Der Absturz eines Herrschaftssystems
Priester meiner Kindheit und Jugend
Nein, ich wollte nie Messdiener werden und meine Eltern haben mich auch nie dazu gedrängt. Ich war jedoch bis zum Stimmbruch Chorknabe. Es gab Unruhestifter in unseren Reihen. Die stellte der Chorleiter nach einigem Abwarten und zwei oder drei Ermahnungen mit einer Backpfeife ruhig. Das fanden wir in Ordnung. Denn wir wollten ja singen und nicht von einem oder zwei Hampelmännern über einen gelegentlichen Gag hinaus unterhalten werden.
Unseren Religionslehrer auf dem Gymnasium fand ich gut. Er gab die starre Sitzordnung frei und scharte uns um sich. So saß ich hin und wieder neben ihm und er legte seinen Arm um meine Schulter. Aus mir könnte mal ein Benediktinermönch werden, meinte er. Für mich kein Thema. Ihm verdanke ich die Unterscheidung zwischen der Frohen Botschaft und ihren Botschaftern. Leider ist er noch während meiner Schulzeit gestorben.
Mein Studentenpfarrer, ein Jesuit, war – im Sprachgebrauch von heute – cool. Er ergänzte unsere Studiererei mit den lebenswichtigen Orientierungslinien des Glaubens. Und konfrontierte uns mit den Herausforderungen des Glaubens durch die Weltanschauungen der Zeit. Mich hat er nie zu reglementieren versucht; er bestärkte mich darin, meine berufliche Zukunft im Bereich von Film und Fernsehen suchen zu wollen; beauftragte mich mit der Organisation von Festveranstaltungen.
Es gibt Fehlberufungen
Im Rahmen meiner persönlichen Weiterbildung war ich als junger Erwachsener in der sogenannten Dritten Welt. Dort wurde ich streckenweise begleitet von einem Priester. Im Bus legte er seine Hand auf meinen Oberschenkel. Ich legte sie zurück. Doch er machte im Hotelzimmer einen weiteren Versuch. Es kam zu einem Ringkampf. Er gab auf. Er war ein herzensguter Mensch. Einsam. Wie ich erfuhr, war seine Mutter die Ursache dafür, dass er sich als Knabe zum Priester berufen fühlte.
Die letzten zwei Jahre meiner Lehr- und Wanderjahre nach dem Studium habe ich in einer Kirchenverwaltung gearbeitet. Meine Aufgabe: die Pressestelle aufbauen. Gleichbedeutend mit: Abträgliches über Bistum und Bischof verhindern. Ich lernte so manches Elend von Priestern kennen, die für einen „Hirten“ wahrlich unbegabt waren. Als Freiberufler habe ich später eine Ordensgemeinschaft und eine Bistumsverwaltung bei der Neugestaltung ihrer Organisation beraten.
Bei diesen Erinnerungen an Begebenheiten während der Jahrzehnte vor meiner heutigen Lebensphase des Loslassens bin ich ins Grübeln gekommen: Wie soll es denn jetzt mit der Kirche weitergehen? Und dann bin ich eingeschlafen und habe geträumt. Woran ich mich noch erinnern kann, habe ich auf die Reihe gebracht, so zusammengefasst, dass es halbwegs Sinn ergeben könnte, weggelassen, was mich zornig machte. Es sollte liebevoll sein. Mein Traum:
Die Angeklagten
Das Mittelschiff im Petersdom. Nach vorne bewegt sich schleppenden Schritts und dicht gedrängt ein Zug kirchlicher Würdenträger in ihrem vollen Ornat samt der Insignien von Amt und Würden. Die Kirchenbänke sind leer. Orgelbrausen. Glockengeläut.
Die sogenannten Hirten bleiben, kurz vor dem Quergang der Vierung, stehen. Abrupte Stille. Eine hasserfüllte Frauenstimme zerreißt die Stille: Verbrecher! Ein Paukenschlag. Die Bischofsstäbe fallen den Hirten aus den Händen.
Ein plötzlicher Windstoß reißt ihnen das, was Mitra genannt wird, vom Kopf. Die roten Käppchen, die dadurch frei werden, rutschen von ihren Schädeln. Die prunkvollen Gewänder fallen ihnen vom Leib. Schließlich stehen sie da in Unterwäsche, manche nackt.
Die Ankläger
Im Gestühl und in den Bänken hinter, rechts und links des Altars im Mittelpunkt der Vierung sitzen schwarz gekleidete Männer und Frauen. Sie erheben sich. Zwölf von ihnen, sechs Frauen und sechs Männer, treten aus den Reihen heraus und gehen zu der Stuhlreihe, die vor dem Altar aufgestellt ist.
Bis auf einen der Männer nehmen sie Platz. Der Mann geht gemessenen Schritts zu dem Ambo, der vor den Amts- und Würdenträgern der Kirche, auf ein kleines Podest gestellt worden ist. Er geht in Position und blickt die Männer vor sich lange und durchdringend an. Dann:
„Ich begrüße euch Brüder, die ihr zu diesem Bußgottesdienst gekommen seid. Wir, an denen ihr euch vergangen habt, an denen ihr euch schuldig gemacht habt, klagen euch an. Aber wir verurteilen euch nicht. Gott wird euch richten.
Und Gott wird jedem von uns die Gerechtigkeit widerfahren lassen, die uns Genugtuung verschafft. Euch wird er die angemessene Strafe auferlegen. Wie ihr als Beichtväter wisst, muss zur Buße die Umkehr kommen. Mit Gottes Hilfe möchten wir uns mit euch dazu auf den Weg machen.“
Der Ankläger geht zu seinem Stuhl, setzt sich. Das Dies Irae von Hector Berlioz erschallt. Von den Zwölf vor dem Altar erheben sich fünf und tanzen das Nachempfinden ihres Missbrauchs oder ihrer Vergewaltigung, Ihrer Erniedrigung und Entwürdigung. Wirklichkeitsnah.
Die Fürbitten der Ankläger
Ein Mann erhebt sich aus der Reihe vor dem Altar und geht zum Ambo: „Wir alle sind unvollkommene Menschen. Keine Vorschrift kann uns vollkommen machen. Nur Gott durch seine Liebe. Auch Tradition macht uns nicht vollkommen. Denn Traditionen werden von Menschen geschaffen.
Jahrhunderte lang galt: Cuius regio eius religio – Der Herrscher bestimmt die Religion seiner Untertanen. Heute bekennen wir uns zur Religionsfreiheit. Die Sklaverei ist abgeschafft. Herr, unser Gott – Hilf uns, die autoritären Systeme der Lieblosigkeit zu überwinden!“
Ein weiterer Mann kommt zum Ambo: „Wir alle sind unvollkommene Menschen. Unser durch Irrtümer und Fehler durchsetztes Denken zu den Fragen unseres Glaubens können wir nicht durch noch so große Begabung und intensives Studium zu ‚reiner‘ Lehre destillieren.
Und das Ergebnis dadurch unanfechtbar machen, dass wir den Hl. Geist als Quelle anführen. Der Geist Gottes lässt sich nicht vereinnahmen. Wir können uns nicht in unseren Glauben hineinstudieren.“
Eine der Frauen kommt zum Ambo: „Wir alle sind unvollkommene Menschen. Von Gott reich beschenkt mit einer Fülle von Talenten. Diese in uns zu entdecken, zu entwickeln und zu unserem eigenen wie zum Heil unserer Mitmenschen einzusetzen, gibt unserem Leben Sinn.
Auf dem Hintergrund des ewigen Lebens, zu dem uns Gott berufen hat, ist unsere irdischen Lebenszeit nur kurz. Doch das gibt uns nicht das Recht, diese Welt verächtlich beiseite zu schieben. Sie ist Gottes herrliche Schöpfung, die es zu bewahren gilt.“
Eine weitere Frau kommt zum Ambo: „Wir alle sind unvollkommene Menschen. Auch ihr Priester, Pfarrer, Dekane, Weihbischöfe, Bischöfe, Erzbischöfe, Kardinäle und auch du, Papst. Diese Unvollkommenheit wird bei euch durch die Weihe nicht aufgehoben.
Ihr seid nicht heilig, sondern wie wir alle Sünder. Erlöst wie wir alle durch die Taufe. Rückfällig in Gedanken, Worten und Taten. Als Kirche sind wir alle gemeinsam der Aufgabe verpflichtet, Gottes Frohe Botschaft zu jeder Zeit zu verkünden.
Ein weiterer Mann kommt zum Ambo: „Ihr habt uns missbraucht. Als wir Kinder und Jugendliche waren, die euch Vertrauen und Liebe geschenkt haben. Ihr habt getan, verschwiegen, geleugnet, versteckt, verharmlost, abgewartet.
Euer Versagen hat euch vor Gott und den Menschen zu Scheusalen gemacht. Ja, jetzt endlich habt ihr zugegeben, aufgedeckt, eingestanden, herausgerückt, überstellt. Zu spät, zu zögerlich, zu lückenhaft, zu feige, zu halbherzig.
Ihr habt unsere Würde beschmutzt, unser Leben aus der Bahn geworfen. Ihr knausert bei der Entschädigung, bekommt für euer Schuldbekenntnis die Zähne nicht auseinander, duckt euch weg, statt die Ursachen zu erforschen und zu beseitigen.“
Eine weitere Frau kommt zum Ambo: „Ihr glaubt, wenn ihr euch dazu verpflichtet, von dem getrennt zu leben, was Gott einander zugeordnet hat, Mann und Frau, stünde eurem heiligmäßigen Leben nichts mehr im Wege.
Mit dieser Verpflichtung würdigt ihr die Liebe zwischen Mann und Frau herab, habt ihr die Sexualität in euch zu einem Monster werden lassen. Ihr habt uns vergewaltigt. Zu Huren gemacht. Unsere gemeinsamen Kinder zu Bastarden.
Sexualität ist ein Geschenk Gottes: Sie lässt Mann und Frau in ehelicher Vereinigung das Hochgefühl der Liebe erfahren. Gott beteiligt Mann und Frau an seiner Schöpfung: Sie können Menschen zeugen.“
Die Missbrauchten treten vor
Alle Zwölf nehmen in Reihe hinter dem Ambo, den Amts- und Würdenträgern zugewandt, Aufstellung. Sie legen ihre schwarze Kleidung ab, es kommen farbenfrohe Gewänder zum Vorschein.
Der Mann, der die Eröffnungsansprache gehalten hat, trägt das Kostüm eines Hofnarren. Er gibt den schwarz gekleideten Frauen und Männern in den Bänken ein Zeichen, worauf diese sich erheben.
Sie kommen nach vorne und nehmen in voller Breite die Fläche ein, die zwischen der Stuhlreihe vor dem Altar und dem Ambo liegt. Trauermusik, ernst, nicht bedrohlich.
Der Hofnarr tritt an das Mikrofon:
„Euch und unseren Peinigern reichen wir die Hand zur Versöhnung. Denn auch unsere Peiniger sind Opfer. Opfer eures kranken Systems. Eines Herrschaftssystems, das an die Zeit der Schriftgelehrten und Pharisäer des Alten Testaments erinnert.
Auch wenn Ihr die Übeltäter aus Euren Reihen nach langem Zögern, Vertuschen und Leugnen zur Strafverfolgung an die Staatsmacht überstellt: Ihr solltet ihnen bei ihrem Bußgang zur Seite stehen. Euer Herrschaftssystem solltet ihr aufgeben.
Die Liste eurer Versäumnisse und eures Missmanagements ist lang. Eure verfehlte Anwerbung und Ausbildung für den Priesterberuf habt ihr beibehalten, obwohl sie ins Leere laufen. Eure Mitarbeiter behandelt ihr nach wie vor wie autoritäre Herrscher.
Ihr trefft Entscheidungen, ohne sie zu begründen. Ihr schottet euch ab, versteckt Euch hinter oder in Gremien, scheut Transparenz, verhindert sachgerechte und effiziente Organisationsformen mit der Behauptung, kein weltliches Unternehmen zu sein.
Wenn ihr Euch trotzdem in größter Not ‚weltlichen Rat‘ holen müsst, tut Ihr nur das aktuell Unumgängliche. Danach geht die Herrschaft der einsamen Wölfe und der Cliquen unter Euch weiter. Eure Webseiten täuschen über Eure Versäumnisse hinter den Kulissen hinweg.
Warum haben wir Euch zu diesem Bußgottesdienst eingeladen? Weil wir mit Euch die Kirche erneuern wollen, weil wir die Kirche als dienende Institution unseres Glaubens im Wandel der Zeit erhalten wollen. Ecclesia semper reformanda est! Was wir wollen:
- Mit Euch gemeinsam wollen wir die Kirche so entrümpeln und erneuern, dass sie ihren Auftrag in der Welt wahrnehmen kann.
- Wir wollen alle Talente entdecken, fördern und für den Dienst als Kirche einsatzfähig machen, die den Getauften gegeben sind.
- Wir wollen alle Möglichkeiten unserer Zeit – Methoden, Systeme, Techniken – für die Organisation der Institution Kirche professionell nutzen.
- Wir wollen den Dilettantismus im Führungsverhalten durch ein von Kompetenz geprägtes Miteinander ersetzen.
- Wir wollen die Zerreißprobe zwischen denen, die sich von einem vergangenen Zeitgeist nicht verabschieden können, und denen, die sich den Erfordernissen der heutigen Zeit stellen, auflösen.
- Wir wollen, dass die Kirche mit einer Stimme spricht, mit einer liebevollen Stimme: der des Papstes im Einklang mit dem letzten Konzil.
- Wir wollen, dass die Kirche die Strahlkraft einer glaubwürdigen Institution hat, als moralische Instanz der Menschheit.
- Wir wollen, dass wir alle gemeinsam uns als Kirche verstehen und fühlen und daraus die Kraft gewinnen, vorwärtsgewandt statt rückwärtsgebeugt zu agieren.
- Wir wollen einen energiegeladenen, lebenstüchtigen und regenerationsfähigen Leib Christi als Kirche.
Lasst uns gemeinsam singen!“
Alle Versammelten singen das Kirchenlied „Suchen und fragen, hoffen und sehn, miteinander glauben und sich verstehn …“ (Gotteslob 457)
All die farbenfroh gekleideten Frauen und Männer jeden Alters und aller Hautfarben gehen mit ausgestreckten Händen auf die Kleriker zu. Einige von ihnen kommen ihnen entgegen, andere brechen zusammen, wieder andere drehen sich um und streben dem Ausgang zu.
Schlussbild: farbenfroh gekleidete und entkleidete Würdenträger umarmen sich.
Orgelmusik, die Aufbruchstimmung verbreitet. Ich erwache. Aus der Traum. Heute Morgen im Gottesdienst hieß es im Evangelium: „Da nahm ihn Petrus beiseite und machte ihm Vorwürfe. Jesus wandte sich um, sah seine Jünger an und wies Petrus mit den Worten zurecht: Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen!“