Still werden und in sich hineinhorchen
Ich bin zur Ruhe gekommen: Langsamer Atem, geschlossene Augen, alles losgelassen. In die Stille hinein frage ich: Wie erlebe ich mich? Nach einer Weile kommt aus der Stille die Antwort: Voller Sehnsüchte. Ich möchte anerkannt sein, geliebt werden, bestätigt werden, Recht haben, frei sein, an nichts leiden, ein interessantes Leben führen, mir etwas leisten können – die Liste ist lang. Ich schweife ab.
Dann fasst mich Unsicherheit: Ich fühle mich gefangen in Unvollkommenheit. Ich weiß so vieles nicht. Ich weiß auch nicht, was von dem, was ich weiß, richtig, teilweise richtig oder falsch ist. Falsch: Was der Wirklichkeit nicht entspricht. Welcher Wirklichkeit? Immer wieder entdecke ich Neues. Vieles verstehe ich nicht.
Die Fragen häufen sich. Ich stelle fest: Ich irre mich und mache Fehler. Außengesteuert und unsicher fühle ich mich. Bin ich denn gar nicht Herr meiner selbst? Bilde ich mir das nur manchmal ein? Meine Gedanken lassen sich nur selten konzentrieren. Meine Worte sind eher spontan als wohl überlegt. Meine Handlungen entbehren oft jeglicher Logik. Ich reagiere mehr, als ich agiere.
Wer gibt mir Halt? In der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments nennt Gott den Menschen sein Abbild: „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich.“ Gott, der Vollkommene, der die Welt erschaffen hat, spricht dem Menschen unauslöschliche Würde zu. Tagtäglich treten die Menschen diese Würde mit Füßen.
Angst erfasst mich: Schneller und schneller falle ich ins Bodenlose. Der Schacht hat kein Ende. Kein Abbremsen. Kein Halt. Kein Licht. Nur freier Fall. Ich schreie, brülle, strample, vergehe vor Angst. Nichts zu erkennen. Nur verzerrte Streifen hell-dunkel. Plötzlich ringsum Nebel. Ich lausche.
Beißende Stille. Stehe ich? Oder falle ich? Bewege ich mich auf der Stelle? Orientierungslos im endlosen Raum. Kein Schatten. Keine Umrisse. Pures milchiges Weiß. Nichts ist zu spüren. Ich fühle mich nicht, bin nur Angst und Schrecken. Mit atemberaubender Geschwindigkeit schieße ich heraus aus dem Weiß wieder ins Dunkel der Nacht. Schwerelos rase ich tonnenschwer nach unten. Nein, ich fliege nicht, kann mich nicht bewegen, bin nur Stein. Jetzt spüre ich Luft, aber sie trägt nicht.
Widerstandslos lässt sie mich durch. Wer hat mich in dieses Nichts hinaus gestoßen? Mich hilflos in die Nacht entnabelt? Mich in die Kälte des Alls ausgesetzt? Lieblos, gefühllos, verantwortungslos. Voller Wut schlage ich bewegungslos um mich, schmettere stumm meinen Hass in die Welt. Schließlich verlässt mich alle Kraft. Ich verstumme, werde bewusstlos, leblos. Und erwache in der Liebkosung meiner Mutter, die mich umfängt.
Ich habe Halt gefunden. Spüre Boden unter den Füßen. Licht erstrahlt über mir. Freude überkommt mich. Ich lebe auf ihn, auf Gott hin! Bei ihm werden meine Sehnsüchte erfüllt. Aus meiner Unvollkommenheit werde ich befreit. Meine Unsicherheit und Außensteuerung heben sich auf in der unmittelbaren Erfahrung seiner vollkommenen Liebe: Glückseligkeit.
Als der Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., gefragt wurde, wie viele Wege es zu Gott gäbe, antwortete er: „So viele, wie es Menschen gibt.“ Ratzinger verweist mich auf mich selbst: Ich muss meinen eigenen Weg gehen. Ich muss meine Begabungen, die Vorbilder und Beispiele meines Umfelds nutzen!
Was muss ich tun? Ich muss der Würde gerecht werden, die mir Gott gegeben hat. Auch wenn andere Menschen meine Würde nicht respektieren – ich behalte sie trotzdem. Meinerseits darf ich anderen Menschen ihre von Gott gegebene Würde nicht absprechen. Vor Gott habe ich zu verantworten, ob ich meiner und der Würde anderer gerecht geworden bin.
Von Personalität, Solidarität und Subsidiarität ist die Rede in der Soziallehre der Katholischen Kirche. Das gilt nicht nur als Entgegnung auf die Kollektivvorstellungen des Kommunismus, sondern auch als Mahnung an die Menschen heute, die sich vom Lebensstil der Wissenschafts- und Staatgläubigkeit vereinnahmen lassen. Sie haben sich als Mündel in die Vormundschaft von Wissenschaftlern und Gesetzgebern zurückgezogen.
Wundgestoßen ist meine Seele. Schon lange blutet sie. Unrecht. Bosheit. Dummheit. An der Unvollkommenheit von uns Menschen drohe ich zu verzweifeln. Faulheit. Unwissen. Ichsucht. Der Kampf für eine bessere Welt hat mich entkräftet und entnervt. Betonköpfe. Feiglinge. Despoten. Ich bin ausgebrannt. Ausgepumpt. Leer. Platt. Mein Wille ist gebrochen. Die Rettung: Meine kleine Schwester setzt sich zu mir, sie legt den Arm um mich. Zuneigung. Trost. Liebe. Ich fasse einen heroischen Entschluss: Mich und die Menschen lieben! Verständnisvoll. Tatkräftig. Demütig.