Sich verändern? Warum denn?
Aus: „Am Vorabend des Vergessens“
In Hirschbergs Beratungspraxis war es schon mal vorgekommen, dass ihm Unternehmer abgesprungen waren, weil sie ihren Laden eher ruinierten als einzusehen, sie selber seien die Ursache der Probleme. Hirschberg nahm solche Verabschiedungen in Kauf. Denn er wollte sein Geld nicht mit Kosmetik verdienen, wenn eine Operation erforderlich war. In diesem verbreiteten Widerwillen gegen Selbstkritik und Selbstverbesserung lag wohl auch der Grund, warum mittelständische Eigentümer-Unternehmer als geschäftsführende Gesellschafter erst nach einem längeren Prozess der Selbstüberwindung Rat suchten. Meistens steckte die Karre dann schon tief im Dreck. Die besseren Mitarbeiter hatten das Unternehmen verlassen, andere arbeiteten in der sogenannten inneren Emigration. Nur die Vasallen des Chefs legten sich noch ins Zeug.
Als Berater musste man in so einem Fall bei der Unternehmensspitze ansetzen. Wenn nötig, war in einem Crashkurs die Einsicht zu provozieren, dass sich zunächst die Führung ändern muss. Die Mitarbeiter sahen auf den Chef, ob der denn endlich sein Verhalten umstelle, ob er mit der Geheimniskrämerei aufhöre, ob man mit ihm über die seit langem gemachten Vorschläge reden könne. Sie selbst seien ja schon immer bereit gewesen, kooperativ mit der Geschäftsführung zusammenzuarbeiten. Und dann kam es: „Nein, nicht wir, der Chef muss sich ändern.”
Und der Chef? Der erwartete vom Berater, dass er seine Mitarbeiter ändere. Die sollten endlich Engagement zeigen, mitdenken, weniger Ausschuss produzieren. Sie sollten einsehen, dass sie nicht für ihren Chef, sondern für die Kunden arbeiteten. Sie sollten mehr Verständnis für die Maßnahmen der Geschäftsführung haben, die ja auch ein Interesse an der Erhaltung der Arbeitsplätze habe. Man wäre durchaus bereit, auf die Mitarbeiter zuzugehen, aber die müssten erst einmal von ihren Maximalforderungen runter.
Außerdem seien da einige Aufwiegler darunter, der Soundso und der Soundso, die wären im Betriebsrat, und deshalb könne man sie leider nicht los werden. Hinter den Forderungen, mit denen man ihn, den Chef, dauernd unter Druck setze, stünden die Gewerkschaften. Jede Zusatzleistung koste ihn viel Geld. Um jede Überstunde müsse er kämpfen. Er habe schon hundert Mal dargelegt, unter welchen Risiken und Marktzwängen das Unternehmen stehe, aber damit stoße er auf taube Ohren. „Reden Sie mal mit denen!”
Was macht der Berater? Er sieht sich im Unternehmen um, beobachtet, stellt Fragen, erfasst die Betriebsabläufe, fährt seine Antennen aus, schaltet seine Sensoren ein und leitet alles in seinen Erfahrungs- und Wissensspeicher. In den Gesprächen mit dem Chef checkt er gegen. Auch Versuchsballons lässt er steigen. Schon bald weiß er, mit wem er sprechen muss, um in das informelle Kommunikationsnetz des Unternehmens einzudringen.
Diese Interviews dauern bis zu zwei Stunden. Auch die letzte Maske muss nach Möglichkeit fallen. Aber manche Leute sind hart gesotten, die halten auch zwei Stunden durch. So langsam kommt dennoch zum Vorschein: Keiner will sich im Grunde ändern. Die Schuld liegt auf der anderen Seite. Blockade. Der Berater schlägt Aufweichmaßnahmen vor: Changemanagement. Es stellen sich erste Erfolge ein. Der Chef glaubt, er sei über den Berg – und könne jetzt so weiter machen wie bisher. Er bedankt sich und weist das Honorar an.
Eines Tages hört der Berater oder liest es sogar in der Zeitung: Die Firma, die er vor einem Jahr beraten hat, wurde an einen Konzern verkauft. Es liegt auf der Hand, was da passiert ist. Die alten Schwierigkeiten sind wieder aufgetreten, wahrscheinlich heftiger als je zuvor. Der geschäftsführende Gesellschafter sah nur noch eine Möglichkeit, aus dem ganzen Schlamassel herauszukommen und die Mitgesellschafter, vermutlich Familienmitglieder, zufriedenzustellen: verkaufen. In Zukunft, so ist weiter zu hören, will er seine langjährigen Erfahrungen als Unternehmer anderen Unternehmen zur Verfügung stellen, junge Leute bei ihrer Existenzgründung beraten. Hirschberg murmelte vor sich hin: „Guten Tag, Herr Kollege!”
Und was macht der Konzern? Der setzt vermutlich eine renommierte, weltweit agierende amerikanische Mammutberatungsfirma auf den 100-Mann-Betrieb an. Die Mitarbeiter trifft der Schlag. Denn mit dem Namen der Beratungsfirma wird Personalabbau verbunden. Doch vorerst ist von den Beratern kaum etwas zu sehen. Nur mit der neuen Geschäftsführung sitzen sie hin und wieder zusammen. Für die Mitarbeiter interessiert sich niemand. Die empfinden es als angenehm, dass alles wie gewohnt läuft, und das sogar mit weniger Druck als früher.
Dennoch haben sie ein ungutes Gefühl: Irgend etwas ist im Busch. Da irren sie sich nicht: Die neue Führung und ihre Berater machen Zahlenanalyse. Daraus wird sich ergeben, ob der Betrieb dicht gemacht, einem anderen zugeschlagen, zerteilt oder als Einheit erhalten wird. Auf jeden Fall wird er den im Konzern gegebenen Strukturen entsprechend umorganisiert. Wahrscheinlich wird er als reiner Produktionsbetrieb weitergeführt. Wenn entschieden ist, wird der Betriebsrat informiert und gehört, dann eine Betriebsversammlung einberufen und den Mitarbeitern mitgeteilt, wie die Zukunft aussehen wird. Jedem, dessen angestammter Arbeitsplatz aufgrund der Umstrukturierung entfällt, wird ein neuer Arbeitsplatz in einem der Konzernbetriebe angeboten. Wer auf eigenen Wunsch ausscheidet, erhält eine großzügige Abfindung. Das war’s.