SINNphOLL-Thema: Sexualität
Folge 5:
Dem Himmel nahe
Bußgottesdienst: MISERERE NOBIS
Ein Traum vom Verzeihen, Buße tun und Verändern
Dem Himmel entraten
Die Angeklagten
Im Petersdom: Nach vorne bewegt sich schleppenden Schritts und dicht gedrängt ein Zug kirchlicher Würdenträger in ihrem vollen Ornat samt der Insignien von Amt und Würden. Die Kirchenbänke sind leer. Orgelbrausen. Glockengeläut. Die sogenannten Hirten bleiben, kurz vor dem Quergang der Vierung, stehen. Abrupte Stille.
Eine hasserfüllte Frauenstimme zerreißt die Stille: Verbrecher! Ein Paukenschlag. Die Bischofsstäbe fallen den Hirten aus den Händen. Ein plötzlicher Windstoß reißt ihnen das, was Mitra genannt wird, vom Kopf. Die roten Käppchen, die dadurch frei werden, rutschen von ihren Schädeln. Die prunkvollen Gewänder fallen ihnen vom Leib. Schließlich stehen sie da in Unterwäsche, manche nackt.
Die Ankläger
Im Gestühl und in den Bänken rechts und links des Altars im Mittelpunkt der Vierung sitzen schwarz gekleidete Männer und Frauen. Sie erheben sich. Zwölf von ihnen, sechs Frauen und sechs Männer, treten aus den Reihen der Bänke heraus und gehen zu der Stuhlreihe, die vor dem Altar aufgestellt ist. Bis auf einen der Männer nehmen sie Platz. Der eine Mann geht gemessenen Schritts zu dem schlichten Ambo, der vor den Amtsträgern der Kirche aufgestellt worden ist. Er geht in Position und blickt die Männer vor sich lange und durchdringend an. Dann:
„Ich begrüße euch Brüder, die ihr zu diesem Bußgottesdienst gekommen seid. Wir, an denen ihr euch vergangen habt, an denen ihr euch schuldig gemacht habt, klagen euch an. Aber wir verurteilen euch nicht. Gott wird euch richten. Und Gott wird jedem von uns die Gerechtigkeit widerfahren lassen, die uns Genugtuung verschafft. Euch wird er die angemessene Strafe auferlegen. Wie ihr als Beichtväter wisst, muss zur Buße die Umkehr kommen. Mit Gottes Hilfe möchten wir uns mit euch dazu auf den Weg machen.“
Der Ankläger geht zu seinem Stuhl, setzt sich. Das Dies Irae von Hector Berlioz erfüllt wie ein Orkan ohrenbetäubend den Petersdom.
Von den Zwölf vor dem Altar erheben sich fünf und tanzen das Nachempfinden ihres Missbrauchs oder ihrer Vergewaltigung, ihrer Erniedrigung und Entwürdigung. Wirklichkeitsnah.
Die Fürbitten der Ankläger
Ein Mann erhebt sich aus der Reihe vor dem Altar und geht zum Ambo:
„Wir alle sind unvollkommene Menschen. Keine Vorschrift kann uns vollkommen machen. Nur Gott durch seine Liebe. Auch Tradition macht uns nicht vollkommen. Denn Traditionen werden von Menschen geschaffen.
Jahrhunderte lang galt: Cuius regio eius religio – Der Herrscher bestimmt die Religion seiner Untertanen. Heute bekennen wir uns zur Religionsfreiheit. Die Sklaverei ist abgeschafft. Herr, unser Gott – Hilf uns, die autoritären Systeme der Lieblosigkeit zu überwinden!“
Ein weiterer Mann kommt zum Ambo:
„Wir alle sind unvollkommene Menschen. Unser durch Irrtümer und Fehler durchsetztes Denken zu den Fragen unseres Glaubens können wir nicht durch noch so große Begabung und intensives Studium zu ‚reiner‘ Lehre destillieren. Und das Ergebnis dadurch unanfechtbar machen, dass wir den Hl. Geist als Quelle anführen. Der Geist Gottes lässt sich nicht vereinnahmen. Wir können uns nicht in unseren Glauben hineinstudieren. Herr, unser Gott – Hilf uns, unseren Glauben aus der Liebe unseres Lebens heraus zu bezeugen!“
Eine der Frauen kommt zum Ambo:
„Ja! Wir alle sind unvollkommene Menschen. Von Gott reich beschenkt mit einer Fülle von Talenten. Diese in uns zu entdecken, zu entwickeln und zu unserem eigenen wie zum Heil unserer Mitmenschen einzusetzen, gibt unserem Leben Sinn. Auf dem Hintergrund des ewigen Lebens, zu dem uns Gott berufen hat, ist unsere irdische Lebenszeit nur kurz. Doch das gibt uns nicht das Recht, diese Welt verächtlich beiseite zu schieben. Sie ist Gottes herrliche Schöpfung, die es zu bewahren gilt. Herr, unser Gott – Hilf uns, diese Welt als deine Geschöpfe ernst zu nehmen!“
Eine weitere Frau kommt zum Ambo:
„Ohne Frage: Wir alle sind unvollkommene Menschen. Auch ihr Priester, Pfarrer, Dekane, Weihbischöfe, Bischöfe, Erzbischöfe, Kardinäle und auch du, Papst. Diese Unvollkommenheit wird bei euch durch die Weihe nicht aufgehoben. Ihr seid nicht heilig, sondern wie wir alle Sünder. Erlöst wie wir alle durch die Taufe. Rückfällig in Gedanken, Worten und Taten.
Als Kirche sind wir alle gemeinsam der Aufgabe verpflichtet, die Frohe Botschaft unseres Herrn zu jeder Zeit zu verkünden und durch unsere Lebensweise zu bezeugen. Verpflichtet zu gewaltloser, tätiger Liebe. Herr, unser Gott – Hilf uns, eine Kirche liebevoller Menschen zu werden!“
Ein weiterer Mann kommt zum Ambo:
„Ihr habt uns missbraucht. Als wir Kinder und Jugendliche waren, die euch Vertrauen und Liebe geschenkt haben. Ihr habt es getan, verschwiegen, geleugnet, versteckt, verharmlost, abgewartet. Euer Versagen hat euch vor Gott und den Menschen zu Scheusalen gemacht. Ja, jetzt endlich habt ihr zugegeben, aufgedeckt, eingestanden, herausgerückt, überstellt. Zu spät, zu zögerlich, zu lückenhaft, zu feige, zu halbherzig.
Ihr habt unsere Würde beschmutzt, unser Leben aus der Bahn geworfen. Ihr knausert bei der Entschädigung, bekommt für euer Schuldbekenntnis die Zähne nicht auseinander, duckt euch weg statt die Ursachen zu erforschen und zu beseitigen.“ Pause. „Herr, unser Gott – Hilf uns, unseren Peinigern im sogenannten Hirtenamt zu verzeihen!“
Eine weitere Frau kommt zum Ambo:
„Ihr glaubt, wenn ihr euch dazu verpflichtet, von dem getrennt zu leben, was Gott einander zugeordnet hat, Mann und Frau, stünde eurem heiligmäßigen Leben nichts mehr im Wege. Mit dieser Verpflichtung würdigt ihr die Liebe zwischen Mann und Frau herab, habt ihr die Sexualität in euch zu einem Monster werden lassen. Ihr habt uns vergewaltigt. Zu Huren gemacht. Unsere gemeinsamen Kinder zu Bastarden.
Sexualität ist ein Geschenk Gottes: Sie lässt Mann und Frau in ehelicher Vereinigung das Hochgefühl der Liebe erfahren. Gott beteiligt Mann und Frau an seiner Schöpfung: Sie können Menschen zeugen. Ehe und Familie auf Gott hin zu leben und so Liebe vor den Menschen zu bezeugen – das ist Verkündigung der Frohen Botschaft. Herr, unser Gott – Hilf uns, dein Geschenk der Sexualität nicht zu missachten, sondern in dir wohlgefälliger Freude verantwortlich zu leben!“
Die zwölf Vertreter der Missbrauchten treten vor
Alle Zwölf nehmen in Reihe hinter dem Ambo, den Amtsträgern zugewandt, Aufstellung. Sie legen ihre schwarze Kleidung ab, es kommen farbenfrohe Gewänder zum Vorschein. Der Mann, der die Eröffnungsansprache gehalten hat, trägt das Kostüm eines Hofnarren.
Er gibt den schwarz gekleideten Frauen und Männern in den Bänken ein Zeichen, worauf diese sich erheben, vorkommen und in voller Breite die Fläche einnehmen, die zwischen der Stuhlreihe vor dem Altar und dem Ambo liegt. Weitere schwarz gekleidete Menschen kommen von allen Seiten und Ecken des Gotteshauses hinzu und füllen den Raum. Trauermusik, ernst, nicht bedrohlich.
Der Hofnarr tritt ans Mikrofon:
„Ja! Wir klagen euch an. Aber wir verurteilen euch nicht. Euch und unseren Peinigern unter euch reichen wir die Hand zur Versöhnung. Denn auch unsere Peiniger sind Opfer. Opfer eures kranken Systems. Eines Herrschaftssystems, das an die Zeit der Schriftgelehrten und Pharisäer des Alten Testaments erinnert.
Auch wenn Ihr die Übeltäter aus Euren Reihen nach langem Zögern, Vertuschen und Leugnen zur Strafverfolgung an die Staatsmacht überstellt: Ihr solltet ihnen bei ihrem Bußgang zur Seite stehen. Und Ihr solltet euer Herrschaftssystem aufgeben, so wie Euch die Gewänder vom Leib gefallen sind.
Die Liste eurer Versäumnisse und eures Missmanagements ist lang. Eure verfehlte Anwerbung und Ausbildung für den Priesterberuf habt ihr beibehalten, obwohl sie ins Leere laufen. Eure Mitarbeiter behandelt ihr nach wie vor wie autoritäre Herrscher.
Ihr trefft Entscheidungen, ohne sie zu begründen. Ihr schottet euch ab, versteckt Euch hinter oder in Gremien, scheut Transparenz, verhindert sachgerechte und effiziente Organisationsformen mit der Behauptung, kein weltliches Unternehmen zu sein.
Wenn ihr Euch trotzdem in größter Not ‚weltlichen Rat‘ holen müsst, tut Ihr nur das aktuell Unumgängliche. Danach geht die Herrschaft der einsamen Wölfe und der Cliquen unter Euch weiter. Die Webseiten täuschen darüber hinweg, dass hinter der Kulisse vieles im Argen liegt.
Warum haben wir Euch zu diesem Bußgottesdienst eingeladen? Weil wir Euch die Hand zur Versöhnung reichen wollen! Diese Versöhnung muss Folgen haben, sonst ist sie eine unsinnige Kuschelgeste. Was wir wollen:
- Mit Euch gemeinsam wollen wir die Kirche so entrümpeln und erneuern, dass sie ihren Auftrag in der Welt wahrnehmen kann.
- Wir wollen alle Talente entdecken, fördern und für den Dienst als Kirche einsatzfähig machen, die den Getauften gegeben sind.
- Wir wollen alle Möglichkeiten unserer Zeit – Methoden, Systeme, Techniken – für die Organisation der Institution Kirche professionell nutzen.
- Wir wollen den Dilettantismus im Führungsverhalten durch ein von Kompetenz geprägtes Miteinander ersetzen.
- Wir wollen die Zerreißprobe zwischen denen, die sich von einem vergangenen Zeitgeist nicht verabschieden können, und denen, die sich den Erfordernissen der heutigen Zeit stellen, auflösen.
- Wir wollen, dass die Kirche mit einer Stimme spricht, mit einer liebevollen Stimme: der des Papstes im Einklang mit dem letzten Konzil.
- Wir wollen, dass die Kirche die Strahlkraft einer glaubwürdigen Institution hat, als moralische Instanz der Menschheit.
- Wir wollen, dass wir alle gemeinsam uns als Kirche verstehen und fühlen und daraus die Kraft gewinnen, vorwärtsgewandt statt rückwärtsgebeugt zu agieren.
- Wir wollen einen energiegeladenen, lebenstüchtigen und regenerationsfähigen Leib Christi als Kirche.
- Wir wollen eine Kirche, mit der wir uns alle identifizieren und die wir alle gemeinsam repräsentieren.
Lasst uns gemeinsam singen!“
Alle im Petersdom Versammelten singen das Lied „Suchen und fragen, hoffen und sehn, miteinander glauben und sich verstehn …“ (Gotteslob 457)
Danach: All die schwarz gekleideten Menschen bringen ihre farbenfrohe Kleidung zum Vorschein. Es sind Frauen und Männer jeden Alters und aller Hautfarben. Sie gehen mit ausgestreckten Händen auf die Kleriker zu. Einige von ihnen kommen ihnen entgegen, andere brechen zusammen, wieder andere drehen sich um und streben dem Ausgang zu. Das Bild des Bußgottesdienstes wird unscharf, verschwimmt, dann schwarz.
Orgelmusik, die Aufbruchstimmung verbreitet. Ich erwache. Aus der Traum.