Krieg in russi­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft. Meine Tante ist mit ihren drei kleinen Kindern vor den Russen geflohen, ins Bergische Land, ihre Heimat.

Die Luftan­griffe

Am 10. Mai 1940 marschierten die deutschen Truppen in Holland und Belgien ein. Schwerer Artil­le­rie­be­schuss war von weitem zu hören. Kurz darauf erlebten wir den ersten Luftan­griff. Und weitere folgten. Für die Bewohner unseres Hauses war ein Luftschutz­keller unter dem Hinterhaus einge­richtet worden. Wir mussten von der dritten Etage des Haupt­hauses über einen freien Hof, um dorthin zu gelangen. Das Sirenen­geheul riss uns aus dem nächt­lichen Schlaf. In Windeseile musste man sich anziehen, das vorbe­reitete Gepäck schnappen und schnellstens die drei Stock­werke hinun­ter­laufen, um im Keller zu sein, bevor das Pfeifen der Bomben mit anschlie­ßender Explosion sowie das Flakab­wehr­feuer losgingen.

Oft haben wir es nicht geschafft, obwohl wir uns schon bald vor dem Schla­fen­gehen nicht mehr umzogen. Einmal waren wir so spät dran, dass die Eltern es nicht mehr wagten, mit uns in den Keller zu laufen. Da mein Schlaf­zimmer an der Giebelwand zum Nachbarhaus lag und mein Bett direkt davor stand , haben wir uns alle vier auf das Bett gehockt. Denn mein Vater sagte, wenn eine Spreng­bombe das Haus träfe, würde vielleicht an dieser Wand durch die Veran­kerung der Eisen­träger das Zimmer nicht in die Tiefe stürzen. Die Überlegung meines Vaters stimmte: Ich habe viele von Bomben getroffene Häuser gesehen, deren Zimmer in den oberen Stock­werken noch zur Hälfte vorhanden waren. Da standen noch Tische, Stühle, Schränke und anderes Mobiliar in luftiger Höhe, ein grotesker Anblick!

Bald gab es auch tagsüber immer wieder Luftalarm. Es wurde ein neues Sirenen­warn­geheul einge­führt, der so genannte Voralarm. Dreimal wieder­holte sich ein hoher Dauerton. Der meist folgende Haupt­alarm rief durch sein Auf und Ab der Tonfolgen einen erhöhten Angst­zu­stand hervor. Bei Voralarm ging das öffent­liche Leben noch weiter. Aber bei Haupt­alarm hatte die ganze Bevöl­kerung die Luftschutz­keller oder die mittler­weile aus Beton errich­teten Luftschutz­bunker aufzu­suchen. Mit der Einführung des Voralarms ging für die Schulen der Befehl einher, sofort den Unter­richt abzubrechen und mit allen Klassen in einen Bunker zu gehen.

Umzug nach Hauset

Meine Eltern überlegten, ob ständiges Wohnen in unserem Wochen­endhaus machbar sei. Dort wären wir weniger gefährdet und müssten nicht stundenlang in einem Bunker oder Keller hocken. Anderer­seits wäre die ganze Lebens­führung recht schwierig. Der vordere, etwas größere Raum würde als Küche, Esszimmer, Wohn- und Arbeits- sowie als Schlafraum meiner Mutter dienen. Er war beheizbar: mit einem alten Küchenherd, der mit Holz oder Briketts zu befeuern war.

In dem zweiten Raum, mit einer Doppeltür in den Wald hinaus, stand ein Etagenbett mit einer Schlaf­stelle unten – dort schlief mein Vater – und einer oben für meinen Bruder, direkt unter der Holzdecke des mit Teerpappe abgedeckten Daches. Ich schlief in einem schmalen Einzelbett auf der anderen Seite des Ganges. Es gab noch einen Schrank, eine Wasch­schüssel auf einem Eisen­ge­stell und gleich an der Außentür einen Kasten mit Sitzloch und Nachttopf darunter. Nach Gebrauch war dieser im Wald in einem zu grabenden kleinen Loch auszu­leeren und anschließend zu säubern. Wasser­holen zum Kochen und Waschen war Aufgabe von uns Kindern: mit einem Boller­wagen von dem etwas entfernt liegenden Brunnen mit Pumpe.

Sollten wir diese Lebens­um­stände, die wir von den Wochen­enden her kannten, dauerhaft auf uns nehmen? Wir Kinder waren dafür. Aber was war mit dem Einkaufen? Mit der täglichen Fahrt nach Aachen? Der Vater musste zur Bank, wir Kinder zur Schule. Wir sind umgezogen. Die Fahrzeiten der Straßenbahn nach Aachen diktierte den Tages­ablauf: Über eine Stunde zu Fuß und mit der Bahn zur Bank und zur Schule. Auch das Einkaufen wurde beschwerlich. Zwar gab es für die Bezugs­marken immer weniger, aber dann musste das Wenige nach Hause geschafft werden. Aber wir konnten nachts wieder durchschlafen.

Da der Schul­un­ter­richt wegen Bomben­alarm immer häufiger ausfiel und wir Kinder statt­dessen Stunden in einem Beton­bunker verbringen mussten, trafen meine Eltern die Entscheidung, meinen Bruder auf die Dorfschule in Hauset zu schicken. Mir schlugen sie den Besuch der Höheren Schule in Eupen vor. Die Lehrer und Schüler dort kamen mir sehr wohlwollend entgegen. Die Fahrt dorthin dauerte zwar länger als die nach Aachen; aber das schöne helle Schul­ge­bäude erfreute mich und vor allem war ich von Angst befreit: Es gab kein Sirenen­geheul, keine Flieger­an­griffe und keine stunden­langen Bunker­auf­ent­halte mehr. Für die Alliierten war Eupen eine belgische Stadt, auch wenn sie seit dem deutschen Einmarsch dem „Reich” einge­gliedert worden war.

Musik­un­ter­richt und Kürbiszucht

In Kauf nehmen musste ich den Weg durch dunklen Wald zur Halte­stelle der Straßenbahn. Im Winter und bei Regen manchmal recht unheimlich. Ein Tag in der Woche forderte besonders viel Einsatz: Ich fuhr morgens mit Schul­tasche und Geige und Noten nach Eupen, nach Schul­schluss mit der Straßenbahn nach Aachen, dort ging ich zur Rathen­au­allee zum Geigen­un­ter­richt. Erst im späten Nachmittag erreichte ich schließlich wieder unser Blockhaus.

Hausauf­gaben für die Schule fielen dann auch noch an. Zum Geigen-unter­richt: Nachdem durch die Kriegs­ver­hält­nisse kein Klavier­un­ter­richt mehr möglich war, hatten mir meine Eltern auf Anraten meines Musik­lehrers eine Geige gekauft. Auch die Geigen­leh­rerin hatte der Musik­lehrer für mich gefunden. Nun hieß es üben. Das war nicht ganz einfach wegen des beengten Raumes. Ich wurde in das hintere Zimmer verbannt, hatte einen Tisch­no­ten­ständer, den ich auf das Plumeau meines schmalen Bettes platzierte – der aber immer wieder umkippte – und versuchte schlecht und recht mein Pensum zu üben.

Der Krieg nahm weiterhin seinen schreck­lichen Verlauf. Mein Bruder und ich wussten aber nicht genau, was da geschah. Wir regis­trierten die Bomber­ge­schwader, die in großer Höhe über uns hinweg zogen, hörten die Sirenen und die Flakge­schütze. Doch wir gingen ganz in unserem Kinder­alltag auf. Wir hatten ein unerschüt­ter­liches Vertrauen zu unseren Eltern, die schon alles zu unserem Besten regeln würden.

Eine der beiden Wiesen, die zu unserem Grund­stück gehörten, war von den Eltern zu einem Nutzgarten umfunk­tio­niert worden. Kartoffel und Gemüse wurden angebaut, und wir Kinder hatten jeder sein eigenes Stückchen Erde bekommen, das wir nach unseren Wünschen bepflanzen konnten. Ich hatte mich für Monats­erd­beeren, Radieschen und Möhren entschieden, während mein Bruder sich im Kürbis­anbau versuchte. Mit großem Erfolg! Im Spätsommer 1944 wuchs ein Riesen­ex­emplar heran, das immer wieder von unseren Freunden bewundert wurde. Leider ist dieser Kürbis beim Artil­le­rie­be­schuss im September 1944 zerfetzt worden.

Durch den Garten und die freund­schaft­liche Verbindung zu den benach­barten Bauern haben wir trotz Lebens­mit­tel­knappheit keinen Hunger gelitten. Den mörde­ri­schen Krieg haben wir in der Folgezeit noch hautnah zu spüren bekommen.

Der Luftan­griff vom 13. auf den 14. Juli 1943

Bei der Reichsbank waren nicht alle Mitar­beiter zum Militär­dienst einge­zogen worden. Wer gesund­heit­liche Probleme hatte oder schon älter war, wurde „unabkömmlich” gestellt. Mein Vater gehörte dazu. Wie alle musste auch er mit einem oder zwei Kollegen von Zeit zu Zeit Nacht­wache halten. Sie sollten bei Luftan­griffen die Brand­bomben löschen, die durch die Fenster oder den Dachstuhl in das Gebäude einschlugen.

In der Nacht zum 14. Juli hatte mein Vater Nacht­wache und es gab einen Großan­griff auf Aachen. Sirenen heulten, Bomber dröhnten, Flakge­schütze donnerten. Dass der Angriff Aachen galt, erkannten wir an den „Christ­bäumen”: Das waren Leucht­körper, die als Markierung des Zielge­bietes über der Stadt abgeworfen wurden. Die schweren Explo­sionen der Bomben dröhnten trotz der kilome­ter­weiten Entfernung und der dazwi­schen liegenden Waldberge dumpf bis zu uns herüber. Der Himmel hinter dem Wald färbte sich glutrot durch die brennenden Häuser der Stadt. Es war ein Inferno und wir wussten: Unser Vater ist mittendrin! Wir waren wie gelähmt vor Angst, schlafen war unmöglich, beteten mit der Mutter.

Irgendwann kehrte Stille ein. Der glutrote Horizont blieb bis zum Morgen­grauen. Stunden vergingen. Im Laufe des Vormittags kamen erst vereinzelt, dann immer mehr Menschen aus der Stadt: zu Fuß mit Handgepäck, auf Lastwagen, zum Teil mit Möbeln auf der Ladefläche. Unser Vater kam nicht. Unser Bangen um ihn wurde unerträglich. Von den Flücht­lingen hörten wir von den furcht­baren Zerstö­rungen, und dass die Stadt teilweise noch brannte. Gegen Mittag hielt unsere Mutter das Warten nicht mehr aus; sie machte sich auf den Weg nach Aachen. Wir Kinder mussten bei einer benach­barten Bäuerin bleiben.

Am späten Nachmittag kam unsere Mutter erschöpft zurück. Sie fragte mit angstvoll erregter Stimme: „Ist der Vater da?” „Nein”. Sie sank weinend auf einen Stuhl. Erst nach einiger Zeit erzählte sie: per Anhalter bis zur Normaluhr, vorbei an ausge­brannten Häusern und über Trümmer­berge bis zur Reichsbank. Das Gebäude war nur wenig beschädigt. Sie fand den Hausmeister, der berichtete, dass unser Vater und seine Kollegen die Brand­bomben, die den Bau trafen, hätten löschen können. Dann habe er sich, nachdem er an keine größere Gefahr mehr glaubte, verab­schiedet, um am Holzgraben nach unserer Wohnung zu sehen.

Daraufhin habe sie versucht, zum Holzgraben zu kommen. Am Theater durch­zu­kommen, sei gefährlich gewesen, weil es dort noch gebrannt habe. Beißender Rauch, Gestank und die Hitze hätten es fast unmöglich gemacht. Aber die Angst und Sorge um den Vater hätten sie voran­ge­trieben. Der Elisen­brunnen läge in Trümmern; aber unser Haus am Holzgraben sei unver­sehrt. Das Kino, linker Hand vom Café Vaterland zur Ursuli­ner­straße hin, habe noch gebrannt. Ebenso das rechte Nachbarhaus. Die Häuser gegenüber: einge­stürzt und zerstört.

In unser Haus sei sie nicht gekommen. Den Holzgraben habe man wegen eines Blind­gängers – oder wegen einer Zeitzün­der­bombe – weiträumig abgesperrt. Man habe sie nicht durch­ge­lassen. Es hieß: Das Haus sei ohnehin geräumt worden. Niemand befände sich mehr darin. Die Bombe könne jederzeit hochgehen. Sie habe überlegt, in den Kranken­häusern nach unserem Vater zu suchen, dann aber beschlossen, wieder nach Hauset zu fahren in der Hoffnung, dass er zwischen­zeitlich dort angekommen sei.

Mit meiner Mutter auf der Suche nach meinem Vater

Nachdem meine Mutter sich ein wenig erholt hatte, erklärte sie, dass sie noch einmal nach Aachen wolle, um die Suche wieder aufzu­nehmen. Ich bettelte, mitkommen zu dürfen. Sie gab nach. Bald standen wir an der Eupen­er­straße als Anhal­te­rinnen und wurden nach kurzer Zeit von einem Lastwa­gen­fahrer mitge­nommen. Er hatte schon mehrere Fahrgäste, und wir saßen nun mit diesen hinten auf der offenen Ladefläche.

Als wir zum Krugenofen kamen, sah ich die zerstörten Häuser. Fassaden standen teilweise noch, über den Fenster­lö­chern schwarz verrußt vom Feuer. An einem Holztor züngelten noch kleine Flammen. Auch aus den Trümmern dahinter kräuselten sich Rauch­fahnen hoch. Und über allem ein beißend ätzender Gestank. Man konnte kaum atmen. Das Bild dieser Fahrt hat sich mir für immer einge­prägt. Kurz vor der Normaluhr mussten wir aussteigen, weil eine Weiter­fahrt zur Theater­straße nicht möglich war.

Wir bahnten uns den Weg über die Trümmer­berge. Als wir das Reichs­bank­ge­bäude erreichten, fanden wir bald den Hausmeister. Er sagte uns: „Ihr Mann lebt! Er hat den ganzen Tag mit anderen zusammen im Haus am Holzgraben gelöscht, um ein Übergreifen des Feuers von den Nachbar­häusern zu verhindern. Er war vor einer halben Stunde hier und ist jetzt auf dem Weg nach Hauset.”

Es ist kaum zu beschreiben, was diese Nachricht bei meiner Mutter und mir auslöste. Wir haben vor Freude und Erleich­terung geschrien und fielen uns um den Hals. Die Angst, die Bedrü­ckung der Ungewissheit, welche die Möglichkeit des Todes oder einer schweren Verletzung nicht ausschließen konnte, wich einer grenzen­losen Erleich­terung. Es war, als ob Bleige­wichte von uns abfielen.

Als wir nach Hauset kamen, erschraken wir beim Anblick unseres Vaters: Rot und verquollen sein Gesicht, die Augen nur noch schmale Schlitze, die Stimme heiser flüsternd. Er war vollkommen erschöpft. Trinken und schlafen war sein einziger Wunsch. Es dauerte lange, ehe er sich von dieser Bomben-Nacht erholte.

Bericht meines Vaters von der Bombennacht

Das Haus am Holzgraben hatte er gemeinsam mit noch einigen anderen Bewohnern gerettet. Er war von der Reichsbank kommend in den Luftschutz­keller gelaufen. Dort traf er die verblie­benen Hausbe­wohner an. Die einsatz­fä­higen Männer bat er, mit ihm ins Haus zu gehen, um Brand­stellen zu löschen. Sonst würde das Haus bald in Flammen aufgehen. Vier Männer und eine Frau folgten ihm.

Bereits im Treppenhaus stießen sie auf eine brennende Brand­bombe, die sie durch einen der bereit stehenden Sandsäcke unschädlich machten. Jeder ging zunächst in seine eigene Wohnung. Danach wollte man sich im Treppenhaus treffen, um das Dachge­schoss zu überprüfen. Im Schlaf­zimmer der Eltern brannten, ebenfalls durch eine Brand­bombe, die Gardinen. Das war meistens das Erste: Die Brand­bomben durch­schlugen die Fenster und setzten Gardinen und Teppiche in Brand, der dann auf das Mobiliar übergriff.

Als man das Dachge­schoss inspi­zierte, das mit seinen Giebeln an die benach­barten, bereits in Flammen stehenden Häuser grenzte, roch es bereits nach Brand, ausgelöst durch Balken, die mit ihren Enden im Mauerwerk staken und die auf der anderen Seite brannten. Das Feuer suchte sich durch Glimmen und Schwelen des Holzes seinen Weg durch die Mauern. Da auf dem Speicher auch die Wasch­küche mit großen vollen Wasser­becken und Eimern war, konnten sie sofort mit dem Löschen beginnen. Damit waren sie den ganzen Tag beschäftigt.

Von einem Blind­gänger oder einer Zeitzün­der­bombe in der Straße, von einer Räumung des Hauses, erfuhr die Lösch­gruppe, die meisten­teils auf dem Dachge­schoss war, nichts. Am Nachmittag überlegte man, mal auf die Straße zu gehen, um zu sehen, wie die Gesamt­si­tuation am Holzgraben aussah. Während sie noch darüber sprachen, erschüt­terte eine gewaltige Explosion das Haus. Es sei wie ein Erdbeben gewesen, sagte mein Vater. Sie warfen sich auf den Boden, Wände krachten, Staub und Dreck ging auf sie nieder: Die Bombe war detoniert. Wären sie fünf Minuten früher auf die Straße gegangen, hätten sie wohl kaum überlebt.

Unsere Wohnung? Alle Zimmer zur Straße hin, so berichtete mein Vater, seien durch Staub und Dreck verwüstet, eine Mauer stände schief und habe Risse, die Wohnung sei unbewohnbar geworden. Die Möbel könne man wohl noch retten, wenn man eine Unter­stell­mög­lichkeit fände.

Rückzug der deutschen Armee

Anfang September 1944: Der Krieg rückte unmit­telbar auf uns zu. Die deutsche Wehrmacht war auf dem Rückzug. Und sie zog über die Landstraße direkt an unserem Grund­stück vorbei. Die Erde bebte drei Tage lang: Panzer­fahr­zeuge, Geschütze, Lastwagen. Mein Bruder hatte einen Aussichts­punkt auf einer Böschung oberhalb der Straße bezogen. Dort war er nicht wegzu­kriegen. Auf den Fahrzeugen Soldaten. Aber auch dazwi­schen: zu Fuß oder auf Motor­rädern. Meine Eltern sprachen einige Soldaten an. Sie waren ernst und wollten nichts sagen. Auf die Frage, ob sie den Westwall besetzen würden, zuckten sie die Schultern. Es sei möglich. Für diesen Fall wäre es besser für uns zu fliehen.

Für das ganze Gebiet erließen die Deutschen einen Räumungs­befehl. Die Bauern sollten ihr Vieh an bestimmten Plätzen abliefern. Die Menschen sollten sich an festge­legten Stellen sammeln, um in Marsch­ko­lonnen den Weg nach Deutschland anzutreten. Frauen mit kleinen Kindern würden gefahren. Niemand folgte dem Befehl. Der für das Gebiet zuständige Partei­führer flüchtete mit seinem Auto. Er wohnte mit seiner Familie in einer beschlag­nahmten Villa. Dumpfes Donner­rollen aus der Ferne ließ das Heran­nahen der Front ahnen. Da bekamen es einige doch noch mit der Angst zu tun und flohen.

Die Soldaten hatten uns geraten – wenn wir denn nicht fliehen würden –, in einem Erdloch Schutz zu suchen, sobald das Artil­le­rie­feuer losginge. Ein solches Loch war in Vorbe­reitung, aber nicht als Schutz vor Granaten, sondern um den Inhalt des Nacht­topfs nicht mehr bei jedem Wetter entsorgen zu müssen. Dieses Loch, vielleicht zweimal zwei Meter und anderthalb Meter tief, richteten wir mit einem provi­so­ri­schen Einstieg über eine Leiter her. Dass es in einer solchen Grube sicherer als im Haus sein sollte, konnten wir Kinder uns nicht vorstellen.

Das Grollen in der Ferne verstummte. Eine unheim­liche Stille breitete sich aus. Dann bekamen wir Besuch: Zwei junge Kerle, an den schwarzen Uniformen als SS-Leute zu erkennen, legten ihre Fahrräder ans Haus, kamen auf die Veranda und befahlen uns zu fliehen. Mein Vater lag kränkelnd im Bett. Sie sagten, es würde eine furchtbare Schlacht geben. Der Führer habe die Truppen aus takti­schen Gründen auf die Reichs­grenze zurück­ge­zogen, der Westwall sei bereits besetzt und die Ameri­kaner würden in eine Falle gelockt. Wir lägen genau im Schussfeld vor dem Westwall. Schon bald werde die Artil­lerie losfeuern.

Meine Mutter sagte ihnen, ihr Mann sei gar nicht reise­fähig. Die zwei hatten es eilig. Sie nahmen der Mutter das Versprechen ab, am nächsten Tag zu fliehen. Wir hatten Angst. Wenn es doch stimmte, was sie sagten? Aber wohin fliehen? Es gab nur eine Möglichkeit: Zu unserer Oma ins Bergische Land, östlich von Köln, der Heimat meines Vaters. Bei der Oma waren noch zwei Tanten mit ihren Kindern. Die Männer waren im Krieg. Unsere Oma und die beiden Tanten mit ihren Kindern sind bei einem der letzten Bomben­an­griffe ums Leben gekommen.

Zuflucht in der Villa eines Nachbarn

Die Stille hielt an. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Mit meiner Mutter wollte ich noch zum Brotkaufen ins Dorf. Aber auf halbem Weg setzte das Pfeifen und Zischen von Geschossen ein, dass wir erschrocken zum nächsten Bauernhaus rannten. Erst als es einige Zeit später wieder ruhig war, liefen wir schnell zurück nach Hause. Mein Vater und mein Bruder waren froh, dass uns nichts passiert war. Die folgenden Tage waren weitgehend still. Nur manchmal hörten wir das Gebrumm eines Flugzeugs.

Der Eigen­tümer einer Villa in der weiteren Nachbar­schaft kam zu uns. Er machte uns ein großar­tiges Angebot: Bei Beschuss könnten wir mit ihm und seiner Frau den massiven Keller seines Hauses nutzen, und wohnen könnten wir in seinem Gartenhaus; die Mieter seien Hals über Kopf geflohen. Wir waren noch mit dem Packen der Habse­lig­keiten beschäftigt, die wir mitnehmen wollten, als schlag­artig heftiger Artil­le­rie­be­schuss einsetzte: Die ersten Einschläge direkt in unserer Nähe. Wir rannten zu unserem Erdloch, kletterten rein und hockten uns auf den Boden, dicht anein­ander gedrückt. Rund herum schlugen die Granaten ein. Bäume krachten, Explo­sionen, Pfeifen, Zischen. Laub und Äste fielen auf uns herunter. Wir haben geschrien und gebetet, beides gleichzeitig.

Irgendwann wurde es wieder still. Wir stiegen benommen aus unserer Grube und sahen (in) einen zerfetzten Wald. Unsere Block­hütte stand, nur von ein paar Splittern getroffen. Im Garten einige Granat­trichter. Die Eltern trieben zur Eile. Der nächste Beschuss kam bestimmt. Bis dahin sollten wir beim Nachbarn sein. Mit den notwen­digen Habse­lig­keiten zogen wir um. Auf der Wiese links der Straße lagen tote Kühe. Und der Stall war getroffen. Von unserem Gastgeber erfuhren wir, dass der Bauer noch während des Beschusses in Panik geflohen sei. Das nächste Artil­le­rie­feuer setzte ein. Aber jetzt saßen wir in einem Keller mit dicken Mauern. Mit Decken und Polstern fast gemütlich.

Am Abend gab es plötzlich Lärm an der Haustür. Zwei deutsche Soldaten wollten oben ins Haus, wo ein kleines Türmchen war. Als die Soldaten wieder gingen, sagten sie, das Türmchen werde unter Beschuss genommen. Denn die Ameri­kaner könnten es als Beobach­tungs­posten benutzen. Wir sollten im Keller bleiben, es handelte sich ja nur um das oberste Stockwerk. Am nächsten Tag legte die deutsche Artil­lerie wieder los. Wir hörten Fenster­scheiben zersplittern. Unser Nachbar sah im Haus nach: Eine Granate hatte das Badezimmer getroffen. Das Türmchen stand.

Auftauchen der Amerikaner

Am Nachmittag wurde es erneut ganz still. Wir gingen nach draußen. Mit meinem Vater spazierte ich vorbei am Gartenhaus in den Wald hinunter. Plötzlich hörten wir Geräusche vom Ende des Waldes her. Dort endete das Grund­stück an einem Zaun vor einer großen Wiese. Wir gingen hin: Die Ameri­kaner waren da. Panzer standen an den Rändern der Wiese unter den überra­genden Zweigen des umgebenden Waldes. Dazwi­schen Soldaten mit Stahl­helmen. Sie schlugen Zweige von den Bäumen, um ihre Panzer noch besser zu tarnen. Einige hatten kleinere Zweige in die Netze ihrer Stahl­helme gesteckt. Das sah lustig aus.

Wir wurden bemerkt, einige Soldaten kamen zu uns an den Zaun. Mein Vater sprach etwas Englisch und so kam es gleich zu einem Gespräch. Sie wollten wissen, ob deutsche Soldaten in der Nähe seien? Und: „Where is the Siegfried-Line?” Damit meinten sie den Westwall. Sie waren sehr freundlich, boten meinem Vater eine Zigarette an, mir Kaugummi. Ich war sehr aufgeregt beim Erleben dieser fremden Menschen und dem Anblick dieser geballten Kriegsmacht.

Auch mein Bruder hatte einen ersten Ameri­kaner gesehen. Er ging mit unserem Nachbarn über die Einfahrt der Villa, als sich am Rand des Fahrwegs Zweige bewegten. Ein Stahlhelm mit geschwärztem Gesicht darunter tauchte auf. Der Soldat sah sich um, dann stand er auf, ging zu den beiden und fragte auf Deutsch: Soldaten hier? Wer ist im Haus? Als er erfuhr, dass keine deutschen Soldaten da seien, verschwand er lautlos wieder die Böschung hinunter.

In den nächsten Tagen richteten sich die Ameri­kaner im Großen Busch von Hauset ein. In unserer unmit­tel­baren Nachbar­schaft. Neben unserem Blockhaus wurde ein großes Küchenzelt aufgebaut. Daneben ein Speisezelt. Und manchmal wurden auch weiße Tisch­tücher aufgelegt. Wohl für den General und seine Leute. Wir haben sie aller­dings kaum zu Gesicht bekommen. Sie kamen unregel­mäßig und waren schnell wieder weg. Es gab einen regen Jeepverkehr. Die Soldaten beschenkten uns Kinder mit Schokolade, Keksen und Kaugummi.

Wenn in der Küche Speisen übrig waren, riefen uns die Soldaten, gaben uns die Reste und machten uns gesten­reich klar, dass wir sie nach Hause bringen sollten. An solchen Tagen fiel für unsere Mutter das Kochen aus. Das war für sie sehr hilfreich, weil es nur wenige Vorräte gab, aus denen sie eine Mahlzeit kochen konnte. Mein kleiner Bruder hatte sich mit einem Sanitäter angefreundet. Der nahm ihn in seinem Jeep überall hin mit. Mein Vater unter­hielt sich mit dem Mann. Er habe zuhause einen Sohn in dem gleichen Alter. Spätestens Weih-nachten hoffe er wieder bei seiner Familie zu sein. Die Deutschen hätten doch keine Chance mehr, den Krieg zu gewinnen.

Kein Ende des Krieges

Nach einiger Zeit hatten wir eine ganze Reihe ameri­ka­ni­scher Freunde. Die kamen abends allein oder zu zweit nach Einbruch der Dunkelheit zu unserem Gartenhaus, brachten Fleisch, Getränke und Konserven mit – und Lecke­reien für uns Kinder. Wir hatten keinen Mangel mehr. Das waren prächtige Kerle. Mir schien, sie waren nicht gerne Soldaten; sie wollten alle möglichst schnell wieder nach Hause. Die Deutschen sollten kapitu­lieren, meinten sie. Jeder weitere Tag würde nur sinnlos weitere Tote mit sich bringen. Sie tranken manchmal ein bisschen viel bei uns. Dann versuchte mein Vater, sie freundlich aber bestimmt nach draußen zu kompli­men­tieren. Ich wurde ins Bett geschickt.

Auf den Wiesen der anderen Straßen­seite, die sich nach Norden zum Westwall und nach Aachen hin neigten, bauten die Ameri­kaner Artil­le­rie­ge­schütze auf. Wenn die feuerten, durften wir nicht über die Straße, in die Nähe der Stellungen durften wir ohnehin nicht. Nur meinen Bruder haben sie mal ran gelassen und er durfte durch ein Fernglas sehen. Er habe Rauch­wolken gesehen, sagte er. Aachen wurde beschossen und bombar­diert. Abends fragten die Soldaten, warum Aachen denn nicht kampflos übergeben werde? Die Situation der Stadt sei aussichtslos.

Nach den ameri­ka­ni­schen Front­truppen, die eines Tages aufbrachen, rückte der Nachschub ein. Die waren bei weitem nicht so freundlich. Und sie waren knauserig. Kaum Schokolade, Kaugummi und anderes. Sobald die heraus­ge­funden hatten, dass wir Deutsche waren, wurden manche sogar feind­selig. Darunter war auch einer, der Deutsch sprach. Mein Vater sagte nach einem Gespräch mit ihm, er sei ein aus Deutschland geflo­hener Jude.

Zurück nach Aachen

Für uns wurde die Situation unangenehm: Belgien baute seine Gemein­de­ver­waltung wieder auf, aber wir waren keine Einhei­mi­schen. Jeden Tag mussten sich meine Eltern auf dem Gemein­deamt zu einer bestimmten Zeit melden. Unser Eigentum wurde unter Sequester gestellt, das heißt: Wir wurden enteignet. In einer Garage hatten wir die Möbel unserer Aachener Wohnung unter­ge­stellt. Die gehörten uns jetzt nicht mehr. Eine Ausnahme war mein Klavier, das wir von Fräulein Blech gekauft hatten. In der Garage hätte es Schaden genommen. Deshalb hatten wir es Freunden gegeben, die es in ihre Wohnung stellten. Wir haben es ihnen verkauft, um belgi­sches Geld zu bekommen. Denn die Belgier gaben uns kein Geld und die Reichsmark war als Zahlungs­mittel abgeschafft. Wir mussten zurück nach Aachen.

Bei Nacht und Nebel packten wir unsere beweg­liche Habe und trugen sie zu Bekannten hinter die Grenze bei Köpfchen. Mein Vater und meine Mutter bekamen schließlich Fahrräder aus der Nachbar­schaft geliehen. Damit konnten sie schneller mehr wegschaffen. Manchmal gingen wir Kinder mit. Kleinere Teile konnten wir tragen. Wir mussten aufpassen, um nicht von der belgi­schen Polizei erwischt zu werden. Bald kam der Tag, an dem wir an der Grenze nicht mehr zurück nach Hauset, sondern weiter nach Aachen gingen. Das war am 5. Dezember 1944. Die Stadt war zerbombt und zerschossen. Manche Straßen waren eine einzige Krater­land­schaft. Ganze Stadt­viertel lagen in Trümmern, aus denen Mauer- und Fassa­den­reste heraus­ragten. Aus der Tiefe mancher Bomben­trichter stiegen die Dämpfe des Wassers aus den heißen Quellen auf, die es in Aachen gibt.

Die Bevöl­kerung war evakuiert worden. Aber einige hatten sich versteckt und versuchten nun, in den Trümmern zu überleben. Darunter auch Freunde meiner Eltern. Sie besorgten uns eine unzer­störte Wohnung. Wir lernten Hunger und Not kennen. Mein Vater war dauernd unterwegs, um etwas Essbares zu „organi­sieren” – wie man sagte. Anfangs hatten wir nur Kerzen­licht, dann eine Öllampe und schließlich eine Karbidlampe. Wasser wurde zu bestimmten Zeiten in der Straße ausge­geben. Kohlen fanden wir im Keller, so dass wir den Küchenherd in Betrieb nehmen konnten. Dort hielten wir uns dann meistens auf. Oder aber im Bett, weil man sich dort aufwärmen konnte. Der Winter brachte eisige Tempe­ra­turen, oft 10 bis 20 Grad unter Null, und viel Schnee. Für Brot, Milch und andere Lebens­mittel musste man lange anstehen, falls es überhaupt etwas gab.

Aufnahme in den Domchor

Die Ameri­kaner bauten mit Einhei­mi­schen so etwas wie eine Stadt­ver­waltung auf. Als Bankbe­amter bekam mein Vater eine Stelle bei der Sparkasse. Schul­un­ter­richt gab es keinen. Für mich wurde eine Stelle in einem zahn-techni­­schen Labor besorgt. Wir gingen zum Dom; er war von Bomben verschont geblieben. Wir wurden aber nicht hinein­ge­lassen, weil die Ameri­kaner gerade einen Gottes­dienst feierten. Wir sahen, dass die Chorhalle stark beschädigt war. Alle Glasfenster waren zerstört und auch das Maßwerk wies viele Schäden auf. Der Aachener Bischof Johannes van der Velden, Domka­pell­meister Professor Theodor Bernhard Rehmann und Domkustos Prälat Erich Stephany kümmerten sich um den Dom. Sie gehörten zu denen, die sich versteckt hatten, weil sie Aachen nicht verlassen wollten. Insgesamt sollen an die 1000 Menschen in der Stadt geblieben sein.

Eines Tages im März 1945 kam mein Vater nach Hause und erzählte von Professor Rehmann, der bei ihm in der Sparkasse gewesen sei und ihm gesagt habe, er versuche, einen Domchor aufzu­bauen, der die litur­gische Musik im Dom gestalten könne. Da ein Knabenchor – wie es ihn vor dem Krieg gab – zur Zeit nicht reali­sierbar sei, versuche er es mit einem gemischten Chor. Mein Vater empfahl mich, obwohl ich erst 15 Jahre alt war. Aber ich konnte ja vom Klavier- und Geigen­spielen her Noten lesen und singen konnte ich auch. Im Dom in einem Chor singen dürfen! Das müsste wunderbar sein! Ich bestand den Gesangstest und wurde zur nächsten Probe in die Taufka­pelle des Domes bestellt. Der Chor bestand aus 20 Sängern und Sänge­rinnen, die Sänge­rinnen jung, die Sänger alt. Am Palmsonntag 1945 sangen wir im Hochamt – ich das erste Mal.

Damals ahnte ich nicht, wie wegweisend und prägend für mich die Jahre meiner Zugehö­rigkeit zum Domchor werden würden. Eines aber war mir bald bewusst: Dort tat sich mir eine Welt, die Welt der geist­lichen Musik auf, die mich auf eine wunderbare Weise berei­cherte und beglückte. Schrecken und Entbeh­rungen der Kriegs- und Nachkriegs­jahre begannen zu verblassen vor einem Panorama, das sich mir mehr und mehr erschloss und für das ich mich begeisterte.

Mein Bruder und ich haben uns in späteren Jahren bei Gesprächen über unsere Kindheits­er­leb­nisse öfter gefragt, ob es denn immer erst zu einer Katastrophe kommen muss, ehe sich einsich­tiges Handeln durch­setzt. Wir sind froh und dankbar dafür, seit dem Ende des Krieges in Frieden und Freiheit leben zu dürfen. Wir wissen, dass das nicht selbst­ver­ständlich ist. Was Intoleranz, Faschismus und Rassismus an Unheil anrichten, haben wir hautnah erfahren. Die Generation unserer Eltern ist vorwurfsvoll gefragt worden, wieso es zu den Gräuel­taten der Nazis hat kommen können. Das geschah nicht von heute auf morgen, sondern hat eine lange Vorge­schichte. Wer erfahren möchte, welche Ideologie hinter der Naziherr­schaft stand, dem empfehlen wir, nach Vogelsang oberhalb der Urfttal­sperre, nicht weit von Aachen in der Eifel, zu fahren. Dort, in einer der drei „Ordens­burgen” der Natio­nal­so­zia­listen ist hervor­ragend dokumen­tiert, welches Gedan­kengut zu der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs geführt hat.

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