Sexuelle Befreiung
Individualität und Vorgaben der Gesellschaft
Die Diskussion um Ehe, Familie und Singledasein wird vorwiegend unter Aspekten der individuellen Lebensgestaltung geführt. Individuelle Freiheit wurde möglich durch den wohlstandbasierten Fürsorgestaat. Seitdem wird die sexuelle Beziehung zwischen Menschen nicht mehr im Zusammenhang überlebensnotwendiger Strukturen einer Gesellschaft gesehen. Sexualität wird vielmehr nur noch als persönlich bereichernd empfunden. Psychologen sprechen von romantischer Liebe. Untertänigkeit aufgrund gesellschaftlicher Rollenverteilung ist irrelevant. Das Lebensglück des orgastischen Augenblicks wird gesucht. Doch das ist eher flüchtig. Nur wenigen gelingt der Übergang und die Ausweitung zu einer dauerhaften Lebensgemeinschaft in Geborgenheit und Harmonie. Das ist indes die unerfüllte Sehnsucht der Mehrheit.
Wenn Leben als Mitglied eines überschaubaren Sozialverbands für den Menschen die einzige Überlebenschance ist — und das war es bis vor wenigen Jahrzehnten -, dann ist Ehe und Familie weniger das Erleben von Bereicherung als Individuum, sondern mehr die unabdingbare Gestaltungsvorgabe der Lebensweise. Dazu gehört das Großziehen von Kindern und die Sorge um die älteren Menschen. Die Erträge der Wirtschaft müssen die materiellen Bedürfnisse befriedigen. Hinzu kommen muss Wehrhaftigkeit beziehungsweise Verteidigungsfähigkeit. Denn seit jeher gilt, sich gegen die wehren zu können, die andere unterdrücken wollen. Dazu waren in früheren Zeiten vor allem möglichst viele kräftige junge Männer notwendig. Im Alten Testament lässt sich nachlesen, wie man mit Polygamie in kurzer Zeit zu einem kriegstüchtigen Volk werden kann.
Ist die Wehrhaftigkeit aufgrund der „Kriegskunst” eines Volkes sichergestellt, gewinnt die Ausbildung der Fähigkeiten zum Auf- und Ausbau von Zivilisation und Kultur beherrschende Bedeutung. Dazu ist Monogamie geeignet: Kinder in Liebe und Geduld zu gesellschaftstauglichen Erwachsenen erziehen. Um das im Verbund der Generationen auf Dauer zu gewährleisten, geht es nicht ohne verlässliche gesellschaftliche Strukturen. Die Verlässlichkeit kann nur durch drakonische Strafen hergestellt werden, wie sie in manchen Ländern heute noch üblich sind. Weil aber Ehe und Familie die sexuelle Freiheit einschränken, kommt es immer wieder entsprechend der individuellen Veranlagung und Ausprägung zu Ausbrüchen. In den komplexen Großgesellschaften, organisiert als Fürsorgestaaten, ist es zur Aufhebung der Einschränkungen gekommen.
Die Katholische Kirche hat ihre Vorstellungen von Ehe und Familie aus der Tradition der jüdischen Gesellschaft zur Zeit Jesu entwickelt — und überhöht. Sie hat sowohl das Ideal der romantischen Liebe als auch die Strukturen des Generationenverbunds verbindlich vorgeschrieben. Und sie hat ihr Verdikt des Ehebruchs noch mit „Vorfeldregelungen” zur Sexualität ausgeweitet. Aber bei der heutigen weitaus längeren Lebenserwartung als vor 2000 Jahren und einer Gesellschaft, die durch noch nie gekannte Schnellebigkeit und steigende Komplexität gekennzeichnet ist und deren gesellschaftliches Ziel Wohlstand heißt, wird die unerschütterliche Liebe aufgrund einer Eheentscheidung in jungen Jahren zur Ausnahme. Weder eine Gesellschaftsstruktur, die sich auf Familien gründet, noch Ehen, bis dass der Tod sie scheidet, können erzwungen werden.