SINNphOLL-Interviews
Thema:
Handelsunternehmer als Pioniere der Globalisierung
Gesprächspartner:
Utho Creusen, Senior Advisor für mehrere internationale Handelsunternehmen. Honorarprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Paul Halbe: Ein Kernelement der Sozialen Marktwirtschaft ist der Wettbewerb. Die Vorteile des internationalen Wettbewerbs nutzen seit jeher die Handelsunternehmen. Sind Handelsunternehmen die Pioniere der Globalisierung?
Utho Creusen: Man kann Handelsunternehmen durchaus als Pioniere der Globalisierung bezeichnen. Handel setzt immer Kommunikation voraus. Handelsunternehmen sind kulturschaffend, da sie den Kontakt und die Kommunikation zwischen Menschen, Bevölkerungsgruppen und Gesellschaften herstellen. Der Handel agiert als Motor, Waren außerhalb des eigenen Umfelds zu vertreiben – historisch geschah das zunächst nur innerhalb eines Dorfes, dann innerhalb eines Landes und schließlich global. Viele Handelsunternehmen vernetzen uns heute weltweit und fördern somit die Globalisierung.
Paul Halbe: Welche Fähigkeiten muss ein Handelsunternehmer im Unterschied zu einem Produzenten haben?
Utho Creusen: Ein Händler muss stark kundenorientiert arbeiten. Erforderlich sind zudem ein Höchstmaß an Flexibilität und Schnelligkeit. Handelsunternehmer arbeiten eher nach dem Prinzip ‚try and error‘ oder ‚try and fix it‘, es wird erst einmal ausprobiert. Stellt sich der Erfolg ein, wird weitergemacht. Kauft der Kunde nicht, wird schnell reagiert. Daher müssen Handelsunternehmer und deren Mitarbeiter andere Talente als Produzenten haben. Diese denken viel langfristiger. Daher ergibt der Online-Talente-Test ‚Clifton Strengths Finder‘ häufig, dass Handelsunternehmer “Arranger” sind, das heißt, sie sind in einem besonderen Maße anpassungs- und multitaskingfähig.
Paul Halbe: Man sagt, Handel könne friedenstiftend wirken. Welche Voraussetzungen müssen dazu erfüllt sein?
Utho Creusen: Wenn Menschen miteinander kommunizieren – und das müssen sie, wenn sie einen Handel eingehen wollen – ist das zumindest der erste Schritt zu einem friedvollen Miteinander. Voraussetzung dafür ist, dass gewisse interkulturelle Grundwerte respektiert und eingehalten werden. Dazu gehören zum Beispiel die Kundenorientierung und ein fairer Austausch zwischen den Handelspartnern. Kein Handelspartner sollte übervorteilt werden. Ungleiche Tauschverhältnisse führen immer zu Qualitätsmängeln.
Paul Halbe: Welche Formen von Protektionismus hemmen heute den Handel?
Utho Creusen: Da gibt es viele Formen. Beliebt sind die Restriktionen bei Standortgenehmigungen. Die Dauer und Komplexität von Genehmigungsverfahren einzelner Länder erreicht schon Züge von Protektionismus.
Paul Halbe: Was sind typische Ideen, aus denen große Handelsunternehmen hervorgegangen sind?
Utho Creusen: Eine revolutionäre Idee des vorletzten Jahrhunderts war, die Preise für Waren nicht mehr zu verhandeln, sondern einen Fixpreis per Etikett auszuzeichnen. Die Abläufe wurden dadurch extrem vereinfacht, es gab eine größere Klarheit. Daraus sind die Warenhäuser entstanden.
Eine weitere Idee war die der Selbstbedienung. Anfangs nur von Einzelhändlern genutzt, gibt es sie heute in nahezu allen Bereichen, von der Tankstelle bis zum Bankautomaten. Heute ermöglichen Self-Check-Out-Systeme Kostenersparnisse, verkürzen Wartezeiten und erhöhen die Bequemlichkeit und Verfügbarkeit. Eine andere Frage ist, ob jeder Kunde dies positiv bewertet.
Aus der Idee, die Sortimente zu reduzieren und durch hohes Volumen pro Artikel niedrige Preise anbieten zu können, sind die Discounter entstanden. Eine weitere Idee ist das E‑Commerce, also der Verkauf von Waren über das Internet. Daraus sind unter anderem Amazon und Ebay entstanden. Der Versandhandel war bereits eine Vorform dieses Distanzhandels.
Paul Halbe: Was ist bei Quelle/Karstadt schief gelaufen, so dass es zur Insolvenz gekommen ist?
Utho Creusen: Als ehemaliges Aufsichtsratsmitglied möchte ich mich zu dieser Frage nicht näher äußern. Ganz allgemein lässt sich aber sagen, dass ein Handelsunternehmen sich in angemessener Zeit Kundenbedürfnissen anpassen muss. Gelingt dies – aus welchen Gründen auch immer – nicht, muss mit entsprechenden Konsequenzen gerechnet werden.
Paul Halbe: Warum ist es OBI nicht gelungen, in China Fuß zu fassen?
Utho Creusen: China ist ein sehr schwieriger Markt, kein Händler sollte die Kreativität und Handelstalente der Menschen dort unterschätzen. Chinesen lernen und adaptieren schnell Neues. Jeder, der dort aktiv werden will, muss mit einem starken Wettbewerb rechnen.
Darüber hinaus ist China nicht gleich China. Das Land ist riesig und weist enorme regionale Unterschiede auf. Viele westliche Unternehmen unterschätzen diese Diversität und können sich nicht in ausreichendem Maße an regionale Kunden- und Konsumbedürfnisse anpassen. Der Schlüssel zum Erfolg ist eine geeignete Partnerschaft mit einem lokalen Partner, der den regionalen Markt und die Kundenbedürfnisse gut kennt. Aber auch Partnerschaft will gelernt sein.
Paul Halbe: Wer das Risikokapital eines Unternehmens stellt, will auch das Sagen haben. Insbesondere wenn es darum geht, schnell Entscheidungen zu treffen und diese in die Tat umzusetzen. Welcher Führungsstil wird einer solchen Einstellung am ehesten gerecht?
Utho Creusen: Ein Unternehmer, der meint, nur weil er das Kapital stellt, müsse er auch immer Recht bekommen, befindet sich auf dem Holzweg. Langfristiger Erfolg gelingt nur durch die Einbindung von Know How und Kreativität der Partner und Mitarbeiter. Untersuchungen zeigen, dass dies nicht zu Lasten der Schnelligkeit gehen muss und die Qualität der Entscheidungen erhöht. Und darum geht es einem Investor doch.
Paul Halbe: Ist der Kunde für den Handel wirklich „König” oder nicht eher eine „dumme Gans”, die sich mit Tricks hinters Licht führen und mit Raffinesse manipulieren lässt? Brauchen wir einen verstärkten Verbraucherschutz?
Utho Creusen: Ich glaube an die Intelligenz der Kunden und Konsumenten. Kurzfristig lässt sich vielleicht ein wenig tricksen, langfristig jedoch wird ein solches Verhalten für ein Unternehmen nicht gut gehen können. Unternehmen, die es versäumen, Vertrauen und somit Kundenbindung aufzubauen, sind schnell wieder vom Markt verschwunden. Im Handel werden Fehler sehr schnell bestraft.
Paul Halbe: Handelsunternehmen sind in hohem Maße werbe-aktiv. Bei manchen Firmen hat man den Eindruck, dass es ihnen einzig und allein darum geht, mit ihren Kampagnen aufzufallen. Man spricht von aggressiver Werbung. Wie beurteilen Sie ein solch schrilles Marktverhalten? Sind das die Marktschreier von heute?
Utho Creusen: Wer laut ist, hat die Kunden, die er mit diesem Verhalten erreicht. Es gibt Händler, die glauben, dass sich in Zeiten eines Informations-Überflusses viele Konsumenten nur noch durch laute und preis-aggressive Werbung zum Kauf bewegen lassen. Aber auch hier gilt, dass laut sein allein wenig erfolgversprechend ist. Langfristig gilt es, Vertrauen und Kundenbindung aufzubauen.
Paul Halbe: Der Handel muss sich wie kein anderer Wirtschaftszweig auf den Wandel der Zeit einstellen. Da schützt auch die Größe nicht vor Pleite. Welchen Handelsformen gehört die Zukunft?
Utho Creusen: Der Multichannel-Handel wird eine wichtige Rolle spielen. Unternehmen müssen Angebote sowohl im Internet als auch im stationären Handel bereitstellen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Um dauerhaft überleben zu können, ist zudem Serviceorientierung notwendig. Die demografische Alterung der Bevölkerung verstärkt diesen Trend. Zudem suchen die Konsumenten vermehrt gesunde und nachhaltige Produkte. Diese Anforderungen gelten für kleine Unternehmen ebenso wie für große, sie müssen anpassungsfähig bleiben.
Creusen: 2010
Thema:
Beim Geld hört die Gemütlichkeit auf oder?
Gesprächspartner:
Marie-Luise Dött, Mitglied des Deutschen Bundestages und Vorsitzende des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU)
Paul Halbe: Bringt Geld in Versuchung?
Marie-Luise Dött: Eindeutig ja. Ein kluger Kopf hat mal gesagt: Jeder ist käuflich, es kommt nur auf den Preis an. Ich bin aber optimistisch, dass bei mir die Schwelle so hoch liegt, dass mich niemand kaufen wird.
Paul Halbe: Kann Geld wie eine Droge süchtig machen?
Marie-Luise Dött: Eindeutig Ja. Warum sonst würde schon in den Zehn Geboten davor gewarnt, das Hab und Gut des Nächsten zu begehren. Und der Wert der meisten Besitztümer wird nun einmal in Geld gemessen.
Paul Halbe: Bei nicht wenigen Menschen kann man beobachten, dass sie um jeden Cent feilschen, aber mit großen Beträgen umgehen, als seien sie im Spielcasino. Sind die großen Beträge zu abstrakt?
Marie-Luise Dött: Für viele ist das Sparen bei den kleinen Summen sicher eine Art Sport. Außerdem beschreiben Trendforscher seit einiger Zeit die ‚Smart Consumer‘. Das sind Menschen, die einen Teil ihrer Einkäufe beim Discounter erledigen, den anderen Teil in Luxusläden. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass viele Menschen im Alltag sparen, um sich dann im Urlaub oder zu anderen seltenen Anlässen auch mal etwas gönnen zu können. Die Vermutung, dass dabei die großen Beträge abstrakt werden, teile ich.
Paul Halbe: Welchen Charakter muss ein Mensch haben, um gegen Bestechung immun zu sein?
Marie-Luise Dött: Er muss zunächst einmal ein starkes Wertefundament haben, um überhaupt ein Gefühl dafür zu bekommen, dass Bestechung etwas Negatives ist. Außerdem schleichen sich Bestechung und Korruption in der Regel in kleinen Schritten in unser Leben. Das fängt an mit der Einladung zum Essen, dann gibt es ein kleines Geschenk dazu, als nächstes vielleicht eine kostenlose Reise. Irgendwann bin ich dann an einem Punkt angekommen, an dem ich nicht mehr Nein sagen kann, wenn es um mögliche Gegenleistungen geht. Wer hier immun sein will, muss schon von Anfang an Nein sagen.
Paul Halbe: Was ist ein gerechter Lohn?
Marie-Luise Dött: Gerecht ist aus meiner Sicht ein Lohn, der die Produktivität, den betriebswirtschaftlichen Nutzen, des jeweiligen Mitarbeiters widerspiegelt. Gerade bei einfachen Tätigkeiten kann es passieren, dass diese Summe – auch bei einer Vollzeitbeschäftigung – nicht ausreicht, um davon zu leben oder gar eine Familie zu ernähren. Der entsprechende Ausgleich muss dann aber über staatliche Transfers geschehen und nicht über das Unternehmen. Betriebe müssen am Markt bestehen und nicht die staatliche Sozialpolitik ersetzen.
Paul Halbe: Stimmt der Ausspruch aus der Römerzeit: Geld stinkt nicht?
Marie-Luise Dött: Wer ein christliches Gewissen hat, wird sehr wohl feststellen, dass zu Unrecht erhaltenes Geld zum Himmel stinkt.
Paul Halbe: Welchen moralischen Grundsätzen müssen Politiker im Umgang mit Geld gerecht werden?
Marie-Luise Dött: Wenn wir Politiker über die staatlichen Haushalte abstimmen, müssen wir immer daran denken, dass wir das Geld der Bürger verwalten und entsprechend verantwortlich damit umgehen. Das gilt insbesondere mit Blick auf die künftigen Generationen: Wir dürfen heute nur das Geld ausgeben, das wir haben und unsere Kinder nicht mit einem Berg voll Schulden belasten.
Paul Halbe: Wie können moralische Vorstellungen bei den Akteuren der Finanzmärkte zur Geltung gebracht werden?
Marie-Luise Dött: Moralische Vorstellungen können Sie nicht per Gesetz erzwingen. Hier hilft nur der moralische Appell, wie ihn Papst Benedikt XVI. formuliert hat: Danach ist eine menschenfreundliche Wirtschaft darauf angewiesen, dass die Akteure verantwortlich handeln. Als Gesetzgeber können Politiker höchstens versuchen, Sicherungen einzubauen, um falsches Verhalten zu bestrafen. Der BKU fordert schon seit Jahren eine Managerhaftung bei groben Fehlern. Vielleicht wäre es an der Zeit, dies auf gewisse Arten von riskanten Finanzgeschäften auszuweiten.
Paul Halbe: Zerstören Subventionen den eigenverantwortlichen Umgang mit Geld?
Marie-Luise Dött: Ja. Außerdem verzerren sie den Wettbewerb, weil sie träge machen und die Empfänger nicht mehr unter dem Druck des Marktes stehen, der sie zwingt, ihre Waren ständig zu verbessern und preiswerter zu machen.
Paul Halbe: Wird zweierlei Maß angelegt, wenn Steuerflucht verfolgt und bestraft wird, die Verschwendung von Steuergeldern jedoch folgenlos und straffrei bleibt?
Marie-Luise Dött: Im Prinzip ja. Das Problem ist aber, dass sich Steuerflucht anhand der gültigen Gesetze viel leichter definieren lässt als die Verschwendung von Steuergeldern. Denn hinter jeder öffentlichen Ausgabe steckt ja eine politische Entscheidung darüber, ein bestimmtes Projekt aus Steuermitteln zu finanzieren. Und wenn sich eine Mehrheit findet: Wer soll dann darüber urteilen, ob es sich um Verschwendung oder sinnvolle Dinge handelt? Und wenn es wegen schlechter Planung zu Kostenüberschreitungen kommt, ist dabei allenfalls Fahrlässigkeit oder Unfähigkeit im Spiel – bei der Steuerflucht dagegen Vorsatz.
Paul Halbe: Was ist notwendig, damit Kinder und Jugendliche den verantwortungsvollen Umgang mit Geld lernen?
Marie-Luise Dött: Kinder müssen vor allem lernen, dass alles im Leben seinen Preis hat und dass die Ressourcen begrenzt sind. Und sie müssen lernen, dass man Geld erst verdienen muss, bevor man es ausgeben kann. Dazu gehört auch die Erfahrung, dass nicht jeder Wunsch sofort erfüllt werden kann. Hier müssen manche wohlmeinende Eltern, Großeltern und andere Verwandte aufpassen, dass sie die Kinder nicht so sehr verwöhnen, dass sie diese Grenzen nicht mehr kennen.
Paul Halbe: Wie kann sich eine Gesellschaft dagegen schützen, dass durch die Verfehlungen weniger der Wohlstand aller in Gefahr gerät?
Marie-Luise Dött: Die Gründerväter unserer Sozialen Marktwirtschaft kannten das Grundprinzip, dass man mit eigenem Geld vorsichtiger umgeht als mit dem Anderer. Darum ist es unerlässlich, dass wir an möglichst vielen Stellen Entscheidung und Haftung miteinander verbinden. In der Wirtschaft ist das idealtypisch in der Person des haftenden Eigentümer-Unternehmers verwirklicht, der bei einer Insolvenz mit Haus und Hof haftet.
Die Einführung einer Managerhaftung wäre ein kleiner Schritt, dies auch andernorts zu verwirklichen. Gleichzeitig müssen wir uns aber davor hüten, nur „die da oben“ für alles haftbar zu machen. Denn in der Finanzkrise haben viele Anleger auch alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht gelassen und hochverzinste Papiere gekauft – obwohl schon der gesunde Menschenverstand mir sagt, dass hohe Zinsen immer auch ein hohes Risiko bedeuten.
Dött: 2010
Thema:
Lebensqualität durch Gesundheitssport
Gesprächspartner:
Volkmar Feldt, promovierter Sportwissenschaftler, über eine Lebensführung, die mit Hilfe von Gesundheitssport fit hält. Feldt ist Mitbegründer des Sport-Gesundheitsparks in Berlin. Seine Arbeit gilt sowohl der Rehabilitation, beispielsweise nach Herzinfarkten, als auch der Vorbeugung sogenannter Zivilisationskrankheiten.
Paul Halbe: Wie viel Aufmerksamkeit sollte man seiner Gesundheit schenken?
Volkmar Feldt: Das hängt von dem Begriff Aufmerksamkeit ab. Gesunde Lebensführung muss habitualisiert sein, beispielsweise sollte Süßes, Ungesundes erst gar nicht gekauft werden. Bewegung, auch Gymnastik muss selbstverständlicher Bestandteil des Alltags sein – also ohne besondere Aufmerksamkeit gemacht werden.
Paul Halbe: Welche Bedeutung hat die geistige und seelische Verfassung eines Menschen für seine Gesundheit?
Volkmar Feldt: Sehr wahrscheinlich eine Überragende! Durch Hormone und Vegetativum sind Körper, Geist und Seele in vielfältiger Weise ineinander verwoben. Eine Trennung ist gar nicht möglich.
Paul Halbe: Noch nie hatte die Menschheit aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse eine größere Chance, gesund zu leben, als heutzutage. Haben frühere Generationen Pech gehabt oder wusste man schon immer, was dem Menschen gut tut?
Volkmar Feldt: Das Wissen um Gesundheit nimmt in unserer Zeit exponentiell zu. Insofern hatten frühere Generationen in der Tat Pech. Die Frage ist jedoch, ob unsere Zeitgenossen das Wissen auch richtig umsetzen. Denkt man an die vielen Bewegungsmangelerkrankungen so sind Zweifel angebracht.
Paul Halbe: Ist Gesundheitssport, der einmal in der Woche gesellig getrieben wird, ausreichend für das Wohlbefinden oder sollte beispielsweise Gymnastik individueller Teil des Tagesablaufs sein?
Volkmar Feldt: Soziale Kontakte bei der Bewegung sind sehr dienlich für die Motivation. Aber sie sind nicht ausreichend. Damit wird der notwendige Energieverbrauch pro Woche nicht sicher gestellt. Der ist zwar individuell verschieden, aber einmal Fußballtennis in der Woche ist in jedem Fall zu wenig. Entwicklungsgeschichtlich ist der Mensch an muskuläre Arbeit gebunden, um gesund zu bleiben.
Paul Halbe: Sind Nahrungsergänzungsmittel notwendig?
Volkmar Feldt: Nein. Wenn die Grundlagen gesunder Ernährung berücksichtigt werden, reicht das völlig aus.
Paul Halbe: Krafttraining und Dehnungsübungen assoziiert man vor allem mit Leistungssportlern und körperbewussten jungen Leuten. Jetzt ist zu hören, dass auch ältere Menschen „an die Geräte” sollten. Ist das eine Verkaufsmasche?
Volkmar Feldt: Nein. Ein kontrolliertes, gerätegestütztes Training ist bis ins hohe Alter förderlich für die Gesundheit. Einmal in der Woche „an die Geräte” ergänzt hervorragend die häusliche Gymnastik, die man zweimal in der Woche betreiben sollte.
Paul Halbe: Geht es auch ohne Geräte mit entsprechender Gymnastik?
Volkmar Feldt: Nur Gymnastik ohne Geräte ist besser als gar nichts. Aber optimal ist das nicht.
Paul Halbe: Was ist allen Menschen an Körperlichkeit gemeinsam, so dass der Gesundheitssport nicht immer individuell differenziert werden muss?
Volkmar Feldt: Die biologischen Determinanten der Menschen sind gleich – abgesehen von genetischen Besonderheiten. Daraus folgt, dass auch die Prinzipien der Bewegungen gleich sind – beispielsweise der Verbrauch an Kilokalorien. Auch die motorischen Grundeigenschaften wie Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit sind bei allen Menschen mehr oder weniger gleich.
Paul Halbe: Im Laufe des Lebens verändern sich die Bedingungen für die Gesundheit. Welche Veränderungen sind allgemein kennzeichnend?
Volkmar Feldt: Die altersspezifischen biologischen Abbauprozesse wie der Verlust von Kraft, Ausdauer und Sensorik sind eng mit dem im Alter oft zu beobachtenden Bewegungsmangel verbunden. Wird zu wenig getrunken, so beeinträchtigt auch das die Gesundheit des älteren Menschen aufgrund von Flüssigkeitsverlust. Eine gesunde Lebensführung hilft indes Alterserscheinungen erheblich zu begrenzen.
Paul Halbe: Welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen muss der Mensch akzeptieren, wenn er älter wird?
Volkmar Feldt: Keine! Das notwendige Maß körperlicher Aktivität ist über den Stoffwechsel weitgehend erforscht. Ein Energiemehrverbrauch von ca. 2000 kcal pro Woche durch körperliche Aktivitäten gegenüber dem Ruheumsatz ist ausreichend. Die Bewegung sollte sowohl Gymnastik zur Kräftigung und zum Erhalt der Beweglichkeit als auch Bewegungen in Dauerform wie Gehen, Wandern, Radfahren und Schwimmen beinhalten. Das notwendige Maß an Wiederholungen, beispielsweise für das Krafttraining, ist noch nicht genau erforscht.
Leider werden immer noch Forschungsergebnisse aus dem Leistungssport auf den Gesundheitssport übertragen. Das ist unredlich und führt zur Verunsicherung. Denn es geht nicht um Leistung. Im englischsprachigen Raum gibt es den Begriff “Sport” in Assoziation mit Gesundheit nicht, man spricht hier von “physical-activity”. Gesunde Lebensführung ist durch die Bereiche Bewegung, Ernährung und Entspannung determiniert, sie bedingen einander. Der Mensch ist bis ins hohe Alter trainierbar.
Paul Halbe: Welche Rolle spielt das soziale Umfeld für die Gesundheit?
Volkmar Feldt: Es gibt große individuelle Unterschiede. Allgemein: Soziale Kontakte sind für Menschen essentiell. Harmonie im sozialen Umfeld ist zwar grundlegend für die Gesundheit, kann aber wegen der unethischen Aspekte einer notwendigen Kontrollgruppe nicht evidenzbasiert erforscht werden.
Paul Halbe: Reicht Wohlbefinden als Lebenssinn?
Volkmar Feldt: Wohlbefinden ist ein subjektives Empfinden. Auch der Fixer fühlt sich nach seinem Heroinschuss wohlig. Lebensqualität ist das primäre Ziel von Bewegungsprogrammen.
Paul Halbe: Was ist besser: Voller Freude beim Wandern die Natur zu erleben oder die Natur als sportliche Herausforderung zu sehen?
Volkmar Feldt: Beim Wandern die Natur zu erleben!
Paul Halbe: Wie erreicht man ein Körperbewusstsein, das gegenüber Geist und Seele nicht dominant wird?
Volkmar Feldt: Diese philosophische Frage ist so komplex und die Antwort multifaktoriell, dass wir sie bei einem guten Rotwein diskutieren sollten.
Feldt: 2009
Thema:
Die Voraussetzung dauerhaften Friedens: Versöhnung
Gesprächspartner:
Friedrich Kronenberg, promovierter Sozialwissenschaftler, über Erinnern und Versöhnen nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Kronenberg war CDU-Bundestagsabgeordneter und Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sowie Präsident des Maximilian-Kolbe-Werkes.
Paul Halbe: Die Versöhnung der Völker Europas nach dem Zweiten Weltkrieg ist keine Selbstverständlichkeit. Dies gilt insbesondere für Völker wie die Polen und die Deutschen. Auf Initiative deutscher Katholiken wurde 1973 das Maximilian-Kolbe-Werk gegründet. Später wurde die Maximilian-Kolbe-Stiftung errichtet. Was ist die Aufgabe dieser Stiftung?
Friedrich Kronenberg: Aufgrund der Erfahrungen im Maximilian-Kolbe-Werk wollen wir – polnische und deutsche Katholiken – den Gedanken und das Bemühen von und um Erinnerung und Aussöhnung auf die Völker Europas insgesamt ausweiten. Denn nur wenn uns präsent ist, was Völker einander antun können und angetan haben, wird der Geist in Europa gestärkt, der Europa vor den Fehleinstellungen der Vergangenheit und vor egoistischem nationalstaatlichen Denken und Handeln bewahrt. Christen aller Konfessionen und alle Menschen guten Willens bitten wir, sich an den Werken der Versöhnung aus der Kraft der Erinnerung zu beteiligen.
Paul Halbe: Was sind Werke der Versöhnung?
Friedrich Kronenberg: Programme und Projekte, die wir durchführen oder fördern wollen, sind unter anderen
- die europäische Sommerbegegnung in Sarajewo;
- die Pflege sowjetischer Kriegsgräber in Deutschland durch russische, weißrussische, ukrainische und deutsche Jugendliche;
- Friedensschulen im Kaukasus (Rostow am Don, Sotschi, Naltschik);
- Besinnungstage im Zentrum für Dialog und Gebet in Auschwitz;
- sogenannte Enkelprojekte, in denen die Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Krieg den Folgegenerationen vermittelt wird.
Als erstes Projekt für das Jahr 2009 bereiten wir einen europäischen Friedenszug mit Jugendlichen aus verschiedenen Ländern von Auschwitz über Warschau nach Berlin vor. Wir wollen anknüpfen an der in unserem historischen Gedächtnis tief verwurzelten Erinnerung an die ungezählten Eisenbahnzüge, die Menschen in das Vernichtungslager Auschwitz/Oswiecim transportiert haben. Die Umkehrung der Fahrtrichtung verdeutlicht den Kern jeglicher Versöhnungsbemühung: die Bereitschaft zur Umkehr, ohne die der Wille zur Versöhnung folgenlos bleibt. Die Erinnerung an die Züge in den Tod soll Friedenszüge junger Menschen in Fahrt bringen, deren Ziel das Leben ist, das Leben in einem freien und geeinten Europa.
Paul Halbe: Wer war Maximilian Kolbe, der Namensgeber der Stiftung?
Friedrich Kronenberg: Maximilian Kolbe war polnischer Franziskaner-Pater. Er war Häftling im Konzentrationslager Auschwitz. Um einem seiner Mithäftlinge, einem Familienvater, das Leben zu retten, ist er an seiner Stelle in den Tod gegangen.
Paul Halbe: Warum darf es kein Vergessen geben?
Friedrich Kronenberg: Weil Gegenwart und Zukunft immer aus der Vergangenheit heraus sich gestalten. Auch wenn es keine Kollektivschuld gibt, so gibt es doch eine Verantwortung, die aus Schuld im Zusammenhang mit der eigenen Herkunft resultiert. Wenn man sich der Schuld in der Vergangenheit nicht stellt, wirkt sie bedrängend in Gegenwart und Zukunft fort. Nur durch Versöhnung wird Schuld getilgt.
Paul Halbe: Leben noch ehemalige Auschwitz-Häftlinge, die sich an Maximilian Kolbe erinnern?
Friedrich Kronenberg: Vermutlich nicht. Der letzte Mithäftling von Maximilian Kolbe, der sich gemeinsam mit uns aktiv für Versöhnung eingesetzt hat, ist vor einiger Zeit im Alter von 86 Jahren gestorben. Seine Worte sind für uns Programm: “Durch Pater Kolbe lernte ich, Auschwitz mit anderen Augen zu sehen. In einem Todes- und Vernichtungslager, in dem viele nur sich selbst retten wollten, sah ich plötzlich gute Menschen, die sich für andere einsetzten, frei von Egoismus.” Und: “Wenn Hass sich in Liebe verwandelt, entsteht Frieden.” Wie weit wir von diesem Frieden noch entfernt sind, das machen uns die Konflikte von heute jeden Tag mit grausamen Bildern deutlich.
Kronenberg: 2009
Thema:
Das Kräftefeld des Arbeitsmarktes
Gesprächspartner:
Ulrich Walwei, promovierter Wirtschaftswissenschaftler, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und Honorarprofessor für Arbeitsmarktforschung am Institut für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie der Universität Regensburg.
Paul Halbe: Was muss jeder von uns selbst tun, um sich künftig auf dem Arbeitsmarkt behaupten zu können?
Ulrich Walwei: Wer einen guten Schulabschluss, eine abgeschlossene Berufsausbildung oder ein Studium und die Bereitschaft zum ständigen Weiterlernen aufweist, hat gute Karten. Wir alle müssen uns darauf einstellen, dass der Wandel gerade in der Arbeitswelt immer schneller vonstatten gehen wird. Flexibilität und die Bereitschaft, sich immer wieder auf neue Herausforderungen einzulassen, sind ganz entscheidend für beruflichen Erfolg.
Paul Halbe: Politiker sehen es als eine ihrer Hauptaufgaben an, für möglichst viele Arbeitsplätze zu sorgen. Mit welchen Maßnahmen seitens des Staates kann dafür Sorge getragen werden, dass Arbeitnehmer die Qualifikationen erwerben, die von den Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden?
Ulrich Walwei: Unser Schulsystem muss unbedingt besser werden. Kinder aus bildungsfernen Schichten werden derzeit viel zu wenig gefördert; hier verschwenden wir sehr viel Potenzial. Auch nach der Schule gilt es, die Durchlässigkeit im Bildungssystem zu erhöhen. Da gibt es viele Ansatzpunkte: In der Berufsausbildung könnte man zum Beispiel die Modularisierung vorantreiben. Generell muss der Staat lebenslanges Lernen stärker fördern als bisher. Das kann beispielsweise mit der Förderung von klassischen Weiterbildungsangeboten und mit der Öffnung der Hochschulen für Berufstätige erreicht werden.
Durch eine intelligente Verschränkung von Theorie und Praxis kann viel gewonnen werden – die dualen Studiengänge sind nicht ohne Grund ein Erfolgsmodell. Das heißt natürlich nicht, dass man die Funktion der Hochschulen auf Ausbildungseinrichtungen für die Wirtschaft verkürzen sollte. Forschung und Bildung darf man nicht auf unmittelbaren Anwendungsbezug reduzieren. Und bei aller Verantwortung des Staates und jedes Einzelnen in Bildungsfragen möchte ich betonen: Die Unternehmen stehen auch selbst in der Pflicht, Ausbildung anzubieten und Weiterbildung zu fördern.
Paul Halbe: Wie wird sich die Überalterung in den kommenden Jahrzehnten auf dem Arbeitsmarkt auswirken?
Ulrich Walwei: Es wird einen starken Wettbewerb um junge und hochqualifizierte Arbeitskräfte geben. Gleichzeitig werden die nachwachsenden Kohorten nicht mehr Quelle aller Innovationen sein können. Um beim Produktivitätsfortschritt vorne zu bleiben, werden die Unternehmen der Weiterbildung und Weiterentwicklung ihrer Belegschaft einen wichtigeren Stellenwert als bisher einräumen müssen.
Paul Halbe: Wird es künftig noch vorgegebene Altersgrenzen bei der Arbeit geben?
Ulrich Walwei: Nicht zuletzt wegen der steigenden Lebenserwartung gehe ich hier in Zukunft von mehr Flexibilität aus. Wir dürfen bei diesem Thema jedoch nicht vergessen: Bei belastenden Tätigkeiten bestehen besondere Schwierigkeiten. Hier muss dem Gesundheitsschutz eine stärkere Rolle als bisher zukommen, um das Erreichen einer regulären Altersgrenze überhaupt zu ermöglichen.
Auch wenn das Erreichen einer Altersgrenze immer weniger mit einer erzwungenen Beendigung des Arbeitsverhältnisses einhergehen wird: Als Orientierungspunkt für die Alterssicherung bleiben Altersgrenzen wichtig, zum Beispiel um eine Eckrente zu berechnen.
Paul Halbe: Ist der Single der ideale Arbeitnehmer?
Ulrich Walwei: In der heutigen Arbeitswelt könnte man vielleicht auf den ersten Blick diesen Eindruck haben. Singles sind häufig räumlich mobil und flexibel, gerade mit Blick auf Arbeitszeiten. Auf Dauer wird Zufriedenheit aber sicher nicht allein durch Arbeit hergestellt. Der permanente Single ist möglicherweise irgendwann kein glücklicher und zufriedener Arbeitnehmer mehr. Und das kann dann auch Auswirkungen auf die Leistung haben. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern, liegt also im ureigensten Interesse der Unternehmen.
Paul Halbe: Vor Jahren wurden große Hoffnungen auf die Entwicklung der Telearbeit gesetzt. Doch die Entwicklung ist zögerlich. Ist die Trennung von Arbeiten und Wohnen in der Gesellschaft so festgeschrieben, dass sie sich auch künftig erhalten wird?
Ulrich Walwei: Hier müssen wir differenzieren. Telearbeit als ausschließliche Arbeitsform kommt oft nicht in Frage, weil es der persönlichen Präsenz gegenüber Kunden oder dem Team bedarf. Temporäre Telearbeit gibt es aber durchaus – und das nicht nur in Sonderfällen, zum Beispiel zur Kinderbetreuung oder bei Erkrankung von Familienmitgliedern. Stark verbreitet ist auch das tageweise Arbeiten von zu Hause aus. Das hilft nicht nur, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, sondern kann auch kreative Freiräume schaffen.
Paul Halbe: Braucht der deutsche Arbeitsmarkt mehr Unternehmer?
Ulrich Walwei: Das kann man so allgemein nicht sagen. Es kommt sehr auf die Produkte und die Ideen der Selbständigen an. Wichtig sind dabei zudem die Motive: Wird aus der Not heraus ein eigenes Unternehmen gegründet oder aufgrund einer Geschäftsidee? Geht es um etablierte Märkte und wird dadurch ‚nur‘ der Wettbewerb gefördert oder handelt es sich um Pioniere? Von Letzteren können wir gar nicht genug haben. Hier ist auch das Bildungssystem gefragt, das die Selbständigkeit als wichtige Option vermitteln kann. Der Staat tut sicher gut daran, die Existenzgründung gezielt zu fördern.
Paul Halbe: Die traditionellen Karrieren lösen sich teilweise auf. Wird es künftig vorwiegend zu ‚Gelegenheitsarbeit‘ kommen: Zeiten als Arbeitnehmer wechseln mit Zeiten als Selbständiger, mit Zeiten intensiver fachlicher Weiterbildung, mit Familienphasen und Auszeiten, mit Phasen beruflicher Neuorientierung?
Ulrich Walwei: Die sogenannten ‚flockigen Biographien‘ können zwar beim beruflichen Einstieg durchaus eine Rolle spielen. Es mag auch einzelne Branchen geben, zum Beispiel die Medienbranche, für die das tendenziell zutreffen kann. Auf breiter Front sind solche Entwicklungen aber eher nicht wahrscheinlich. Auch in turbulenten Zeiten wollen die Unternehmen ihre Stammbelegschaften halten. Und die Arbeitnehmer bevorzugen in der Regel ein stabiles Umfeld und einen stabilen Einkommensstrom.
Paul Halbe: Wie wird sich die internationale Arbeitsteilung entwickeln?
Ulrich Walwei: Als Hochlohnland liegt unsere Zukunft sicher nicht in der Massenfertigung leicht herzustellender Produkte. Viele Chancen eröffnen sich für uns dagegen bei modernsten Technologien, die sehr viel Know-how erfordern. Die intelligente Verknüpfung von Industrieproduktion und ergänzenden Dienstleistungen könnte in Zukunft der Schlüssel zum Erfolg sein. Solche Systemlösungen könnten Deutschlands Wettbewerbsposition auf dem Weltmarkt stärken.
Walwei: 2009
Thema:
Wann Psychologen helfen können
Gesprächspartnerin:
Iris Zukowski, freiberuflich tätige Psychologin in den Bereichen Beratung, Training, Coaching und integrative Therapie.
Paul Halbe: Die Komplexität unserer Gesellschaft, die rasanten Veränderungsprozesse und die weltweiten Auswirkungen menschlichen Handelns machen immer mehr Leuten zu schaffen. Sie suchen Rat, Orientierung und konkrete Hilfestellung bei Dienstleistern, die kompetent Einsichten und Erfahrungen vermitteln, wie sich heute das Leben meistern lässt. Mit welchen Problemen kommen Menschen zu Ihnen?
Iris Zukowski: Die Probleme sind vielfältig. In den letzten Monaten gab es auffällig viele Burnout-Fälle, Angst- oder Panikstörungen und Beziehungsprobleme.
Paul Halbe: Was erwarten Ihre Kunden/Patienten von Ihnen?
Iris Zukowski: Meine Klienten erwarten vor allem eine individuelle Unterstützung in einem ganzheitlich orientierten psychologischen Rahmen. Das kann eine lösungsorientierte Krisenintervention in Form eines Coachings oder einer Hypnosesitzung sein oder eine längerfristige therapeutische Begleitung.
Paul Halbe: Kommen mehr Frauen oder Männer?
Iris Zukowski: In meiner Praxis ist der Anteil an Frauen etwas höher. Frauen zeigen tendenziell weniger Hemmschwellen, sich entsprechende Unterstützung zu holen. Männer suchen häufiger lösungsorientierte Einzelsitzungen. Gegen Hypnosesitzungen haben sie oft Vorbehalte. Sie fürchten, die Kontrolle zu verlieren.
Paul Halbe: Gibt es unter den psychischen Erkrankungen so etwas, was man mittlerweile als „Volkskrankheit“ bezeichnen könnte?
Iris Zukowski: Als „Volkskrankheit“ möchte ich kein Störungsbild bezeichnen. Fast jeder erlebt irgendwann einmal in seinem Leben eine psychische Krise, beispielsweise eine Depression. So wie wir alle hin und wieder mal eine Grippe bekommen. Störungsbilder wie das Burnout-Syndrom oder Angst- und Panikstörungen sind aber deutlich auf dem Vormarsch.
Paul Halbe: Stammen die Probleme mehr aus der beruflichen Tätigkeit oder aus privaten Schwierigkeiten?
Iris Zukowski: Sowohl als auch. Da der Druck in allen Arbeitsbereichen der Gesellschaft wächst, gibt es immer häufiger psychische Störungen, die aus diesem Druck resultieren. Geht man tiefer, kann man sagen, dass vielen Menschen die psychischen Werkzeuge fehlen, mit Druck oder schwierigen Lebenssituationen angemessen umzugehen. Das wirkt sich dann auch auf den privaten Bereich aus. Wenn es im Beruf nicht gut läuft, leidet meistens auch die Ehe. Alles ist miteinander verbunden. Tendenziell sind viele Deutsche perfektionistisch eingestellt und haben häufig keinen guten Zugang zu ihren Gefühlen.
Paul Halbe: Lassen sich besondere Lebensphasen beschreiben, in denen Menschen besonderen psychischen Gefahren ausgesetzt sind?
Iris Zukowski: Ich möchte nicht von psychischen Gefahren sprechen. Es gibt Lebenskrisen, die aber letztlich dazu dienen, dass wir persönlich wachsen und seelisch reifen. Eine wichtige Umstellungsphase scheint zwischen Ende Dreißig und Mitte Vierzig zu liegen. In dieser Lebensphase häufen sich Störungsbilder.
Paul Halbe: Was sind die Hauptbelastungen, die den Menschen heute zu schaffen machen?
Iris Zukowski: Einerseits ist es der hohe Anspruch, den viele an sich selbst stellen; andererseits ist es der Anspruch, den die Gesellschaft, vor allem die Arbeitswelt, an uns stellt. Von Bedeutung sind auch die globalen Veränderungen, die unvorstellbaren Katastrophen wie in Japan, Terroranschläge und sinnlose Kriege. Das verändert und belastet das Bewusstsein der Menschen kollektiv und individuell. Viele stellen sich Fragen: Ist mein Leben noch sicher? Werden meine Kinder auf diesem Planeten eine Zukunft haben?
Deshalb: Die Menschen müssen aktiv werden! Wer passiv die Schrecken dieser Welt vor dem TV-Gerät verfolgt, schadet seiner Gesundheit und seiner Psyche.
Paul Halbe: Was muss der Einzelne tun, um ohne Ihre Hilfe sein Leben bewältigen zu können?
Iris Zukowski: Er sollte sich selbst wahrnehmen und bewusst leben. Das setzt natürlich „Selbstkenntnis“ voraus, die viele leider nicht haben. Man sollte seine Belastungsgrenzen kennen, für den passenden Ausgleich sorgen und vor allem akzeptieren, dass sich Umstände und Gefühle im Leben verändern können. Mein Rat: Flexibel sein, Schwächen akzeptieren und neugierig bleiben, was das Leben zu bieten hat. Wer mit Veränderungen umgehen kann und die Dinge des Lebens nicht zu ernst nimmt, kann sein Leben „meistern“, nicht nur „bewältigen“.
Paul Halbe: Können Lebensperspektiven, die sich an Ziele, Vorbilder und Sinnhaftigkeit knüpfen, Halt und Zufriedenheit geben?
Iris Zukowski: Auf jeden Fall. Life with purpose – das ist essentiell. Wer keine Ideale, Ziele oder Werte im Leben verfolgt, ist ohne Halt und tieferen Sinn. Das ist ein Leben auf wackeligem Fundament. Der Glaube kann ebenfalls eine hilfreiche Kraft im Leben sein. Menschen, die glauben, bewältigen Krisen sicherer und haltvoller. Einen Sinn im Leben zu finden und zu schaffen, erhöht die Lebenszufriedenheit immens und gibt Kraft.
Paul Halbe: Welche psychischen Krankheiten werden im Elternhaus grundgelegt? Erziehungsfehler oder Versäumnisse? Trennung, Scheidung?
Iris Zukowski: Ich glaube nicht, dass es die vollkommen heile Kinderstube gibt. Eltern müssen lernen, ihre Unvollkommenheit zu akzeptieren. Da man sich die Kinder nicht aussuchen kann, gibt es immer in irgendeiner Form Reibungen und Konflikte, Missverständnisse und Fehler. Das kann man positiv sehen: Als Spezies wie als Individuum können wir uns so immer weiter entwickeln. Einfach ist Leben und Weiterentwicklung nie.
Ich orientiere mich an der buddhistischen Philosophie: Alles macht Sinn – auch die Schwierigkeiten, in die wir hineingeboren werden. Es geht letztlich immer um die Reifung und das Wachstum unserer Seele. Alles, was einem Menschen an Schwierigkeiten im Leben begegnet, liegt im Rahmen seiner Möglichkeiten. Scheidungen, also die Trennung der Eltern, hinterlassen ebenso Spuren auf der Kinderseele, wie plötzliche Todesfälle, Missbrauch, Lieblosigkeit oder ein erhöhter Leistungsdruck im Elternhaus.
Einschränkend gilt für meine Arbeit: Psychische Krankheiten sind nicht mein Einsatzgebiet. Dazu zählen Psychosen, Schizophrenie und psychopathische Persönlichkeitsstörungen, die im Elternhaus ihre Ursache haben, beziehungsweise dort unter bestimmten Voraussetzungen ausgelöst werden.
Paul Halbe: Und welche Störungen können in Kinderkrippen, Kitas und Schulen verursacht werden?
Iris Zukowski: Überall können Störungen verursacht werden, wo Erwachsene lieblos und ohne Einfühlungsvermögen mit Kindern umgehen.
Paul Halbe: Welche Rolle spielen die Medien bei der psychischen Verfassung von Menschen?
Iris Zukowski: Mittlerweile spielen die Medien eine große Rolle. Sie sind ein ständiger Angstfütterer, speisen unerreichbare Vorbilder in die Köpfe der Zuschauer und verbreiten Gewaltvorbilder. Das ist besonders für unsere Kinder gefährlich.
Paul Halbe: Wie entstehen Kommunikationsschwächen und wozu können sie führen?
Iris Zukowski: Da ist eine generelle Antwort nicht angemessen. Die Ursachen sind vielfältig. Es gibt introvertierte Persönlichkeiten, Menschen, denen ein freies Auftreten und Sprechen schwer fällt. Es gibt auch Lebensereignisse, die derart verunsichert haben, dass eine freie Kommunikation nicht mehr möglich erscheint, etwa Peinlichkeiten als Schüler an der Tafel oder die Kritik eines strengen Vaters. Viele Menschen blockieren sich zudem selbst, beispielsweise durch ihren Hang zum Perfektionismus. Generell: Es wird zu wenig geredet – vor allem in Beziehungen – und es wird zu viel TV konsumiert.
Paul Halbe: Führungspersonen sind in der Regel in einer „Sandwich“-Position: Sie haben ihrerseits Chefs und sind andererseits Vorgesetzte. Was ist notwendig, um in einer Führungsposition dauerhaft zu bestehen?
Iris Zukowski: Authentisch sein! Werte definieren und sich an dem orientieren, woran man glaubt und wofür man einsteht. Man sollte Fairness und Leistungsmotivation mitbringen und das, was man tut, gern tun. Dann klappt es sowohl „nach unten“ als auch „nach oben“. Und wer Hilfe braucht, sollte sich nicht scheuen, sich hin und wieder Unterstützung von einem guten Coach zu holen. Auch Entspannung ist wichtig. Damit meine ich: Immer wieder in die eigene Mitte finden!
Paul Halbe: Welche Ursachen hat Mobbing?
Iris Zukowski: Neben dem klassischen Konkurrenzkampf und Konkurrenzdruck, liegen Mobbingproblematiken oft tiefer. Das Mobbing spiegelt häufig ein unbewusstes Selbstwertthema wider, das in dem Betroffenen liegt und im Außen – unbewusst – Resonanzen erzeugt.
Paul Halbe: Ist die Doppelbelastung von Beruf/Karriere und Partnerschaft/Familie ein allgemeines oder ein gelegentliches Problem?
Iris Zukowski: Ein generelles Problem! Doppel-Belastungen sind immer ein Problem!
Paul Halbe: Wie wirkt sich Beziehungsstress aus?
Iris Zukowski: Negativ. Stress schwächt das Nervensystem und damit Körper und Psyche.
Paul Halbe: Welche Unterschiede bestehen zwischen den Männern und den Frauen, denen Sie helfen?
Iris Zukowski: Ich sehe jeden, egal ob Mann oder Frau, vor allem als Individuum mit einem individuellen Anliegen und darauf stimme ich meine Interventionen ab. Generalisierungen mag ich zwar nicht so gern, dennoch kann man sagen, dass Frauen mehr Kompetenzen hinsichtlich ihrer Gefühle und deren Wahrnehmung mitbringen. Männer sind tendenziell eher rationale „step-thinker“, Frauen eher gefühls- und beziehungsorientierte „empathic-thinker“.
Paul Halbe: Kommen Menschen mit religiösen Problemen zu Ihnen?
Iris Zukowski: Eher selten. Es gibt aber immer mehr Menschen, die einen spirituellen Anspruch haben.
Paul Halbe: Gibt es Fälle, in denen Sie mit Ihren Möglichkeiten nicht helfen können?
Iris Zukowski: Es gibt durchaus Fälle, wo ich der Meinung bin, dass ein Kollege besser helfen könnte. Nicht jeder Therapeut/Coach ist für jeden geeignet, es muss zwischenmenschlich passen.
Zukowski: 2011