Dienen – wem denn?
Nein, wir müssen niemandem dienen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Menschen sich von den Zwängen des Dienens befreit haben. Vorbei die Jahrtausende, in denen der Stärkere den Schwächeren zu seinem Sklaven machen konnte. Zuletzt haben sich, ihren Aufklärern und Frontkämpfern folgend, die Arbeiter und die Frauen befreit. Sowohl der Zusammenschluss zur rabiaten Massenbewegung als auch die Taktik des intellektuellen Kleinkriegs haben die Herrschaftsstrukturen der Vergangenheit aufgelöst. Wir sind freie Menschen.
Nicht einmal uns selbst müssen wir dienen. Wir können rauchen, bis unsere Lunge verkohlt ist; trinken, bis unsere Sinne verschwimmen; Fett ansetzen, bis der Kreislauf zusammenbricht; uns mit Esoterik voll saugen, bis die Augen allwissend ins Nichts schauen; singularisiert leben, bis irgendeinem auffällt, uns schon lange nicht mehr gesehen zu haben. Der aufgeklärte und freiheitsliebende Sozialstaat übernimmt die Folgen der Selbstschädigungen auf Kosten der Allgemeinheit.
Auch von den Mächten, die uns zu Seelensklaven machten, sind wir befreit. Wir müssen nicht mehr den Kopf unterm Arm tragen wegen eines schlechten Gewissens. Uns kann keiner mehr an den Pranger stellen. Keiner kann uns mehr eine Buße auferlegen. ‚Gehorsam‘ ist ein Fremdwort. Dienen? Wem denn? Der gut ausgebildete, in Vollerwerbszeit an der Schaffung und Erhaltung des Wohlstands beteiligte Berufstätige – das ist die Idealfigur der heutigen Gesellschaft. Er sorgt für Wachstum und Konsum – mehr brauchen wir nicht. Oder?