Beruf und Karriere als Lebenssinn?
Der Lebensmittelpunkt vieler Menschen hat sich von der Familie zum Arbeitsplatz verschoben. Ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft zu sein, wird aus dem beruflichen Erfolg gewonnen. Nicht aus der Wertschätzung als Mutter oder Vater. Lebensrisiken wie Krankheit, Invalidität und Pflegebedürftigkeit sind zwangsversichert.
Die Kinderbetreuung übernehmen schon bald nach der Geburt staatliche Einrichtungen. Kindsein spielt sich vorwiegend in Krippen und Kitas ab. Der Jugendliche ist dem Schulsystem auf Gedeih oder Verderb ausgeliefert. Mit seinem Vater und/oder seiner Mutter kann der Heranwachsende – wenn es denn passt – abends, an Wochenenden und Ferientagen zusammen sein. Er hat sein eigenes Zimmer mit PC, gesellt sich mit Gleichalterigen.
Die Berufswelt nimmt Männer wie Frauen in Vollzeitjobs mindestens acht Stunden pro Tag in Anspruch. Die übrige Zeit wird zur Erholung, für Ausgleichssport und zur Erfüllung von Haushaltspflichten genutzt. Insbesondere bei Müttern kommen die Erholung und der Ausgleichssport meistens zu kurz.
Die Reste der traditionellen Familien-Aufgaben, die nicht vergesellschaftet werden können, bleiben in der Regel an den Müttern hängen. Viele Frauen entscheiden sich daher zu einer Halbtagsarbeit und verzichten damit auf Karrierechancen. Das mindert einerseits ihre Integration in die Welt der Arbeit, andererseits sind sie reduziert auf Teilzeitmütter in unbezahlter Dienstleistungs-funktion.
Sozialwissenschaftler, die mit Statistiken, Langzeit- und Querschnittstudien den Zustand und die Entwicklung unserer Gesellschaft zu beschreiben versuchen, konstatieren mittlerweile: Teilhabe an unserer Gesellschaft und das Empfinden, dazu zu gehören, hängen ab von der stabilen Integration in den Arbeitsmarkt. Anders ausgedrückt: Vollgültiges Mitglied unserer Gesellschaft ist heute, wer sich aufgrund seiner Berufstätigkeit keine Sorgen um sein Überleben in Wohlstand und die entsprechende Wertschätzung seiner Mitmenschen machen muss.
Wo werden die Voraussetzungen für ein solchermaßen ‚erfülltes‘ Leben geschaffen? Wer vermittelt die notwendigen Fähigkeiten? Wer sind die Vorbilder, an denen Kinder und Jugendliche ihr Verhalten ausrichten können? Wie erziehungsfähig sind Mütter und Väter, die eine Feierabend‑, Wochenend- und Urlaubsehe führen?
Wenn man diese Fragestellungen auf die Misserfolge des Bildungssystems konzentriert, kommt man dahinter, wo der Tatort für die ungleichen Lebenschancen sind, die so gerne und vehement als soziale Ungerechtigkeit angeprangert werden:
- Wer hat versagt, wenn Kindern und Jugendlichen in ihrem späteren Erwachsenenleben die Integration in die Arbeitswelt nicht gelingt? Die Mitarbeiterinnen in den Kinderkrippen und Kitas? Sind sie nicht genügend qualifiziert? Was fehlt ihnen im Vergleich mit Eltern, denen Erziehung gelingt?
- Woran liegt es, wenn Väter und Mütter in ihrem Verhalten gegenüber ihren Kindern und Jugendlichen versagen? Als Vorbilder ausfallen? Überfordert sind mit Erziehungsaufgaben? Haben bereits ihre Eltern, Erzieherinnen, Lehrer, Ausbilder und Professoren versagt? Haben Bildungspolitiker in den Bundesländern mehr Sozialpolitik als Bildungspolitik betrieben?
- Kann das Lehrpersonal an den Schulen ausgleichen, was Kinder aus ihrer Vorschulzeit an Fehlverhalten in die Klassenzimmer einbringen? Warum schmeißen viele Jugendliche die Schule? Warum ist es nach wie vor das Elternmilieu, das Jugendlichen die besseren oder auch die schlechteren Lernvoraussetzungen schafft?
- Warum gibt es an den Hochschulen so viele Studienabbrecher? Sind mangelnde Hochschulreife, die Hochschulstrukturen, die Lernanforderungen, die Lehrqualifikationen, Prüfungssysteme und so weiter so unzureichend, dass so viele Studierende aufgeben?
- Ist es tatsächlich nur die mangelnde berufliche Ausbildung, die einen auf dem Arbeitsmarkt keinen Job finden lässt? Oder sind auch Verhaltensmängel dafür ursächlich, die auf Fehlentwicklungen in der Kinder- und Jugendzeit zurückzuführen sind, für die Erwachsene die Verantwortung tragen?
Es verwundert nicht, dass herausgefunden wurde: Arbeitslose, Zeitarbeitnehmer und befristet Beschäftigte haben ein geringeres ‚Teilhabeempfinden‘ an unserer Gesellschaft als unbefristet Beschäftigte und Selbständige. Folgen dieses Empfindens, nicht dazu zu gehören, sind: verminderte soziale Beziehungen, Nachlassen intellektueller Fähigkeiten wie logisches Denken und Umgang mit Zeit, Zweifel am Lebenssinn, kein soziales Engagement, kaum Hilfsbereitschaft. Manche entwickeln aggressives Verhalten oder rutschen ab in die Abhängigkeit von Betäubungsmitteln.