Wie man Bildern ihre Macht nehmen kann
Wir werden überflutet mit Bildern. Das stumpft ab. Man schaut nicht mehr genau hin, lässt sich vom ersten Eindruck täuschen. Von den Produzenten und Vermittlern der Bilderflut werden immer eindringlichere Bildmotive ausgewählt und gestaltet. Sie wollen sich dadurch im Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der Zuschauer behaupten. Wir sollen gepackt werden von der Macht ihrer Bilder. Wir sollen uns über Ungerechtigkeit aufregen, Mitleid empfinden, uns Angst machen lassen, Ohnmacht, Lust, Freude, Neid, Stolz, Harmonie und anderes empfinden.
Zugeben muss man: Noch nie waren so viele wunderschöne Bilder in Filmen, Fernsehsendungen, Bildbänden und Kalendern zu sehen wie heute. Sie lösen Glücksgefühle aber auch Sehnsüchte aus.
Wer sich mit der Macht von Bildern beschäftigt, muss die Bilder befragen: Was ist es, was mich da fasziniert? Warum möchte ich das einmal mit eigenen Augen sehen? Eine ähnliche Situation erleben? Immer sollte man genau hinsehen. Denn manches Foto zeigt nicht die Wirklichkeit, die es vorgibt zu zeigen, sondern eine virtuelle Welt, die unsere Wünsche und Hoffnungen bedient. So viele schöne Menschen beispielsweise, wie sie uns tagtäglich gezeigt werden, gibt es gar nicht.
Aus meiner Zeit als Filmkritiker stammt die Methode, mir Szenen in bewegten und mich bewegenden Bildern wiederholt und in Zeitlupe anzusehen. Ich will herausfinden, warum in mir Emotionen wach gerufen werden, ohne dass ich das Warum und die Auslöser auf Anhieb erkenne. Ich will wissen, mit welchen Mitteln – nicht nur der Dramaturgie – gearbeitet wurde: Bildausschnitt, Perspektive, Licht, Farben, Mimik, Gestik, Montage, Stimmen, Geräusche, Musik. Es sind indes nicht nur Gefühle, auch Gedanken werden mit Bildern wachgerufen. Unser Gedächtnis orientiert sich vornehmlich an Bildern. Wir träumen in Bildern. Unser Denken ist unterlegt mit Bildern.
Bilder sind immer auch Gleichnisse: eine Landschaft für Schöpfung, eine Brücke für Verbindendes, ein Labor für wissenschaftliche Neugier, Märkte für Austausch, Berggipfel für große Ziele und anderes mehr. Die Reporter mit ihren Kameras liefern solche Fotos und Szenarien zuhauf. Welche Einsichten stoßen sie bei uns an? Worüber nachzudenken, fordern sie uns auf? Auch hier muss man genau hinsehen – und hinhören. Denn auch hier wird manipuliert: durch die Wortwahl der Kommentierung beispielsweise, durch die hergestellten Zusammenhänge und vor allem durch Weglassen. Dem lässt sich nur durch eigenes Wissen und eigene Erfahrungen begegnen.
Wer den Bildern seines Denkens und Fühlens Aufmerksamkeit schenkt und ihnen nachgeht, wird nach einiger Zeit merken, dass er nicht mehr durch die von außen auf ihn einwirkenden bildhaften Vorstellungen gesteuert wird – sei es bestätigend oder ablehnend. Fernsehen, Filme und Zeitschriften werden in ihren mutmaßlichen Manipulationen erkannt. Damit wird ihnen die direkte Wirkung genommen, ohne sie als Ausdruck unserer Zeit zu ignorieren. Und dadurch wird man Herr der eigenen Bilderwelt. Außerdem wird die Fähigkeit gewonnen, mit seinen Vorstellungen kreativ umzugehen: auf Ideen kommen, zu neuen Einsichten gelangen, die eigenen Vorstellungen mit denen anderer abstimmen können.
Von Zeit zu Zeit bitte ich Freunde und Bekannte, zu einem Fotomotiv ihre Gedanken zu formulieren. Das Erstaunen ist oft groß, wie unterschiedlich die Assoziationen sind. Es spiegelt sich wider, dass wir sehr unterschiedliche Vorstellungen in uns tragen. Solange das Gesehene beschrieben wird, liegen die Aussagen noch eng beieinander, wenn auch die Wortwahl verschieden sein mag. Doch sobald die Gefühle benannt werden, die ein Motiv anspricht, kann es bis ins Gegensätzliche gehen. Es zeigt sich, wie unsere Individualität im Vergleich mit den Vorstellungen anderer erkennbar wird. Manchen fällt es schwer, die Assoziationen der anderen nachzuvollziehen. Genau das sollte man aber erreichen.